Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 56

1882 Mai 6

Berliner Tageblatt Nr. 210

Teildruck

[Im Unfallversicherungsgesetz ist eine Lücke: Die Gewerbekrankheiten sind nicht berücksichtigt]

Eine Lücke im Unfallversicherungsgesetz liegt unstreitig darin, daß die Gesundheitsschädigungen und Todesursachen, die in den chronisch wirkenden Einflüssen gewisser industrieller Arbeiten nicht berücksichtigt sind.1 Diese Gesund[heits]schädigungen sind nach den Untersuchungen des Professors Hirt2 in Breslau bei den einzelnen Industriezweigen ungeheuer verschieden. Seinen Ausführungen ist folgendes zu entnehmen:

In der chemischen und chemotechnischen Industrie sind besonders diejenigen Zweige gesundheitsschädigend, wo schwefligsaure Dämpfe, Chlorgas und Kohlenoxydgas zur Wirkung auf den Organismus gelangen, also in Schwefelsäurefabriken, Strohhutfabriken, Hopfenschwelereien, Chlorkalkfabriken, Sodafabriken, Schnellbleichen etc. Die diesen Einflüssen ausgesetzten Arbeiter leiden an chronischer Blutvergiftung, die den Organismus oft sehr rasch zum Erliegen bringt. Die Beurteilung solcher Fälle bietet jedoch manche Schwierigkeiten, obwohl sie nicht unübersteiglich sind. Eine ebenso schlimme Gesundheitsschädigung ist der Staub, der sich bei den meisten technischen Gewerben bildet und je nach seiner Beschaffenheit wieder mehr oder minder gefährlich ist. Seine Wirkung äußert sich zunächst in Katarrhen der Atmungsorgane, in Lungenerweiterung, chronischer Lungenentzündung und endlich der Lungenschwindsucht. Nach Hirt leiden von 100 erkrankten [ Druckseite 212 ] “Staubarbeitern” an Lungenschwindsucht durchschnittlich 28, die metallischem Staub ausgesetzt sind, 25,2, die mineralischem, 20,8, animalischem, 13,3, vegetabilischem, 22,6 gemischtem Staub, während bei staubfreier Beschäftigung der Prozentsatz 11,1 beträgt. Die einzelnen Gewerbe sind untereinander wieder sehr verschieden, wie folgende Zusammenstellung (nach Hirt) erweist. Es litten an Lungenschwindsucht von 100 überhaupt erkrankten Staubarbeitern: Feilenbauer 62,2, Bürstenbinder 49,1, Formstecher 36,9, Uhrmacher 36,5, Friseure 32,1, Messingarbeiter 31,2, Graveure 26,3, Tapezierer 25,9, Kürschner 23,2, Anstreicher 19,0, Porzellanarbeiter 16,0, Hutmacher 15,3, Töpfer 14,7, Tischler 14,6, Zimmerleute 14,4, Klempner 14,1, Maurer 12,9, Sattler 12,8, Stellmacher, Wagenbauer 12,5, Nagel-, Messer-, Säge- und Zeugschmiede 12, Schlosser 11, Zimmerleute 11, Grobschmiede 10,7, Kupferschmiede 9,4, Zementarbeiter 9,0. Hirt fand in einem schlesischen Städtchen, wo jährlich über 500 Glasschleifer arbeiten, in sieben Jahren 135 Todesfälle solcher Arbeiter verzeichnet, die zum weitaus größten Teil der Lungenschwindsucht erlegen waren. Die mittlere Lebensdauer ermittelte er auf 42 1/2 Jahre für die, welche erst nach zurückgelegtem 25. Lebensjahre zu schleifen begonnen, während solche, die schon mit dem 15. Lebensjahre begonnen hatten, die Arbeit fast nie über das 30. Lebensalter fortsetzen konnten.

Registerinformationen

Personen

  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1Vgl. dazu auch Bd. 2 der 1. Abteilung dieser Quellensammlung, Nr. 47 Anm. 2 u. 20 und Nr. 59; aus wohl primär rechtstechnischen Überlegungen heraus hatte Theodor Lohmann es abgelehnt, diese in der Unfallversicherung als Versicherungsfall zu berücksichtigen. »
  • 2Ludwig Hirt (1844─1907), seit 1880 a.o. Professor in Breslau; gehörte zu den ersten deutschen Ärzten, die sich auf dem Gebiet der Gewerbekrankheiten und des Arbeiterschutzes betätigten, er schrieb das vierbändige Pionier- und Standardwerk “Die Krankheiten der Arbeiter”, Breslau (und Leipzig) 1871─1878; ein psychiatrisches Gefalligkeitsgutachten gegen die Frau eines Kollegen führte zum Ende seiner akademischen Karriere, vgl. zu ihm insgesamt: Carola Bury, Ludwig Hirt ─ ein “wahrer Arbeiterfreund Deutschlands”, Zeitschrift für Sozialreform, 1988, S. 537 ff. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 56, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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