Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 39

1882 Januar 17

Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 281

Teildruck

[Ablehnung des liberalen Gesetzentwurfs zur Unfallentschädigung unter Berufung auf industrielle Kreise]

Der Zentralverband deutscher Industrieller hat heute folgende Petition an den Reichstag gerichtet:2

“Der von den Abgeordneten Dr. Buhl und Genossen eingereichte Gesetzentwurf3, betreffend die Entschädigung bei Unfällen und die Unfallversicherung der Arbeiter, ist für die deutsche Industrie unannehmbar. Derselbe erklärt den Unternehmer für jeden beim Betriebe sich ereignenden Unfall als haftbar, selbst wenn dieser Unfall durch grobes Verschulden des Arbeiters herbeigeführt ist; er beseitigt die nach der Erfahrung unbedingt erforderliche Karenzzeit, er verstößt gegen das Prinzip der korporativen Selbsthilfe, weil derselbe von jeder Heranziehung des Arbeiters zu den Beiträgen und zu der Verwaltung der Unfallkasse absieht, während gerade die Mitbeteiligung des Arbeiters an der Verwaltung ähnlicher Kassen sich in ethischer und finanzieller Beziehung als segensreich erwiesen hat.

Durch die neuen, in ihrer Tragweite gar nicht absehbaren Lasten, welche dieser Entwurf der deutschen Industrie aufbürdet, wird dieselbe nicht nur in ihrer Konkurrenzfähigkeit gegen das Ausland empfindlich beeinträchtigt, sondern es wird vor allem der Unternehmungsgeist völlig gelähmt und gerade dadurch der Arbeiter am meisten geschädigt werden.

Der Zentralverband deutscher Industrieller hat wiederholt die volle Bereitwilligkeit der deutschen Industrie ausgesprochen, die Frage der Unfallversicherung auf einer breiteren Basis zu lösen und erhebliche Opfer dafür zu übernehmen; in dem gegenwärtig eingeschlagenen Wege kann derselbe indes eine gedeihliche oder auch nur erträgliche Lösung derselben nicht erkennen.

Für heute auf diese wenigen und prinzipiellen Bemerkungen uns beschränkend, bitten wir den Hohen Reichstag, den Gesetzentwurf abzulehnen.

[ Druckseite 156 ]

Richter4, Generaldirektor der Vereinigten Königs- und Laurahütte, Th. Haßler5, königl. bayrischer Kommerzienrat, E. Russell6, Bürgermeister a.D., Schück7, Regierungsrat a.D., der Geschäftsführer: Beutner8, Regierungsrat a.D.

Aus industriellen Kreisen wird uns zu obiger Angelegenheit geschrieben:

Im Namen zahlreicher industrieller Vereine, welche die wichtigsten Industriezweige umfassen, sehen wir uns veranlaßt, gegen den von Dr. Buhl und Genossen im Reichstage eingebrachten Gesetzentwurf, betreffend “die Entschädigung bei Unfällen und die Unfallversicherung der Arbeiter”, hierdurch Verwahrung einzulegen. Sollte dieser Entwurf von der Mehrheit des Reichstages und von den verbündeten Regierungen zum Gesetze erhoben werden, was glücklicherweise nicht zu erwarten ist, so stehen wir nicht an, die Erklärung abzugeben, daß dadurch die Existenzfähigkeit der deutschen Industrie in vielen Fällen geradezu gefährdet sein dürfte. Die Unfallvorlage der verbündeten Regierungen wollte alle Interessenkreise zur Leistung der Versicherungsprämien heranziehen und dadurch die Industrie vor einer Überbürdung schützen. Der Entwurf der Herren Dr. Buhl und Genossen, von der wirtschaftlich unhaltbaren und ganz ungerechtfertigten Ansicht ausgehend, daß alle Unfalllasten, auch diejenigen, welche durch Verschulden der Arbeiter herbeigeführt werden, zu den Produktionskosten gehören9, legt den Unternehmern ohne weiteres die Pflicht auf, für Unfälle aller Art die festgesetzten Entschädigungen allein aus ihren Mitteln zu leisten.

