Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

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Nr. 1

1881 Juni 27

Denkschrift1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann2 für den Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher3

Reinschrift

[Entwicklung einer Alternative zur ersten Unfallversicherungsvorlage bzw. zu Bismarcks Vorstellungen: Thematisierung des Problems, daß bei einer vierwöchigen Karenzzeit die weitaus überwiegende Anzahl der Unfälle nicht erfaßt wird. Diskussion möglicher Problemlösungen: Reichsgesetzlicher Krankenkassenzwang oder Wegfall der Karenzzeit sind ungeeignete Mittel, sofern die Reichsanstalt als Versicherungsträger, Staatszuschuß und direkter Versicherungszwang beibehalten werden. Befürwortung von Versicherungsgenossenschaften, an deren Stelle auch privatwirtschaftliche Versicherungsgesellschaften zugelassen werden können (Substitutivprinzip), Reichsanstalt nur als Anstalt zum Rentenkauf, eines Arbeiterbeitrags sowie indirekten Versicherungszwangs (Haftungsausschluß für Unternehmer nur bei Beitritt zur Unfallversicherung)]

Denkschrift betreffend den Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes4

I. Karenzzeit

Nach einer vom Versicherungsdirektor Molt5 in Stuttgart aufgrund der Statistik der Unfallversicherung aufgestellten Berechnung6 entfallen auf 15 000 Arbeiter der verschiedensten gewerblichen Betriebe jährlich 786 durch Betriebsunfälle Verletzte. Die Dauer der Erwerbsunfähigkeit betrug

a) 1─30 Tage bei

561

Verletzten
b) 31─60 Tage bei

130

Verletzten
c) 61─90 Tage bei

27

Verletzten
d) 91─120 Tage bei

8

Verletzten
[ Druckseite 2 ]
e) 121─180 Tage bei

6

Verletzten
f) dauernd invalide bei

27

Verletzten
g) getötet bei

21

Verletzten.

Die Zahl der unter das Gesetz fallenden Arbeiter wird angenommen zu 2 000 000. Darauf würden entfallen:

Verletzte überhaupt

104 800

a) mit Erwerbsunfähigkeit bis 30 T[agen]

74 800

b) mit Erwerbsunfähigkeit von 31─60 T[agen]

17 333

1/3
c) mit Erwerbsunfähigkeit von 61─90 T[agen]

3 600

d) mit Erwerbsunfähigkeit von 91─120 T[agen]

1 066

2/3
e) mit Erwerbsunfähigkeit von 121─180 T[agen]

800

f) mit dauernder Erwerbsunfähigkeit

3 600

g) getötet

2 800

oder in Prozentsätzen

a)

71,79 %

e) 0,76 %
b)

16,54 %

f) 3,43 %
c)

3,43 %

g) 2,65 %
d)

1,06 %

Hieraus erhellt die ungeheure Bedeutung der Karenzzeit für die Wirkungen des Gesetzes. Während ohne eine Karenzzeit von 2 000 000 Arbeitern alljährlich 104 800, d. h. 5,24 % die Wirkungen des Gesetzes unmittelbar durch Bezug der Entschädigung empfinden würden, würde dies bei Einführung der Karenzzeit nur bei 30 000 Arbeitern, d. h. bei 1/2 % sämtlicher Versicherten der Fall sein, während 74 800 oder 3,74 % derselben, obwohl verletzt, von der Wirkung des Gesetzes nichts verspüren würden. Von den 98 400 Verletzten, welche nur vorübergehend erwerbsunfähig werden, würden nur 23 600, also nicht einmal 1/4 eine praktische Wirkung des Gesetzes verspüren. Soll die ganze Regelung ihrer sozialpolitischen Wirkung auf die Arbeiter nicht zum größten Teile verlustig gehen, so muß entweder die Karenzzeit fallen, oder es muß für die Entschädigung während derselben auf andere Weise aber gleichzeitig in ausreichender, d. h. für die Arbeiter fühlbarerweise Sorge getragen werden.

