Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 17

1881 November [7]

Direktiven1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck für den Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher

Reinschrift mit Randbemerkungen v. Boettichers und Lohmanns

[Einverständnis mit Ausdehnung der Unfallversicherung auf Baubetriebe und Einführung einer zwangsweisen Krankenversicherung im gleichen Gesetzgebungsverfahren mit der Unfallversicherung zur Absicherung einer 14tägigen Karenzzeit. Die Unfallversicherung ist auf der Grundlage von reichsweiten Zwangsgenossenschaften “gleichartiger Betriebe” zu organisieren, Reichsversicherungsanstalt und Staatsbeitrag sind notwendig, insbesondere für Renten, Umlageverfahren mit vorschußweiser Deckung durch den Staat bei Beitragsfreiheit für Arbeiter (auch bei der Krankenversicherung), Ausführungen zum Instanzenweg bei Beschwerden]

Bemerkungen zu dem Bericht des Herrn Staatssekretärs des Innern vom 24. Oktober 1881 über den Entwurf zu einem Unfallversicherungsgesetz

Zu I.

Dem Antrage, die Versicherungspflichtigkeit der Baubetriebe in dem Unfallversicherungsgesetz allgemein auszusprechen und zu diesem Zwecke die §§ 1 und 14 entsprechend den Vorschlägen auf den Seiten 10 bis 12 des Berichtes abzuändern, stimme ich zu.

Wird, was ich für notwendig erachte, die korporative Versicherung obligatorisch gemacht, so wird die für den Baubetrieb zu bildende Genossenschaft nach Ablauf eines jeden Jahres2 die entstandenen Schäden auf die Bauunternehmer bzw. die baugewerbetreibenden Handwerksmeister zu repartieren haben, wobei die Zahl und der Lohn der Arbeiter, welche ein jeder beschäftigt hat, als Grundlage dienen muß. Den Bauunternehmern bzw. Handwerkern wird eine Buchungs- und Anmeldungspflicht3 aufzuerlegen sein. Bei einer derartigen Regelung fallen alle die Schwierigkeiten fort, welche bisher der Ausdehnung der Unfallversicherung auf die Bauarbeiter entgegengestanden haben.4

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Zu II.

Die Karenzzeit ist tunlichst einzuschränken. In Berücksichtigung der seinerzeit von dem Reichstage gefaßten Resolution5 wird der Zeitraum von 2 Wochen zu wählen sein.

Gegen Einführung einer zwangsweisen Krankenversicherung für diese a14 Tagea habe ich nichts einzuwenden.6 Dieselbe wird jedoch uno actu mit der Unfallversicherung zu regeln sein, da beide eng miteinander zusammenhängen. Werden zwei getrennte Vorlagen gemacht, so läuft man die Gefahr, daß die eine angenommen, die andere abgelehnt wird.7

Die Beiträge zu den Krankenkassen werden entweder die Arbeitgeber zu 2/3 und der Staat zu 1/3, oder die Arbeitgeber ganz zu tragen haben.b 8

Jede Bestimmung, durch welche den Arbeitern aeina, c Beitrag auferlegt wird, ist für mich prinzipiell unannehmbar.d Nur ganz ausnahmsweise wird dem Arbeiter ein Lohn gewährt, der über das, was zur Bestreitung der notwendigen Lebensbedürfnisse erforderlich ist, hinausgeht, und wenn anscheinend die Löhne steigen, so darf das in der Regel nur als der Ausdruck einer Verteuerung der unentbehrlichen aBedürfnissea, c angesehen werden. Die Arbeiterklasse ist also nicht so gestellt, daß sie für die Eventualität eines Unfalls oder für die Zeit des Alters Ersparnisse aaus ihrem Lohna zurücklegen kann.9 Die Mehrzahl vermag nicht einmal Beiträge dazu [ Druckseite 66 ] aufzubringen. Die zwangsweise Auferlegung solcher Beiträge müßte daher zu einem Zwang zur Erhöhung des Lohnes führen, und virtuell würden die Beiträge des Arbeiters aimmera den Arbeitgeber treffen. Dem Scheine nach würde aber der Arbeiter belastet werden, und damit wäre den Gegnern des Gesetzes eine gefährliche Waffe gegeben.

