Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 32

1881 Dezember 31

Brief1 des Staatsministers a.D. Dr. Albert Schäffle an den ehem. österreichischen Ministerpräsidenten Karl Graf von Hohenwart2

Eigenhändige Ausfertigung, Teildruck

[Bericht über seine Einladung bei Bismarck, Kritik an der Politik Taaffes]

[...] Auch in Deutschland leben wir in eigentümlich bewegten Verhältnissen. Solange Bismarck an der Macht ist, gibt er den Kampf gegen unsere deutschen Verfassungstreuen, gen[annt] Fortschrittl[er], Sezessionisten3 u. andere Judengenossen, sicherlich nicht auf. Gemach aber könnte der Liberalismus schon eine Wiederauferstehung feiern und dem österr. Bruder bedenklichen Succus bringen.4 Ich höre daher nicht auf, tief zu bedauern, daß Taaffe5 so kostbare Fristen mit altösterr[eichischer] Schlaumeierei durch Auf-die-Stelle-Treten vergeudet.

Für mich endet das Jahr unter einer sehr interessanten Konjunktur, die ich Ihnen nicht verschweigen darf, für die ich aber auch Ihre vollste Diskretion recht angelegentlich [ Druckseite 125 ] in Anspruch nehme. Fürst Bismarck hat in einem vier Seiten langen eigenhändigen Brief vom 19. [sic!] Oktober6, also schon vor den Reichstagswahlen, in einer nach Form u. Inhalt hochherzigen Weise mich um persönliche u. fachliche Mitwirkung zu den sozialpolitischen Gesetzentwürfen gebeten. Dies hat einen sehr lebhaften Briefwechsel und meinerseits eine durchgreifende gesetzgeberische Durcharbeitung des ganzen Objektes zur Folge gehabt. Die Arbeit scheint seinen vollen Beifall zu haben, u. in einem gestern eingelaufenen Schreiben hat er mich nach wiederholt vorher ausgesprochenem Wunsch seinerseits ─ zu einer Konferenz auf den 3. Januar n.J. nach Berlin eingeladen, mit der Anzeige, er werde sich erlauben, mir über die Modalitäten andauernden wirtschaftspolitischen Zusammenwirkens persönlich Vorschläge zu machen.7 Ich werde nun meine Unabhängigkeit und Privatstellung gewiß nicht aufgeben, könnte aber bei einer Sache, die ich 1869 zuerst klar ausgesprochen habe, nicht beiseite stehenbleiben u. habe ihm daher meine Muster, für die ja in Österreich keine Verwendung ist, aufrichtig zur Verfügung gestellt. Ich denke, daß diese interessante Beziehung unserer Sache mindestens nicht schaden wird. Dessen dieser Sie sich versichert haben, daß mein Herz für Österreich und die Freunde in Österreich nie um 1° kälter werden wird. An Ihre Freundschaft aber hätte ich die angelegentliche Bitte, für den Fall, daß ich in eine andauernde Mitarbeiterschaft einträte, als mein früherer Chef dem Kaiser persönlich freundliche Anzeige erstatten möchten.8 Ich würde so frei sein, Ihnen darüber nach dem 3. Januar zu schreiben. Schriftlich lassen sich so delicate Dinge nicht abmachen, persönlich kann ich nicht erscheinen, und die schuldige Reverenz mag ich nicht versagen.

[ Druckseite 126 ]

Registerinformationen

Personen

  • Franz Joseph (1830─1916) Kaiser von Österreich, König von Ungarn
  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Taaffe, Eduard Graf von (1833─1895) österr. Ministerpräsident
  • 1Österr. Staatsarchiv, Allgem. Verwaltungsarchiv, Wien, Nachlaß Hohenwart, Karton 12. Vgl. den Abdruck des Antwortbriefs von Graf Hohenwart: Albert Schäffle, Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 185 f. »
  • 2Karl Graf von Hohenwart (1824─1899), 1871 österreichischer Ministerpräsident und Minister des Innern, in dessen Kabinett war Schäffle vom 6.2.─30.10.1871 Handelsminister gewesen, vgl. auch Bd. 1 der I. Abt. dieser Quellensammlung (1994), S. 211. Hohenwart hatte aber vor allem versucht, einen Ausgleich mit den Tschechen herbeizuführen, der auf eine föderativ ausgerichtete Revision der Verfassung von 1866 hinauslief und das österreichische Reich auf eine neue, bestandssichernde Grundlage stellen sollte. Das Scheitern dieser Politik führte zum Scheitern des Kabinetts Hohenwart, letzterer gründete danach die “Rechtspartei”, die 1879 mit Tschechen und Polen einen “eisernen Ring” schmieden konnte. »
  • 3Gemeint ist die sog. Liberale Vereinigung, die sich im Sommer 1880 von der Nationalliberalen Partei abgespalten hatte (vgl. Nr. 23 Anm. 9). »
  • 4Die “Verfassungstreuen” ─ die großbürgerlich-liberale “Verfassungspartei” ─ traten für die Beibehaltung der zentralen Verfassung von 1866 mit den Deutschen als (vorherrschendes) Staatsvolk ein, zeitweilig hatten sie das “verfassungstreue” Kabinett Auerswald unterstützt. »
  • 5Eduard Graf von Taaffe (1833─1895), seit 1879 österr. Ministerpräsident, stützte sich einmal auf das unbedingte Vertrauen seines Jugendgespielen Kaiser Franz Joseph und zum anderen auf eine eher konservativ-“rechte” Mehrheit, die aus Tschechen und deren Verbündeten im Großgrundbesitz, der “feudalen” Adelspartei und (antiliberalen) Deutschklerikalen bestand. Mit seiner pragmatischen Politik der kleinen Mittel und Schritte (“Durchfretten” und “Durchwursteln”) hatte Graf Taaffe wieder eine Aussöhnungspolitik mit den Tschechen eingeleitet, die bis 1881 erste, wenn auch noch keine gesicherten Erfolge verbuchen konnte, die gegenüber einem gestärkten Deutsch-Liberalismus hätten standhalten können. »
  • 6Vgl. Nr. 13 Anm. 2. »
  • 7Als Schäffle am 3.1.1882 in Berlin eintraf, ließ er Bismarck sofort Nachricht hierüber zukommen (Schreiben vom 3.1.1882, BArchP 07.01 Nr. 527, fol. 276─276 Rs.). Aufgrund dieser Anmeldung ließ Bismarck Schäffle durch seinen Sohn Wilhelm am selben Tage um ein Uhr zu sich bitten, vgl. dazu: Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 173 ff. Aus der diesem Schreiben vorausgegangenen Korrespondenz (ebd., S. 170 ff.) geht hervor, daß ursprünglich ein Treffen Bismarcks mit Schäffle am 28.12.1884 in Friedrichsruh vorgesehen war, das aber wegen Unwohlseins Bismarcks auf den 3.1.1882 verschoben wurde und nunmehr in Berlin stattfand. »
  • 8Dieses geschah am 8.1.1882, und Kaiser Franz Joseph äußerte sich danach befriedigt darüber, daß nun doch auch einmal ein Österreicher zur Beratung nach Berlin gerufen würde (Albert Schäffle, Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 186). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 32, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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