Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 53

1882 April 18

Immediatbericht1 des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher an den Deutschen Kaiser und preußischen König Wilhelm I.

Ausfertigung

[Darstellung der Abweichungen der zweiten Unfallversicherungsvorlage von der ersten und den Grundzügen, die dem Volkswirtschaftsrat vorgelegt wurden bzw. dessen Beschlüssen]

Der am 8. März v. J. dem Reichstage vorgelegte Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, hat in der Gestalt, welche er durch die Beschlüsse des Reichstags erhalten hat, nicht die Zustimmung des Bundesrats gefunden (§ 394 der Protokolle des Bundesrats von 1881).2

Nachdem auf diese Weise der erste Versuch einer gesetzlichen Regelung der Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle gescheitert war, sind bei der Dringlichkeit des Bedürfnisses einer solchen Regelung sofort weitere Erwägungen darüber eingeleitet worden, auf welchem Wege nunmehr die Befriedigung dieses Bedürfnisses zu erstreben sein werde.

Das Ergebnis dieser Erwägungen liegt in dem anliegenden Gesetzentwurfe vor.

Derselbe hält die wesentlichen Grundlagen des früheren Entwurfs insofern fest, als er die Ersetzung der bisher in engen Grenzen bestehenden Haftpflicht der Unternehmer durch eine möglichst weit ausgedehnte Verpflichtung derselben zur Versicherung ihrer Arbeiter gegen alle Unfälle, sowie die gesetzliche Limitierung der den Gegenstand der Versicherung bildenden Entschädigung beibehält und die den Unternehmern auferlegte Verpflichtung nicht durch die verschiedenen Formen der Privatversicherung, sondern durch die Wirksamkeit öffentlicher, unter Mitwirkung und Aufsicht der Reichs- und Staatsbehörden fungierender Veranstaltungen erfüllt [ Druckseite 207 ] wissen will. Dagegen unterscheidet sich der neue Entwurf von dem früheren hauptsächlich in folgenden Punkten:

1. Die im Falle der Verletzung durch Unfall zu gewährenden Entschädigungsleistungen sollen nicht schon mit Beginn der fünften, sondern erst mit Beginn der vierzehnten Woche nach Eintritt des Unfalls gewährt werden.

2. Die Arbeitnehmer, welche nach dem früheren Entwurf zu den Versicherungsbeiträgen beim Bezuge eines Jahresarbeitsverdiesntes von über 750 bis 1 000 M ein Drittel, beim Bezuge eines Verdienstes von mehr als 1 000 M die Hälfte der Versicherungsprämie beitragen sollten, bleiben nach dem gegenwärtigen Entwurf ganz frei von Beiträgen.

3. An die Stelle der Versicherung durch die Reichsversicherungsanstalt tritt eine Versicherung auf Gegenseitigkeit unter Gliederung der versicherungspflichtigen Betriebe in Genossenschaften und Verbände.

Die Beschränkung der bei Verletzung durch Unfall zu gewährenden Entschädigungsleistungen auf die Fälle einer mehr als dreizehnwöchigen Arbeitsunfähigkeit ist mit Rücksicht auf die umfassende Regelung der Krankenversicherung der Arbeiter durch eine gleichzeitig beim Reichstage einzubringende Vorlage in Aussicht genommen worden.

In dem alleruntertänigsten Immediatberichte vom 5. d. M.3, mittels dessen der letztere Entwurf Eurer Majestät vorgelegt wurde, ist bereits dieser Zusammenhang der beiden Gesetzesvorlagen dahin erläutert worden, daß das Krankenversicherungsgesetz hauptsächlich auch dazu bestimmt sei, die Fürsorge für die durch Unfall verletzten Arbeiter für den Zeitraum bis zum Eintritt der Leistungen des Unfallversicherungsgesetzes zu regeln und sicherzustellen. Ich darf mir daher gestatten, für diesen Teil der Regelung auf die betreffenden Ausführungen jenes Immediatberichtes ehrfurchtsvoll Bezug zu nehmen.

Die gänzliche Befreiung der Arbeiter von der Beitragsleistung zu den Kosten der Unfallversicherung ist auf der einen Seite dringend wünschenswert, weil sie eine bedeutende Vereinfachung der ganzen Regelung ermöglicht und rechtfertigt sich andererseits dadurch, daß infolge der gegenwärtig den Krankenkassen zugedachten Stellung zur Unfallversicherung ein Teil der Kosten der letzteren von den Arbeitern durch die zu den Krankenkassen von ihnen zu leistenden Beiträge bestritten wird, und daß bei der voraussichtlichen Höhe dieser Beiträge die weitere Belastung der Arbeiter mit besonderen Beiträgen zur Unfallversicherung nicht unbedenklich sein würde.