Für den Staatsbeitrag bin ich um dessentwillen, weil wir erst ermitteln müssen, ob unsere Industrie überhaupt bzw. alle Zweige derselben den ganzen Beitrag zu leisten vermögen, ohne in ihrer Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Auslande geschädigt oder auf den Notbehelf einer Verminderung des Arbeitslohnes hingedrängt zu werden.10 In jedem dieser beiden Fälle würde nicht nur der Zweck, der allein zu den fraglichen Gesetzesvorlagen veranlaßt hat, nicht erreicht, sondern sogar das Gegenteil, die aSchädigung des Arbeitersa, herbeigeführt werden.

Die Bedenken, welche unter Hinweis auf die der Reichsversicherungsanstalt erwachsende Arbeitslast gegen die Beschränkung der Karenzzeit geltend gemacht werden, geben meines Erachtens aein starkesa, f Argument dafür ab, daß die Unfallversicherung auf der Grundlage von Zwangsgenossenschaften zu regeln ist. Es würden dann diesen letzteren unter Oberaufsicht alle Geschäfte unter einem gewissen Betrage überlassen werden können11, nämlich die Fälle der nicht dauernden Erwerbsunfähigkeit, so daß der Reichsanstalt nur in denjenigen Fällen die Entschädigung [ Druckseite 67 ] festzustellen haben würde, in denen es sich um eine dauernde Invalidität oder Tod handelte. Dadurch wäre der bei weitem größere Teil der Arbeit auf Hunderte oder gar Tausende von Lokalstellen übertragen. Außerdem wäre mit einer derartigen Regelung der Unfallversicherung der Vorteil verbunden, daß der Anspruch des verletzten Arbeiters schnell reguliert würde. Da die Korporation die Deckungskapitalien für die entstandenen Schäden aufzubringen hat, so ist nicht zu besorgen, daß Fälle von Simulationen unentdeckt bleiben oder Regreßansprüche, die etwa gegen den Unternehmer wegen groben Verschuldens begründet sind, nicht verfolgt werden möchten.

Für Beschwerden in Sachen, deren Regulierung den Genossenschaften anheimfällt, würde ein Instanzenzug zu errichten, derselbe jedoch in der Weise zu beschränken sein, daß bis zu einem gewissen Betrage eine in jedem einzelnen Bundesstaate, in Preußen in jeder Provinz, zu errichtende Behörde definitiv zu entscheiden hätte.12

Übrigens scheint es mir, daß in dem anliegenden Berichte die daselbst sub III besprochenen tatsächlichen Schwierigkeiten zu hoch veranschlagt sind. Zu einer richtigen Schätzung derselben fehlt es freilich an der erforderlichen statistischen Grundlage; indes die Tatsache, daß aausgedehntea private Versicherungsanstalten existieren und prosperieren, berechtigt zu dem Schluß, daß die in dem anliegenden Berichte aufgestellte Berechnung der der künftigen Reichsversicherungsanstalt zufallenden Arbeitslast eine unrichtige ist. Nimmt man an, daß heute avielleichta ein Viertel unserer Arbeiter bei solchen Versicherungsanstalten versichert sind, so würde sich nach der gedachten Berechnung ein Arbeitsquantum ergeben, das zu bewältigen diese Anstalten völlig außerstande wären, azumal ihr Geschäftsbetrieb schon der Konkurrenz wegen verhältnismäßig noch schwieriger ist, als der staatliche.a 13 Abgesehen davon würde aber auch die Reichsversicherungsanstalt eine vorteilhaftere Position einnehmen als die Privatanstalten, da ihr die Befugnis einzuräumen sein wird, vorhandene Beamte, einschließlich der Kommunalbeamten, gegen eine Vergütung zu Hilfsleistungen heranzuziehen. Insbesondere würden sich auch die Beamten im Ressort der Post nach dieser Richtung hin verwenden lassen.

Zu III.