Nach dem bisherigen Plane sollte dies durch eine Revision der Krankenkassengesetzgebung geschehen, durch welche die Zugehörigkeit jedes gegen Unfall versicherten Arbeiters zu einer Krankenkasse und der Bezug einer den Sätzen des Versicherungsgesetzentwurfs entsprechenden Entschädigung im Falle der Verletzung durch Unfall für die Karenzzeit gesichert werden würde.7 Die bei der ersten Bearbeitung des Entwurfs noch nicht vorliegenden Zahlen, aus welchen sich die Bedeutung der Karenzzeit ergibt, lassen dieses Auskunftsmittel schon an sich nicht so zweckentsprechend erscheinen als früher angenommen wurde. Die Verallgemeinerung des [ Druckseite 3 ] Kassenzwangs, so wichtig und heilsam sie an sich ist, wird doch von den Arbeitern zunächst nicht als eine Wohltat empfunden werden. Noch weniger aber wird es einen guten Eindruck auf dieselben machen, wenn sie durch Vermittlung des Krankenkassenzwangs zu der Entschädigung, auf welche ihnen für den Fall der Verletzung durch Unfall ein Anspruch eingeräumt werden soll, soweit es sich um die Karenzzeit handelt, den größten Teil der Beiträge selbst zahlen sollen. Daß aber die Arbeiter zu den Krankenkassen den größeren Teil der Beiträge zu zahlen haben, läßt sich unter keinen Umständen vermeiden. Je weiter der Kassenzwang in das Gebiet des Kleingewerbes hineinreichen wird, desto weniger wird man in der Lage sein, den Zuschuß, welchen die Arbeitgeber zu den Krankenkassen ihrer Arbeiter zu leisten haben, über das gegenwärtig zulässige Maximum (50 % der Arbeiterbeiträge, also 33 1/3 % der gesamten Beiträge) zu erhöhen; ja es wird sogar, nachdem man 1876 die Verpflichtung zur Beitragsleistung nur für Fabrikanten beibehalten, für die Handwerker dagegen aufgehoben hat8, recht schwer sein, sie für alle Kleingewerbetreibende, welche dem Unfallversicherungszwange unterliegen, wieder einzuführen.

Unter diesen Umständen entsteht die Frage, ob es nicht richtiger sein würde, die Karenzzeit ganz zu beseitigen. Dieselbe würde unbedenklich zu bejahen sein, wenn die Versicherung vorübergehender Erwerbsunfähigkeit von kurzer Dauer durch eine zentrale Versicherungsanstalt geschäftlich durchführbar wäre. Diese Durchführbarkeit ist aber ─ ganz abgesehen von der Gefahr der Simulation, welche von allen Sachkundigen als eine sehr erhebliche angesehen wird ─, aufs ernstlichste zu bezweifeln9. Selbst wenn die Reichsversicherungsanstalt ihren Geschäftsbetrieb in dem Maße dezentralisieren würde, daß sie die Ermittlung und Feststellung der Entschädigung in allen Fällen vorübergehender Erwerbsunfähigkeit den Verwaltungsstellen überließe und nur in den Fällen der dauernden Invalidität und des Todes der Zentralstelle vorbehielte, so müßte der letzteren doch auch in den Fällen ersterer Art mindestens eine Revision und schließliche Genehmigung der Feststellung verbleiben, wenn der Gefahr einer völligen Ungleichmäßigkeit der Behandlung der Versicherten und selbst einer weitgehenden finanziellen Schädigung der Anstalt vorgebeugt werden sollte.

Für den Geschäftsbetrieb der Zentralstelle würden sich demnach bei Wegfall der Karenzzeit jährlich 6 400 Schadensfeststellungen und 98 400 Revisionen ergeben oder täglich, das Jahr zu 300 Arbeitstagen gerechnet 21 1/3 Schadensfeststellungen und 328 Revisionen.

