Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 11

1881 Oktober 13

Hamburgischer Correspondent1 Nr. 2842 Die absolutistischen Momente im Unfallversicherungsgesetz

2eildruck

[Informationen über die internen Abläufe bei der Gesetzesentwicklung im preußischen Handelsministerium, insbesondere über Theodor Lohmanns Ansichten]

Sieht man von den völlig unbelehrbaren Manchesterleuten, wie Bamberger3, Braun4 und Genossen ab, deren Einfluß auf die alte Stimmung der Nation stark geschwunden ist und täglich noch mehr schwindet, so haben fast alle ernsteren So-

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zialpolitiker in diesem Gesetze eine Reihe erfreulicher und willkommener Punkte entdeckt. Nicht nur ist die ungenügende Haftpflicht ein Hauptpunkt der proletarischen Unzufriedenheit geworden, ihre bessere Gestaltung also in der Tat der erste Punkt, an welchem der Hebel der sozialen Reform anzusetzen ist, sondern die wesentlichen Ziele des Gesetzentwurfes, die Ausdehnung der Haftpflicht, der völlige Anschluß der leidigen Prozessierung zwischen Arbeitgeber und -nehmer, die Sicherstellung der Arbeiter und ihrer Familien gg. die Folgen auch solcher Unfälle, bei denen keine Schuld des Unternehmers nachweisbar ist, sind auch so gesteckt, daß sich gegen sie praktisch und auch theoretisch nichts wird einwenden lassen. Die schweren Meinungsverschiedenheiten, an denen das Gesetz gescheitert ist, betreffen also weit weniger das Wesen, als die Form der Sache, indessen die Form greift hier so tief und weit, daß sie bestimmend auf das Wesen wirkt und es ist nicht übertrieben, zu sagen, daß vor der endgültigen Gestaltung der Haftpflichtfrage ganz und gar bestimmt wird, ob die soziale Reform von vornherein ein unser ganzes nationales Dasein erfrischendes und lebendes Element wird oder aber sich in der Sackgasse vielleicht großartiger, aber schließlich doch immer ungenügender Palliativmittel verirrt. In den höheren preußischen Beamtenkreisen, welche in erster Reihe die Gestaltung der sozialpolitischen Gesetzgebung beeinflußten, dachte man sich vor dem Eingreifen des Reichskanzlers den Gang der Dinge etwa so5:

Es galt zunächst, die Unfälle möglichst einzuschränken: hierzu waren unerläßliche Vorbedingungen die obligatorische Verpflichtung der Unternehmer, alle in ihren Betrieben vorkommenden Unfälle sofort behördlich anzuzeigen, der Erlaß technischer Schutzvorschriften und namentlich eine energische Ausbildung des Instituts der Fabrikinspektoren. Für die Regelung der Unfallversicherung erschien die gründliche Beseitigung des augenblicklichen, durchaus chaotischen Zustandes notwendig, aber keineswegs die Übernahme der ganzen Aufgabe in die Hände des Staats rätlich. Vielmehr erstrebte man die Entstehung von gewerblich gegliederten Unfallversicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit, die sich zunächst an den einzelnen Orten bilden, aber dann zur besseren Verteilung der Versicherungslast in Verbänden für den Kreis oder die Provinz zusammenschließen sollten. Die Rolle des Staates beschränkte sich nach diesen Plänen darauf, die Bildung solcher Genossenschaften allgemein anzuordnen, gesetzliche Normen für sie aufzustellen, Unternehmer und Arbeiter zum Beitritt zu verpflichten. Denn beide Teile sollten sowohl an den Versicherungsbeiträgen, wie an der Verwaltung der Genossenschaften gleichberechtigten Anteil nehmen, und gerade hierin erblickte man einen hauptsächlichen Vorzug dieser Gedanken; man glaubte, in derartigen Einrichtungen sehr aussichtsvolle Anfänge zu gewerblichen Fachgenossenschaften fördern zu können, welche in durchaus gesunder und organischer Weise Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbinden, somit der atomischen Zersplitterung des Proletariats einen kräftigen Damm entgegensetzen würden.