Dem in dem anliegenden Berichte gemachten Vorschlage wegen anderweitiger Fassung des § 13 des Entwurfs kann ich nicht beitreten. 14 Solange an einer Normie-

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rung der Beiträge zu der Versicherung aufgrund einer Einteilung der Arbeiter in Klassen festgehalten wird, lassen sich Ungerechtigkeiten nicht vermeiden. Außerdem ist der in dem Bericht vorgeschlagene Ausweg ein komplizierter und würde in den Augen des Arbeiters nicht ein Äquivalent für das Aufgeben der Haftpflicht bieten.

Ich bin dafür, daß die Versicherung für alle unter das Gesetz fallenden Arbeiter zu einem Drittel vom Staat und zu zwei Dritteln vom Arbeitgeber getragen wird.15 Gleichzeitig müßte der Maximalbetrag des jährlichen Arbeiterverdienstes, von welchem ab aaufwärtsa die Verpflichtung zur Unfallversicherung hinwegfällt, auf 1 500, avielleicht sogar auf 1 000a Mark herabgesetzt werden. Die den Arbeitgeber treffende Umlage würde am Schluß des Schadensjahres nach Maßgabe der Arbeitstage zu berechnen sein, die er während des betreffenden Jahres für seinen Betrieb verwendet hat.

Das Bedenken, daß es der Gerechtigkeit widersprechen würde, dem Arbeiter auch in solchen Fällen, wo seine Verletzung auf ein eigenes Verschulden zurückzufuhren ist, einen Entschädigungsanspruch einzuräumen, ohne ihn durch einen Prämienbeitrag zu einer wenn auch noch so geringen Gegenleistung heranzuziehen, halte ich nicht für ausschlaggebend. Auch wenn der Arbeiter durch eigene Schuld verunglückt, muß er ernährt werden. Scheidet man die fraglichen Fälle aus, so trifft die Ungerechtigkeit den Armenverband.16

Vielleicht würde sich eine Regelung der Versicherung in der Weise empfehlen, daß die Zwangsversicherung bis zu 750 Mark auf Kosten des Staates und der Arbeitgeber stattfindet und daß es dem Arbeiter überlassen bleibt, sich auf seine eigenen Kosten oder unter Mitbeteiligung des Arbeitgebers über den gedachten Betrag hinaus zu versichern.

Zu IV. und Nachschrift

Die in der Nachschrift zu dem anliegenden Bericht vertretenen Ansichten teile ich nicht. Ich bin vielmehr dafür, daß die Unfallversicherung auf der Grundlage von Zwangskorporation geregelt und damit die Versicherung auf Gegenseitigkeit zur Durchführung gebracht werde, bei der nicht mehr feste Prämien erhoben, son-

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dern Beiträge in der durch den Jahresbedarf17 der Genossenschaft bedingten Höhe auf deren Mitglieder umgelegt werden. Die in dem anliegenden Bericht dagegen erhobenen Einwendungen sind meines Erachtens aus der nicht zutreffenden Auffassung hervorgegangen, daß es Sache des Gesetzgebers sei, die Organisation der fraglichen Korporationen a priori bis ins Detail zu ordnen. Das Gesetz hat nur gewisse allgemeine Grundsätze zu sanktionieren, für die Durchführung derselben im einzelnen lassen sich in Ermanglung der erforderlichen Erfahrung vorläufig keine sicheren Normen aufstellen.18

