Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 20

1881 November 16

Bericht1 des bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering2 an den bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim3

Entwurf, Teildruck

[Reflexionen Bismarcks auf einem Diner über die oppositionellen Reichstagswahlen und ihre politischen Folgen: Spiel mit dem Gedanken eines parlamentarischen Vizekanzlers]

[...] Er habe, begann der Fürst, die Absicht gehabt, das Reich finanziell und wirtschaftlich auf einen blühenden Stand zu bringen u. durch die Verbesserung der Lage der Arbeiter die Öffnungen zu verstopfen, aus welchen Gefahren für den Staat und die Gesellschaft zum Vorschein kommen können. Das sei der Zweck der Schutzzölle u. andererseits der Unfallversicherung u. Invalidenversorgungsprojekte gewesen.4 Es habe aber den Anschein, daß diejenigen Klassen, in deren Interesse er diese Reformen anstrebe, kein Verständnis u. keinen Wunsch danach hätten. Zu seinem Glück könne man niemand zwingen. ─ Er sei es endlich müde, von allen Seiten auf sich schießen zu lassen. Er habe nur das Bedürfnis der Ruhe. Lese man die fortschrittliche Presse u. höre, was immer über ihn gesagt werde, so müßte man ihn für einen Tyrannen halten. Man irre sich darin. Seit dem Jahre 1845 sei er Parlamentarier und er habe nie den Absolutismus vertreten. Er habe nie das Bedürfnis gehabt zu befehlen, aber allerdings immer die größte Abneigung zu gehorchen.

Sein Wunsch wäre jetzt, sich zurückzuziehen. Aber er könne nicht den Herrn, dem er 20 Jahre gedient, verlassen und im Zorn von ihm scheiden. Glücklicherweise biete die Verfassung selbst einen Ausweg. Er könne, wenn der Kaiser dies verlange, R[eichs]kanzler bleiben u. einen parlamentarischen Vizekanzler an der Seite haben, dem dann die Verantwortung für die innere Politik anheimfalle. Die parlamentarische [ Druckseite 74 ] Lage weist darauf hin, zunächst dem Freiherrn von Franckenstein5 die Teilnahme an der Regierung anzubieten, das werde er tun. ─ Freiherr von Franckenstein könne sich Moufang6 als Staatssekretär beigesellen7, in dem stecke ein Richelieu. Die Herren könnten dann sehen, wie sie mit dem Parlament fertig würden. Scheitere aber diese Kombination, so müsse man sich an die Liberalen wenden, von Bennigsen8.

In diesen letzteren Äußerungen liegt [sic!] der Schwerpunkt der Unterredung. Sie wurden vom Fürsten in einem ruhigen geschäftmäßigen Tone gemacht, der nur sarkastisch wurde, als er von Moufang sprach. Der Kanzler ging dann auf andere Gegenstande über. Als wir uns empfahlen, kam er jedoch noch einmal auf den Punkt zurück, in dem er zu mir, aber mit der Adresse an alle sagte: “Sie werden jetzt ihre Hoffnungen auf Baron Franckenstein setzen müssen.”9 Ich erwiderte, daß wir uns gestatteten, unsere Hoffnungen vorläufig noch auf ihn zu setzen.

Nachdem ich mich verabschiedet, nahm ich noch Graf Herbert beiseite, und befragte denselben, ob denn tatsächlich sein Vater daran denke, dem Zentrum die Regierung anzutragen. Ich bemerkte hierzu, daß meines Erachtens Baron Franckenstein kaum geneigt sein würde, auf diese Kombination einzugehen. ─ Graf Herbert erwiderte mir, daß sein Vater seine Absicht nicht den Bundesräten angekündigt haben würde, wenn er nicht ernstlich an die Kombination dächte, in den nächsten Tagen würde aber noch kein definitiver Entschluß gefaßt werden, man müsse erst abwarten, wie sich die Dinge im Reichstag gestalten.

Ich bemerkte hiernach dem Grafen, daß, wenn in Rücksicht auf das Tabakmonopol 10 u. die Sozialgesetze die parlamentarische Lage sich unlösbar gestaltet hätte, sich dies sofort ändern müsse, sobald die Regierung verzichte, diese weitgehenden und unpopulären Pläne durchzuführen. Komme man hierin dem Reichstag entgegen, so liege meines Erachtens kein Grund mehr vor, Parteiführer in die Regierung aufzunehmen.