Die Vorlage der verbündeten Regierungen ging von dem zutreffenden Gesichtspunkte aus, daß für die kleineren Verletzungen, welche in wenigen Wochen geheilt werden, ohne die Arbeitsfähigkeit des Arbeiters dauernd zu beeinträchtigen, durch die bestehenden und, wie allgemein anerkannt wird, segensreich wirkenden Krankenkassen hinreichend gesorgt sei, und daß die Errichtung solcher Kassen in den wenigen Fällen, wo es bisher noch nicht geschehen ist, sehr leicht zu bewerkstelligen sein würde. Der Entwurf der Herren Dr. Buhl und Genossen wälzt dagegen die Entschädigungspflicht schon vom Augenblick der Verletzung an ohne alle Not dem Unternehmer auf, steigert dadurch nicht allein die Lasten desselben, sondern öffnet auch der Simulation Tor und Tür und ist deshalb geeignet, auch die Moral und das sittliche Verhalten der Arbeiter zu untergraben. Die Vorlage der verbündeten Regierungen ordnete an, daß das Reich und resp. die einzelnen Staaten Landesversicherungsanstalten [ Druckseite 157 ] errichten sollen, um den Arbeitern die erforderliche Garantie dafür zu verleihen, daß die ihnen zugesprochenen Renten jederzeit unverkürzt gezahlt werden würden. Nach dem Entwurfe der Herren Dr. Buhl und Genossen soll diese Sicherheit dadurch gewonnen werden, daß für jede festgestellte Rente das zur Deckung erforderliche Kapital bei der von dem Bundesrat hierfür bestimmten Stelle zu hinterlegen und bei eintretenden Veränderungen bis zur Sicherheitshöhe zu ergänzen ist. Es ist von selbst einleuchtend, daß diese ganz abnorme Festlegung bedeutender und stetig anwachsender Kapitalbeträge, die, wenn sie in pupillarisch sicheren Papieren vor sich geht, einen sehr geringen Zinssatz abwerfen, den Geschäftsbetrieb der Versicherungsanstalten wesentlich erschweren und dadurch die Prämien ganz erheblich verteuern würde.

Die Vorlage der verbündeten Regierungen wollte die Entstehung von Prozessen möglichst vermeiden und insbesondere dahin wirken, daß nicht, wie es jetzt der Fall ist, die Versicherungsgesellschaften ein Interesse daran haben, daß der Arbeiter mit seinen Ansprüchen unterliegt. Der Entwurf der Herren Dr. Buhl und Genossen verweist die Arbeiter, sofern es nicht zu einem Vergleich kommt, ein für allemal auf den Weg des Prozesses und hat dafür gesorgt, daß das Interesse der Versicherungsanstalten mit ihrer, den Arbeitern feindlichen Tendenz zur Regel wird.

Während die Vorlage der verbündeten Regierungen die bestehenden Kommunalund staatlichen Organe zur Abwicklung des gesamten Versicherungsgeschäfts heranziehen wollte, wird in dem Entwurfe der Herren Dr. Buhl und Genossen ein Heer neuer Beamten geschaffen, und während die Vorlage der verbündeten Regierungen deutlich die Absicht zeigte, der deutschen Industrie und dem deutschen Gewerbsfleiße fördernd zur Seite zu stehen und ihm die Konkurrenz mit dem Auslande nicht unnützerweise zu erschweren, ist der in Rede stehende Entwurf von einem Geiste durchweht, welcher sich in bezug auf die Interessen der Industrie und des Gewerbes nicht nur indifferent, sondern geradezu feindlich verhält.