Die Einführung der Zwangsversicherungsverbindungen wird in der Weise zu geschehen haben, daß zunächst alle gleichartigen Betriebe19 zu je einer das ganze Reich umfassenden Genossenschaft20 mit einem Generalcomptoir verbunden werden. Innerhalb der großen Genossenschaften werden dann engere Verbände auf örtlich abgegrenzten Bezirken zu bilden sein, welche letztere so groß sein müssen, daß jeder einzelne Verband seine Unfallgefahr für sich zu tragen imstande ist. Es werden also für Industriezweige, in welchen nach der Art ihres Betriebes Unglücksfälle nur selten vorkommen und die gleichzeitige Verunglückung einer großen Zahl von Arbeitern überhaupt nicht zu erwarten ist, die Bezirke kleiner bemessen werden dürfen als für andere Industrien, in welche ein einziges Massenunglück die Aufbringung bedeutender Kapitalien erforderlich machen kann. Sollten dabei Fehler begangen werden, was sich erst aufgrund der Erfahrung feststellen lassen wird, so werden die beschwerten Mitglieder auf ein itio in partes21, aauf Unterteilung der Korporationa, anzutragen haben.22 Bei der Entscheidung über solche Anträge wird eine Reichskontrolle einzutreten haben. In den Fällen widerstreitender Interessen der einzelnen Betriebsunternehmer oder der beteiligten Genossenschaften wird also eine bundesrätliche Entscheidung zu erfolgen haben. Auch in den Fällen, in welchen eine Genossenschaft sich weigert, einen bei ihr angemeldeten Betrieb anzunehmen oder ein Betriebsunternehmer den Beitritt zu einer Genossenschaft, welche ihn als Mitglied in Anspruch nimmt, ablehnt, wird eine Reichsbehörde bzw. der Bundesrat zu befinden müssen.

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Die aFeststellung dera Beträge der auf die einzelnen Mitglieder zu machenden Umlagen wird ex post vorzunehmen sein anach Maßgabe des in dem abgelaufenen Jahre entstandenen Schadensa. Vorläufige Veranschlagung aist nicht praktischa. Der Staat awürde die vorschußweise Deckung der in den ersten Jahren bis zur Ansammlung oder Dotierung an Reservefondsa entstehenden Entschädigungsansprüche azu übernehmen habena, h. Den einzelnen Mitgliedern der Genossenschaft wird ein Beschwerdeweg offenstehen müssen, wenn sie unrichtig eingeschätzt oder überhaupt repartiert werden.

Die Mitglieder der Genossenschaft werden ein begründetes Interesse an der Herstellung größter Betriebssicherheit haben. Damit sie dasselbe zu betätigen vermögen, wird den Genossenschaften die Befugnis einzuräumen sein, die einzelnen Betriebe durch ihre Beamte kontrollieren zu lassen und die Anlage von Einrichtungen zur Verhütung von Unfällen anzuordnen.

Für die Entscheidung von Beschwerden werden Schieds- und Verwaltungsgerichte aunter Mitwirkung der Korporationa zu bilden sein.

Im übrigen wird es den Genossenschaften überlassen bleiben müssen, ihre Verfassung und Verwaltung durch Statute festzustellen; den aüber eine zu stellende Frista hinaus Säumigen wird provisorisch ein Statut zu oktroyieren sein. Was die Grenzen anbetrifft, innerhalb deren sich die statuarischen Feststellungen zu bewegen haben werden, so stimme ich den Ausführungen auf den Seiten 86 bis 10423 des anliegenden Berichtes bei.

Der Reichsversicherungsanstalt wird die Aufgabe zufallen, bei Todes- und bei Fällen dauernder Invalidität die Entschädigung festzustellen, bei allen übrigen Verunglückungen eine Kontroll- bzw. Rekursinstanz zu bilden und nach definitiver Feststellung der Entschädigungssumme dieselbe einzukassieren und an die Empfangsberechtigten auszuzahlen.24

Mit der Regelung der Unfallversicherung auf der Basis von Zwangskorporationen wird die Grundlage zu einer sozialpolitischen Selbstverwaltung gelegt, welcher keines der Bedenken entgegensteht, die gegen politische Selbstverwaltung sprechen, und das wird meines Erachtens die Chancen für die Durchbringung des Gesetzes erhöhen.