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Diese Gedanken, die hier nur in ihren allgemeinsten Umrissen gezeichnet worden sind, wurden, wie gesagt, in den sozialpolitisch verantwortlichen Kreisen des höheren preuß. Beamtentums ehedem gehegt. Offenbar würden sie eine passende Grundlage für eine Verständigung aller wirklichen Sozialreformer gebildet haben; sie vereinigen glücklich die Grundsätze der Staats- und Selbsthilfe, die in ihrer schroffen Vereinzelung immer nur halbe und schiefe Wahrheiten bleiben werden; sie lenken namentlich auch nicht nur die sozialen, sondern ebenso auch die demokratischen Triebe der Arbeitermassen auf eine aussichtsvolle und fruchtbare Tätigkeit. Hierin liegt ihre durchgreifende Verschiedenheit von den Plänen des Reichskanzlers, wie sie im Unfallversicherungsgesetz hervortreten. In diesem Entwurfe sind alle erziehenden, das Selbstdenken und das Selbsthandeln der Arbeiter anregenden und bildenden Elemente sorgsam vermieden; die Reichsversicherungsanstalt und der Reichszuschuß stellten den Staat in das blendende Licht eines großmütigen Wohltäters, während alles andere in nur um so tieferes Dunkel gehüllt wird; der gegenwärtige chaotische Zustand des Unfallwesens wird als ein unabänderlicher Zustand hingenommen; die Unfälle sollen nicht nach Möglichkeit gemindert, sondern nur ihre Folgen notdürftig ausgeglichen werden; der Arbeiter erhält ein Almosen, statt eines Werkzeugs, sich auf eine höhere Stufe der Gesittung und des Wohlstandes zu schwingen. Alle offiziöse Dialektik wird nicht ausreichen, den Widerspruch gegen diese Art der Sozialreform auf manchesterlichen Köhlerglauben zurückzuführen. Es liegt vielmehr der breite und tiefe Gegensatz zweier Weltanschauungen vor, des absolutistischen, wenn auch aufgeklärten und wohlwollenden einer-, des modernen Staatsbegriffes andererseits. Den Manchesterleuten ist die eine Lösung so widerwärtig wie die andere; die Gegner des Reichskanzlers in dieser Frage rekrutieren sich gerade aus den sozialreformatorisch entschlossensten Kreisen der Wissenschaft. Was oben als die Anschauung der maßgebenden Elemente des preußischen Beamtentums skizziert wurde, das hat kürzlich ein Mann, der ganz und gar keiner tendenziösen Vorliebe weder für die preußische Bürokratie noch für das Manchestertum verdächtig ist, hat Schäffle in die wenigen Sätze schlagend zusammengefaßt: “Eine Verwirklichung der Arbeiterversicherung ist ohne aktive Mitbeteiligung der Arbeiter und Arbeitgeber an der Verwaltung undurchführbar und vereitelt die besten moralisch-politischen Früchte der Institution. Die rein bürokratische Lösung führt zu Verschwendung, zu Korruption, zu Mißbrauch und droht dem Institut seine beste Frucht für sittliche Erziehung und politische Versöhnung des Arbeiterstandes zu rauben. Wird dagegen die Arbeiterversicherung in der Hauptsache eine zwangsgenossenschaftlich korporative Angelegenheit der betroffenen Produktionszweige in nationaler, historischer und lokaler Abstufung, so fiele jede Befürchtung dahin; das Reich würde dann kein verdächtiger Geschenkebringer sein.”6 In der Tat ─ so steht die Sache. ─ Wer überhaupt hofft, durch unmittelbare Spenden des Staates die murrende Sozialdemokratie besänftigen zu können, verkennt in tragischer Weise die Natur dieses ganzen Problems. Jedes dieser Geschenke wird die Umsturzpartei äußerlich mit mehr oder weniger Anstand und innerlich hohnlachend einsacken, um die fordernde Hand sofort nur um so dreister vorzu-

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strecken. Mit dieser rasenden Preissteigerung dieser sibyllischen Bücher kann auf die Dauer der kühnste Staatsmann nicht Schritt halten. Und wenn wirklich bei den bevorstehenden Reichstagswahlen die kommunistischen Agitatoren ihre Anhänger ganz oder teilweise mit Stimmzetteln für die Regierung an die Wahlurnen kommandieren sollten, so mag sich der Reichskanzler diese Danaergeschenke erst dreimal besehen, ehe er sie befriedigt annimmt. Zur Vernichtung der Sozialdemokratie fuhrt nur der eine Weg, daß den Arbeitermassen auf dem Boden des heutigen Staates ein hinlänglich fruchtbarer Spielraum für die Betätigung ihrer geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen Kräfte eröffnet wird. Es gilt, den ganzen Menschen zu fassen und sein ganzes Dasein mit würdigem Inhalte zu erfüllen, so daß er sich nur noch als organischer Bestandteil dieser Gesamtheit fühlt und die Sprengung des gesellschaftlich-staatlichen Verbandes einfach im Lichte eines Selbstmordes erblickt.

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849─1904) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • 1Die seit 1869 unter diesem Titel erscheinende älteste Hamburger Zeitung war das Organ der ersten kaufmännischen u. Schiffahrtskreise und vertrat nationalliberale Anschauungen. »
  • 2Vgl. auch den auf diesen Artikel bezogenen Bericht des Berliner Börsen Courier Nr. 498 v. 15.10.1881. »
  • 3Ludwig Bamberger (1823─1899), Politiker, seit 1874 MdR (nationallib./Lib. Vereinigung). »
  • 4Karl Braun (1822─1893), Justizrat, Rechtsanwalt, seit 1867 MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung). »
  • 5Vgl. dazu die Dokumentation der Ansichten Theodor Lohmanns in Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, die hier erstaunlich konzis und treffend referiert werden, obwohl sie bis dahin nicht publik gemacht worden waren. »
  • 6Der Tenor des Zitats ist der von A. Schäffles Artikel in der (Augsburger) Allgemeinen Zeitung vom 7./8.10.1881 (vgl. Nr. 9 Anm. 3), wörtlich konnte es nicht ermittelt werden. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 11, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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