Während die Vorlage der verbündeten Regierungen das Streben offenbarte, die Unfallfrage möglichst aus dem Bereiche der Privatstreitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern herauszuheben und dadurch die notwendige Eintracht zwischen allen Faktoren des Wirtschaftsbetriebs zu fördern, wird in dem Entwurfe der Herren Dr. Buhl und Genossen die Zahl der Prozesse zwischen Unternehmern und Arbeitern ins Unendliche vermehrt, wodurch der soziale Frieden unmöglich gewinnen kann.

Wir beschränken uns darauf, nur die wichtigsten Mängel und Übelstände dieser Vorlage hervorzuheben, und glauben hinreichend dargetan zu haben, daß der Entwurf der Herren Dr. Buhl und Genossen nicht nur den beabsichtigten Zweck verfehlen, sondern auch die Industrie und den Gewerbebetrieb im höchsten Grade gefährden würde.

Die Industrie hat die Vorlage der verbündeten Regierungen mit Freuden begrüßt und hat sofort ihre Bereitwilligkeit zu erkennen gegeben, in den dort gezogenen Grenzen die notwendigen Opfer zu bringen, und sie ist auch heute bereit, im Interesse des sozialen Friedens und der Aufbesserung der Lage der Arbeiter, soweit sie es vermag, Lasten auf sich zu nehmen. Sollten diese Lasten über die Leistungsfähigkeit der Industrie hinaus gesteigert werden, was durch den vorliegenden Entwurf geschieht, so würde die Grundlage der Industrie erschüttert und sie gezwungen [ Druckseite 158 ] sein, ihren Betrieb einzuschränken oder in vielen Fällen sogar einzustellen, wodurch das Los der Arbeiter sicherlich nicht gebessert werden würde.

Registerinformationen

Personen

  • Baare, Louis (1821─1897) Generaldirektor des Bochumer Vereins, Mitglied des preuß. Volkswirtschaftsrats
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Haßler, Theodor Ritter von (1828─1901) Textilindustrieller, Vorsitzender des Zentralverbands deutscher Industrieller
  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843─1925) bayer. Gesandter in Berlin
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843─1917) Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Bismarcks
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • Schück, Richard (1819─um 1902) Verbandsdirektor
  • Wagner, Prof. Dr. Adolph (1835─1917) Nationalökonom, Mitbegründer der christlich-sozialen Partei
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1Weitere kritische Stellungnahmen brachte das offiziöse bzw. “inspirierte” “Kanzlerblatt” Norddeutsche Allgemeine Zeitung am 19. u. 20.1.1882 (Nr. 31 u. 33) sowie die “Provinzialkorrespondenz” Nr. 4 vom 25.1.1882 mit der Überschrift: “Die erste Tat der ‘vereinigten Liberalen’”. »
  • 2Abschrift dieser Petition ging am 17.1.1882 auch an Bismarck (BArchP 07.01 Nr. 508, fol. 261─263), unterzeichnet von Richter, Russel und Beutner. »
  • 3Vgl. Nr. 37. »
  • 4Karl Richter (1829─1893), Hüttendirektor, seit 1878 MdR (Deutsche Reichspartei). »
  • 5Theodor Ritter von Haßler (1828─1901), Textilindustrieller, seit 1880 Vorsitzender des Zentralverbands deutscher Industrieller. »
  • 6Emil Russel (1835─1907), Bankier, Vorstandsmitglied des Zentralverbands deutscher Industrieller, ehem. Bürgermeister v. Papenburg/Ems. »
  • 7Richard Schück (1819─um 1902), zunächst bei den Regierungen in Minden und Posen tätig, seit 1882 Direktor der Nordbahn und Vorsitzender des Vereins für deutsche Volkswirtschaft. »
  • 8George F. Beutner (1829─1893), seit 1877 Geschäftsführer des Zentralverbands deutscher Industrieller, zuvor (bis 1872) im preußischen Staatsdienst tätig, zuletzt bei der Regierung in Potsdam; vgl. über seine Rolle bei der Entstehung der gesetzlichen Unfallversicherung als Berater Louis Baares Bd. 2 der 1. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 9Vgl. Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, S. 64, 70, 133, 184 u. 451 f. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 39, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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