[Ursprüngliche, von Bismarck abgeänderte Fassung]

b Für die Normierung der Beitragspflicht zu den Krankenkassen müssen ganz analoge Grundsätze maßgebend sein wie die, nach welchen die Versicherungspflicht in dem Ent- wurf zum Unfallversicherungsgesetz geregelt ist. Die Beiträge werden also zu 2/3 von dem Arbeitgeber und zu 1/3 vom Staat zu leisten sein.
c irgendwelcher
d In den meisten Fällen ist eine Reduktion des Arbeiterlohnes auf eine Zunahme des Ange- bots von Arbeitskräften zurückzuführen.
e Lebensmittel
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f das beste
g (B. hatte am Rand bemerkt:) zumal ihr Geschäftsbetrieb nach Verhältnis schwieriger ist als der staatliche, schon der Concurrenz wegen
h vorläufig ist jede Veranschlagung unmöglich. Ich würde nichts dagegen einzuwenden finden, daß der Staat die Deckungskapitalien für die in dem ersten Jahre entstehenden Entschädigungsansprüche entweder ganz selbst übernimmt oder doch den Teil, für wel- chen er nicht aufzukommen hat, vorschußweise hergibt.

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • 1BArchP 15.01 Nr. 381, fol. 184─193, von der Hand Franz von Rottenburgs; die Datierung ist durch die Bearbeiter erfolgt. Eine kürzere Entwurfsfassung (ebenfalls von der Hand Franz von Rottenburgs), wohl nach Diktat Bismarcks, mit eigenhändigen Abänderungen Bismarcks ─ hier gekennzeichnet durch a-a-, ebd., fol. 194─200. Da in der Entwurfsfassung größere Abschnitte der Reinschrift fehlen ─ S. 64, letzter Absatz, S. 66/67, 3. und darauffolgender Absatz, S. 68, 3. u. 4. Absatz ─, ist davon auszugehen, daß Bismarck sich dazu mehrfach Vortrag halten ließ, u.a. von Karl Heinrich v. Boetticher, auf dessen Bericht vom 24.10.1881 ─ vgl. Nr. 14 ─ sich die Bemerkungen beziehen und der am 2./3.11. in Varzin war. Karl-Heinrich v. Boetticher hat das Exemplar am 9.11. gelesen, abgezeichnet und an Theodor Lohmann weitergegeben. Aufgrund dieser Direktiven erarbeitete Lohmann dann die Erstfassung der zweiten Unfallversicherungsvorlage, vgl. Nr. 27. »
  • 2L.: Wenn man die Repartition nur alle Jahr vornimmt, so werden zahlreiche vorübergehende oder im Laufe des Jahres eingegangene Betriebe nicht herangezogen werden können. »
  • 3L.: Unter welchem Präjudize? »
  • 4L.: Die Schwierigkeit, welche in der Feststellung der versicherungspflichtigen Handwerker, liegt bleibt dieselbe. Ebenso die Schwierigkeit der Kontrolle bei Bauten, wo von Gewerbetreibenden und vom Bauherrn zu versichernde Arbeiter gleichzeitig beschäftigt sind. »
  • 5Vgl. dazu die am 15.6.1881 auf Vorschlag der Kommission angenommene Resolution, wonach den durch Unfall Verletzten während der Karenzzeit (§ 7 des Entwurfs) eine entsprechende Unterstützung gesichert werden sollte (Sten.Ber.RT, IV. LP, 4. Sess. 1881, Anlage Nr. 159). Das sollte durch Revision der Hilfskassengesetzgebung von 1876 geschehen; die Karenzzeit betrug nach § 7 der ersten Unfallversicherungsvorlage vier Wochen, der Reichstag verkürzte sie auf Vorschlag der XIII. Kommission auf 14 Tage. »
  • 6L.: Dazu eine besondere Organisation herzustellen würde einen großen Apparat für eine sehr geringfügige Wirkung fordern. Wenn es gelingt, die Versicherung allgemein auf genossenschaftlichem Wege durchzuführen und wenigstens die nur vorübergehenden Entschädigungsleistungen den Genossenschaften zur selbständigen Erledigung zu (sic!) überläßt, so braucht man gar keine Karenzzeit mehr. Bei großen Genossenschaften könnte etwa eine Organisation Platz greifen, nach welcher die ersten zwei oder vier Wochen von kleineren Abteilungen der Genossenschaften für eigene Rechnung gedeckt würde, vgl. dazu (Bismarcks) Anm. 23 u. 25 zu Nr. 14. »