Der Einrichtung einer Reichsversicherungsanstalt endlich trat bei weiterer Prüfung das Bedenken entgegen, daß dieselbe bei ihrem bedeutenden Umfange und der unerläßlichen Zentralisation ihres Geschäftsbetriebes der Gefahr einer bürokratischen, schablonenhaften Geschäftsführung ausgesetzt sein würde. Um dieser Gefahr zu entgehen und gleichzeitig das genossenschaftliche Prinzip, welches in der früheren Vorlage mit Rücksicht auf die Reichsversicherungsanstalt nur eine untergeordnete Bedeutung hatte, zur allgemeinen Durchführung zu bringen, ist nunmehr in Aussicht genommen, sämtliche versicherungspflichtige Betriebe für den Umfang des Reiches in Gefahrenklassen nach Maßgabe der durchschnittlichen Unfallgefahr [ Druckseite 208 ] der einzelnen Industriezweige und Betriebsarten einzuteilen, und die Aufbringung der Entschädigungsbeträge bezirksweise den zu bildenden Betriebsgenossenschaften und Betriebsverbänden derartig aufzuerlegen, daß, nach Abzug des Reichsbeitrages in Höhe von 25 Prozent, die lokalen Genossenschaften und Verbände mit 15, die sämtlichen Betriebe der beteiligten Gefahrenklasse des Reichs dagegen mit 60 Prozent belastet werden.

Die zu diesem Zwecke zu schaffenden Organisationen sind auf dem Prinzip der Selbstverwaltung aufgebaut und werden voraussichtlich dazu dienen, auch in den Kreisen der Industrie den Geist der Selbsttätigkeit und Selbsterziehung im Dienste des Gemeinwohls zu beleben und zu festigen. Daneben ist zu hoffen, daß in denselben eine Grundlage und der Ausgangspunkt für die weiteren organischen Gliederungen und Einrichtungen gefunden werden wird, welche das industrielle Leben der Nation bei Fortführung der sozialen Reformen nicht wird entbehren können.

Die Grundzüge des Gesetzentwurfs sind von dem während des vorigen Monats versammelt gewesenen preußischen Volkswirtschaftsrate beraten worden und haben, wie die einliegende Zusammenstellung der Beschlüsse des Volkswirtschaftsrats mit den vorgelegten Grundzügen ergibt, im wesentlichen Zustimmung gefunden. Nur insofern ist der Volkswirtschaftsrat von den Grundzügen abgewichen, als derselbe in der Absicht, das Risiko der Gefahr auf möglichst ausgedehnte Kreise zu verteilen und hierdurch eine möglichst große Sicherheit für die Deckung zu erzielen, die Heranziehung sämtlicher Betriebe des Reichs zu den Entschädigungsleistungen nach Gefahrenklassen vorgeschlagen hat. Nach dem hierauf bezüglichen Beschlusse des Volkswirtschaftsrats sollten die lokalen Genossenschaften und Verbände nur die Entschädigungsbeträge für das erste Jahr nach Eintritt des Unfalls übernehmen, während die nach Ablauf des ersten Jahres ferner zu leistenden Entschädigungsbeträge von der Gesamtheit der zu der betreffenden Gefahrenklasse gehörenden Betriebe des ganzen Reichs übernommen werden sollten. Der Gesetzentwurf hat den Grundgedanken dieses Vorschlags angenommen, die Teilung des Risikos zwischen den lokalen Gliederungen und den Gefahrenklassen aber nach einem prozentualen Verhältnisse vorgenommen.

Bei der Kürze der seit der Beschlußfassung des Volkswirtschaftsrats verstrichenen Zeit hat die Ausarbeitung der Begründung des Gesetzentwurfs noch nicht zum Abschlusse gebracht werden können.

Da indessen die Sitzungen des Bundesrats, in welchen die dem Reichstage vorzulegenden Gesetzentwürfe unter Beteiligung der Minister der Bundesstaaten zu beraten sind, bereits begonnen haben, so gestatte ich mir, im Einverständnisse mit dem Reichskanzler Eure Majestät alleruntertänigst zu bitten, Allerhöchstdieselben wollen durch huldreiche Vollziehung des im Entwurfe anliegenden Allerhöchsten Erlasses die Ermächtigung zur Vorlegung des bezüglichen Entwurfes eines Gesetzes, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, an den Bundesrat allergnädigst erteilen.

[ Druckseite 209 ]

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1GStA Dahlem 2.2.1 Nr. 29949, fol. 90─99, Reinschrift: BArchP 15.01 Nr. 383, fol. 64─ 72. Der Entwurf, den, wie sich aus der Paraphe ergibt, Robert Bosse anfertigte, ist nicht überliefert. »
  • 2Vgl. Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung (1993), Nr. 234 und 236. »
  • 3Ausfertigung: GStA Dahlem 2.2.1 Nr. 29949, fol. 74─88. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 53, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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