Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 26

1881 Dezember 4

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Schuldirektor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Bismarck besteht trotz Lohmanns Bedenken auf Zwangsgenossenschaften als Versicherungsträger]

[...] Ich bin die Geschäfte hier nun auch gründlich satt, immer Gesetzentwürfe machen, von denen man vorher weiß, daß nichts daraus wird, geht doch zuletzt über den Spaß. Jetzt mache ich ein neues Unfallversicherungsgesetz auf Grundlage von Zwangsgenossenschaften. Das hat Schäffle dem Fürsten in den Kopf gesetzt. Ich sagte ihm, ich könne es nicht so machen, daß die Geschichte marschieren könne ─ hatte ich vorher schon schriftlich auseinandergesetzt, Er aber nicht gelesen. 3 ─ Er antwortete: Es sei ihm einerlei, er wolle nur einen Entwurf haben, worüber diskutiert werde, damit die Sache breitgetreten werde. Er merkte wohl, daß ich nicht gern etwas ausarbeiten wollte, was ich für unausführbar hielt, sagte, er könne doch deshalb nicht sein ganzes Programm aufgeben, weil seine Räte es vielleicht nicht billigten. Worauf ich: Darum handle es sich für mich gar nicht, ich hätte schon manchen Gesetzentwurf ausgearbeitet, mit dem ich nicht einverstanden gewesen sei; aber man müsse doch eine Sache so machen, daß sie überhaupt ausführbar sei. Schließlich sagte er, ich brauche mich ja für den Entwurf nicht ver-

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antwortlich zu machen. Er habe nichts dagegen, wenn ich sagen wolle, ich hätte etwas Besseres machen wollen, “aber der dumme Minister hätte es so haben wollen”. Mit dem “Minister” meint er natürlich sich selbst.4

Nun mache ich also die Sache, einen Gesetzentwurf von etwa 100 §§5, der hoffentlich morgen früh fertig wird und für den oberflächlichen Beurteiler vielleicht ganz gut aussieht, im Grunde aber ein Monstrum ist; freilich noch nicht so ein Monstrum, wie Schäffle uns eins zugeschickt hat in 248 Paragraphen6, worin er eine Genossenschaftsorganisation für alles mögliche zusammengebraut hat, deren erste Einrichtung nach meinem Überschlage mindestens sechs Jahre dauern würde, so daß, wenn man mit dem Dinge fertig wäre, alle Grundlagen schon wieder verändert sein würden, und man wieder von vorn anfangen könnte. Höchst unpraktisches Phantasiestück. [...]

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Registerinformationen

Personen

  • Beutner, George F. (1829─1893) Geschäftsführer des Zentralverbands deutscher Industrieller
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 137─138 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Familienangelegenheiten. »
  • 3Bismarck hat die “Nachschrift” sehr wohl gelesen (Nr. 14), der Bericht gelangte aber erst am 28.2.1882 wieder ins Reichsamt des Innern zurück und wurde, so der Kanzleivermerk, am 30.3.82 zu den Akten genommen; vgl. zur generellen Schwierigkeit, Bismarck von einem erteilten Auftrag abzubringen: Heinrich von Poschinger, Bausteine zur Bismarck-Pyramide, Berlin 1904, S. 226. »
  • 4Die hier referierte Unterredung konnte aktenmäßig nicht belegt werden; vgl. auch Nr. 76. Auf dem Diner für die Bundesratsmitglieder am 16.11.1881 (vgl. Nr. 20) hatte Bismarck von Lohmann noch lobend als von seinem Ratgeber gesprochen (Heinrich von Poschinger, Fürst Bismarck. Neue Tischgespräche und Interviews, Bd. 2, Stuttgart 1899, S. 115), obwohl erhebliche Differenzen in den Grundauffassungen schon ersichtlich geworden waren (vgl. Nr. 14 u. 17). In einem Familienbrief vom 18.12.1881 führte Theodor Lohmann kritisch gegenüber den Vorstellungen Bismarcks aus: Ich hatte viel Arbeit, von der ich keine Frucht erwarten kann. Bismarcks Pläne werden leider immer mehr zu phantastischen Projekten, in welche er selbst aber so verrannt ist, daß er immer mehr geneigt ist, jeden Widerspruch dagegen als aus Lüge oder Dummheit hervorgehend anzusehen. Da ich aus meinen Bedenken dagegen keinen Hehl gemacht habe (schriftlich und mündlich), so war es schon mal nahe daran, daß es zwischen uns zu einem Bruche kam, und wenn er nur gleich jemanden zur Hand gehabt hätte, der auf dem Gebiete der sozialpolitischen Gesetzgebung bewandert gewesen wäre, so würde er mich, glaube ich, schon links haben liegen lassen. (...) Und wie es später mal wird, stelle ich in Gottes Hand, der ja auch über Bismarck das Regiment führt und es auch so fügen kann, daß man hier noch mal wieder zu einer fruchtbaren Tätigkeit kommt. Gut, daß man das weiß unter den unheimlichen Verhältnissen, in denen wir jetzt leben. (BArchP 90 Lo 2, Anhang°) Aus einer (wohl auf einer Mitteilung Tonio Bödikers beruhenden) Aufzeichnung George F. Beutners geht hervor, daß Lohmann vor allem Bedenken gegen das Umlageverfahren hatte, das Bismarck mit dem Argument rechtfertigte, daß nur so die großen Kapitalien aufzubringen seien und die korporativen Verbände nicht sterben, sondern auch bei dem Ausscheiden eines Mitglieds nach wie vor erhalten bleiben. Bismarck soll abschließend L. strikte Verhaltensmaßregeln für die Ausarbeitung des neuen Entwurfs (Nr. 27) gegeben haben: Obwohl der Dezernent mit diesen Anschauungen nicht einverstanden war, so hat er doch den Entwurf ganz nach den Anordnungen ausgearbeitet (Henry A. Bueck, Der Centralverband Deutscher Industrieller, 2. Band, Berlin 1905, S. 175 f.); vgl. auch in diesem Band Nr. 44 Anm. 9 u. Nr. 48. Die nicht genauer datierbare Auseinandersetzung hat wohl zunächst Bismarcks Hinwendung zu Schäffle, der seine Grundeinstellung teilte, in dem Sinne verstärkt, daß er ihn persönlich kennlernen und vielleicht als weiteren Mitarbeiter gewinnen wollte (vgl. Nr. 12). Als dieser Plan sich nach dem persönlichen Kennenlernen der beiden zerschlug, dürfte v. Boetticher von sich aus den ihm vertrauten Referenten Eduard Magdeburg mit entsprechenden Spezialaufträgen versehen haben (vgl. Nr. 41). »
  • 5Vgl. Nr. 27. »
  • 6Dieser ist überliefert im BArchP 07.01 Nr. 527, fol. 33─202 Rs., Bismarck selbst war die dort vorgeschlagene Gesamtorganisation zu umfangreich, vgl. Nr. 24. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 26, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0026

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