  • 7Die weitere Arbeit an dem bereits erstellten gesonderten Gesetzentwurf für eine zwangsweise Krankenversicherung (vgl. Nr. 14 unter II., S. 36 ff.), wurde danach bis Februar 1881 vorläufig unterbrochen, vgl. zum weiteren Fortgang der Ausdifferenzierung eines besonderen Krankenversicherungsgesetzes Nr. 42, 75 u. 76. »
  • 8L.: Das würde dann eine Abrechnung des Staates mit Tausenden von Krankenkassen zur Folge haben. »
  • 9L.: Das Reichsgesetz über die Versorgung der Witwen und Waisen der Beamten (Gesetz betr. die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Reichsbeamten der Zivilverwaltung v. 20.4.1881 [§ 3], RGBl. S. 85) legt einer großen Zahl von Beamten welche keine höheren Einnahmen haben, als zahlreiche Arbeiter, einen Beitrag von 3 % ihres Gehalts auf, ohne das letztere zu erhöhen. Wenn diese imstande sind, den Beitrag zu leisten, so müssen auch die Arbeiter einen meist viel niedrigeren Beitrag leisten können, ohne an der Befriedigung ihrer notwendigsten Lebensbedürfnisse gehindert zu werden. Daß das Steigen und Sinken in der Regel Folge des steigenden oder sinkenden Preises der notwendig Lebensbedürfnisse sei, trifft erfahrungsmäßig nicht zu. Wenn die Industrie reichl(ichen) Absatz zu guten Preisen hat, so steigen die Löhne, selbst wenn die Preise der notwendigen Lebensbedürfnisse gleichzeitig sinken. Umgekehrt, wenn bei schlecht(en) Preisen genügend Absatz, so fallen die Löhne, ohne Rücksicht auf ein gleichzeitiges Steigen der Preise der notwendigen Lebensbedürfnisse. Woher kämen sonst die faktisch oft genug vorhandenen “Hungerlöhne”? »
  • 10L.: Es wird niemals gelingen, den Staatszuschuß so zu verteilen, daß er allen Unternehmungen desselben Industriezweiges gleichmäßig zugute kommt und demnach keine künstliche Veränderung der natürlichen Konkurrenzbedingungen zur Folge hat, wenn man nicht für alle Arbeiter die Prämie für den vollen Lohn zahlen will. Auch bei der jetzt in Aussicht genommenen Regelung, wonach der Staat zu allen Prämien ein Drittel zahlen, dagegen aber der Versicherungszwang nur bis etwa 1000 oder 750 Mark gehen soll, wird eine völlig ungleichmäßige Belastung zur Folge haben. Betriebe, welche überhaupt keine Löhne über 1000 oder 750 Mark zahlen, müssen die 2/3-Prämie von ihrer ganzen Lohnsumme tragen; Betriebe dagegen, welche viele Arbeiter mit Löhnen über 1000 oder 750 Mark zahlen, haben von einem großen Teil ihrer Lohnsumme keine Prämie zu zahlen. »
  • 11Boett.: Mir scheint, daß man bei der Bildung von Zwangsgenossenschaften eine Reichsanstalt (Behörde) nur als Aufsichts- resp. Beschwerdeinstanz beziehungsweise zur Feststellung derjenigen Beträge braucht, welche als Entgelt des Reiches an den zu gewährenden Entschädigungen oder in Erfüllung des vom Reich zu übernehmenden Risikos leistungsunfähiger Genossenschaften aus der Reichskasse zu überweisen sind. Die Genossenschaften werden im Prinzip alle, auch die Entschädigungen für dauernd Erwerbsunfähige aufzubringen haben. Oder sollen sie bei der Reichsanstalt auch Kapitalrenten kaufen? »
  • 12L.: Wenn das Reich den Prämienbetrag für die Arbeiter zahlt, so sind überall die finanziellen Interessen des Reiches zu wahren. Soll das durch die Behörden der Einzelstaaten geschehen? »