Eine bestimmte Meinungsäußerung gab Graf Herbert hiernach nicht ab.

[ Druckseite 75 ]

Wenn ich mir nun gestatten darf, meine unmaßgeblichste Auffassung hier auszusprechen, so halte ich die vom Reichskanzler angekündigten Kombinationen in erster Linie für taktische Züge, [dazu] bestimmt, beide Oppositionen ─ Zentrum wie Liberale ─ voreinander bange zu machen, und vielleicht auch dazu bestimmt, einen Rückzug auf legislatorischem Gebiet, wenn er angetreten werden muß, zu markieren. Daß der Fürst während der ganzen Unterredung das Tabakmonopol nicht erwähnte, schien mir in dieser Hinsicht bezeichnend. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Bennigsen, Dr. Rudolf von (1824─1902) Landesdirektor der Provinz Hannover, MdR (nationalliberal)
  • Bismarck, Herbert Graf von (1849─1904) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Crailsheim, Krafft Frhr. von (1841─1926) bayer. Außenminister
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Lucius, Dr. Robert (1835─1914) Arzt, preuß. Landwirtschaftsminister
  • Mittnacht, Hermann (1825─1909) württemberg. Ministerpräsident
  • Moufang, Dr. Christoph (1817─1890) Domkapitular in Mainz, MdR (Zentrum)
  • Turban, Ludwig Friedrich (1821─1898) badischer Ministerpräsident und Innenminister
  • Türckheim, Hans Frhr. von (1814─1892) badischer Gesandter in Berlin
  • Windthorst, Dr. Ludwig (1812─1891) Jurist und Politiker, MdR (Bundesstaatl.konst. Vereinigung/Zentrum
  • 1BayHStA Bayerische Gesandtschaft Berlin 1051, n.fol. »
  • 2Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering (1843─1925), seit 1880 bayer. Gesandter in Berlin. »
  • 3Krafft Freiherr von Crailsheim (1841─1926), seit 1880 bayer. Außenminister. »
  • 4Vgl. zu den vorangegangenen politischen Reflexionen Bismarcks angesichts des Ausgangs der Reichstagswahl: Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung (1994), S. 681 ff.; zum Zentrum: S. 687, 691 und 696. »
  • 5Georg Arbogast Freiherr von und zu Franckenstein (1825─1890), Jurist und Gutsbesitzer, erbliches Mitglied des bayer. Reichsrats, seit 1881 dessen Präsident, seit 1872 MdR (Zentrum), gehörte zum konservativen Flügel innerhalb der Zentrumsfraktion, seit 1879 Vizepräsident des Reichstags; vgl. die Einleitung. Lerchenfeld-Koefering schreibt durchgängig: Frankenstein. »
  • 6Dr. Christoph Moufang (1817─1890), Domkapitular in Mainz, seit 1871 MdR (Zentrum). »
  • 7Einem Bericht des badischen Gesandten Hans Frhr. v. Türckheim an den badischen Innenminister Friedrich Turban vom 17.11.1881 zufolge hatte Bismarck angedeutet, v. Franckenstein ein Staatssekretariat (also ein Reichsamt) anzubieten, so daß für Moufang ein Unterstaatssekretärposten vorzusehen war (GLA Karlsruhe 49 Nr. 2010, n.fol.). »
  • 8Dr. Rudolf v. Bennigsen (1824─1902), Landesdirektor der Provinz Hannover, seit 1867 MdR (nationalliberal); entsprechende Pläne hatte Bismarck 1877 ernsthaft verfolgt, war damit aber gescheitert. »
  • 9Nach einem Bericht der “Kölnischen Zeitung” vom 19.11.1881 über das Bundesratsdiner soll Bismarck gesagt haben: Bereiten Sie also Ihren Landsmann Franckenstein darauf vor, daß ich demnächst in Unterhandlung mit ihm treten werde...; vgl. auch Bismarck zu v. Mittnacht am 24./30.11.1881 (Gesammelte Werke, Bd. 8, Nr. 318) und Karl Oldenburg, Aus Bismarcks Bundesrat, hg. von Wilhelm Schüßler, Berlin 1929, S. 60. »
  • 10Vgl. dazu Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung (1994), S. 632 ff. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 20, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0020

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