  • 13L.: Die Privatanstalten arbeiten unter ganz anderen Bedingungen, abgesehen davon, daß auf jede derselben ungefähr nur der zehnte Teil der Arbeitslast fällt. Ihre Agenten haben meistens, namentlich bei allen unbedeuteten Ansprüchen, die weitgehendsten Volbnachten, während sie bei großen Ansprüchen, die nicht ganz klar liegen, es ohne weiteres auf den Prozeß ankommen lassen. Sie arbeiten auf eigene Rechnung, und können sich deshalb viel freier bewegen, während eine öffentliche Anstalt immer die Verantwortlichkeit eines Mandates für die Gesamtheit der Versicherten trägt. »
  • 14Boett.: Freilassung des Existenzminimums »
  • 15L.: Bei der Grenze von 1500 Mark und auch noch bei 1000 Mark wird mit vollem Rechte der Einwand erhoben werden, daß nicht der mindeste Grund vorliege, Arbeiter mit so hohem Lohn ein für allemal eine Unterstützung aus öffentlichen Mitteln zu gewähren. Je niedriger man die Grenze zieht, desto mehr erhält die ganze Regelung den Charakter einer Armenunterstützung anstatt demjenigen einer Entschädigung, desto weniger kann man die Aufhebung der Haftpflicht rechtfertigen. Bei jeder Grenze ergibt sich ungerechte Ungleichmäßigkeit in der Behandlung der Arbeiter. Der Arbeiter in Oberschlesien mit 1000 Mark Lohn steht sich viel besser als der im Rheinland mit 1200 Mark. Trotzdem bekommt der erstere bei Erwerbsunfähigkeit 2/3 seines ganzen Lohns, der letztere nur 2/3 von einem Teile seines Lohnes. Ungleiche Konkurrenzbedingungen der Industrie cfr. oben. »
  • 16L.: Wenn der Armenverband eintreten muß, so erhält der Arbeiter keine Entschädigung mehr, sondern nur eine Unterstützung, deren Eintritt und Höhe lediglich von seiner Bedürftigkeit abhängig ist. Ein Recht hat er dann nicht mehr. »
  • 17L.: Was ist Jahresbedarf? Deckung der im Laufe des Jahres entstandenen Entschädigungsansprüche? Oder Summe der Zahlungen, welche in dem abgelaufenen Jahre auf die Entschädigungsansprüche zu leisten waren? »
  • 18L.: Es fragt sich nur, welche Mittel man hat, um die Bildung und den Fortbestand der Genossenschaft zu erzwingen, und wann man sie mit Sicherheit in Aktion setzen kann? »
  • 19L.: Sollen die “gleichartigen Betriebe” durch das Gesetz klassifiziert werden, oder auf welchem anderen Wege, auf welcher Grundlage? Wie soll der Generalcomptoir zu einer Übersicht der in seinen Bereich fallenden Betriebe gelangen? Wie soll es zuerst gebildet werden, wenn noch gar keine Korporation da ist? »
  • 20Diese Direktive Bismarcks, die Reichsebene zum Ausgangspunkt der Konstituierung von Betriebs- bzw. Berufsgenossenschaften zu machen, also Reichsberufsgenossenschaften als Grundtyp der Versicherungsträger, hat Th. Lohmann dann in der Erstfassung des Entwurfs der zweiten Unfallversicherungsvorlage (Nr. 27, §§ 11 u. 12) nicht befolgt. »
  • 21Getrennte Beschlußfassung der einzelnen Gruppen, um die Majorisierung einer Gruppe auszuschließen; gültig sind bei diesem (ursprünglich bei Religionsstreitigkeiten geübten) Verfahren nur Beschlüsse, die ─ getrennt vorgenommen ─ übereinstimmen. »
  • 22L.: Dies würde schon mit Notwendigkeit fordern, daß Jahresbedarf gleich Deckungskapitalien. »
  • 23Vgl. Nr. 14 Anm. 87. »
  • 24B.: Dieser Umweg wäre vielleicht entbehrlich, man könnte meines Erachtens die Zahlung durch die Korporationsvorstände direkt zulassen. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 17, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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