Wenn man erwägt, daß eine Revision ebensowenig wie eine Schadensfeststellung ohne Einsicht der Entschädigungsverhandlungen möglich sein würde, daß die letztere auch schon deshalb nicht entbehrt werden könnte, weil ein Urteil darüber gewonnen werden muß, ob gegen den Unternehmer ein Anspruch wegen groben Verschuldens zu erheben sei, und daß ohne Zweifel in zahlreichen Fällen eine Nachinstruktion erforderlich werden würde: so entsteht in der Tat das schwere Bedenken, ob nicht für die Zentralverwaltung der Reichsversicherungsanstalt eine [ Druckseite 4 ] Behörde von so kolossalem Umfange erforderlich werden würde, daß von einem einheitlichen und übersichtlichem Geschäftsbetriebe kaum noch die Rede sein könnte.

Von dieser Seite entstehen überhaupt Bedenken gegen die Ratsamkeit der Errichtung einer Reichsversicherungsanstalt, welche schon jetzt einer ernsten Prüfung zu unterziehen sein dürften, damit nicht das ganze Werk, wenn die legislatorischen Schwierigkeiten glücklich überwunden werden sollten, schließlich in der Ausführung an den organisatorischen und geschäftlichen Schwierigkeiten Schiffbruch erleide.

Selbst bei einer Karenzzeit von 4 Wochen würden sich jährlich noch immer 30 000 Schadensfälle, d. h. pro Arbeitstag 100 Entschädigungsfeststellungen ─ bei einer Karenzzeit von 14 Tagen 50 000, d. h. pro Arbeitstag 166 2/3 ─ ergeben. Dies würde aber keineswegs der größte Teil der der Reichsversicherungsanstalt obliegenden Arbeit sein. Rechnet man ─ wahrscheinlich zu hoch ─ auf jeden versicherten Betrieb im Durchschnitt 10 Arbeiter, so ergeben sich 200 000 Versicherungen, deren erstmalige Einschätzung in Gefahrenklassen ─ bei Inkrafttreten des Gesetzes ─ schon einen großen, allerdings nur vorübergehenden Kraftaufwand erfordern würde. Die dauernde Zahl von Einschätzungen wird, wenn man die neu entstehenden und veränderten Betriebe veranschlagt, nicht zu hoch auf 10 % der Gesamtzahl, also auf 20 000 im Jahr zu berechnen sein. Für sämtliche 200 000 Anlagen muß aber viermal im Jahre die Berechnung und Vereinnahmung der Prämie stattfinden, welche jedenfalls auch an der Zentralstelle revidiert werden muß. Das ergibt im Jahre 800 000 Revisionen von Prämienberechnungen. Ebenso wird auch die Auszahlung der Entschädigungen nur auf Anweisung der Zentralstelle geschehen können, wenn es auch möglich sein mag, daß diese Anweisung summarisch und nicht für die einzelnen Zahlungstermine erfolgt.

Daß es unmöglich sei, dieses Maß an Geschäften durch eine Behörde bewältigen zu lassen, wird allerdings nicht behauptet werden können; die Frage ist nur, ob dies in einer Weise geschehen kann, welche nicht den schon im voraus erhobenen Vorwurf der bürokratischen und schablonenmäßigen Geschäftsführung in vollem Maße rechtfertigen würde, ob nicht beispielsweise die Zentralverwaltung bei der Unmöglichkeit eingehender Prüfung und Erwägung der einzelnen Fälle sehr bald dahin gelangen würde, jeden Entschädigungsanspruch, welcher irgendwie zweifelhaft erscheint, ohne weiteres bis zur gerichtlichen Verurteilung abzulehnen und damit in den Fehler der Inkulanz und Härte zu verfallen, welcher die Reichsversicherungsanstalt sehr bald in Mißkredit bringen und bei den Versicherten die Sehnsucht nach der kulanten Privatversicherung entstehen lassen würde. Diese Gefahr ist um so größer, als die eigentliche Revisionsarbeit bei ihrer Massenhaftigkeit in den Händen von Subalternbeamten liegen würde, bei denen sich dieselbe formalistische und kleinliche Behandlung herausbilden würde, wie sie z. B. bei der Oberrechnungskammer herrscht. Ebenso groß ist die Gefahr, daß über der Masse der Detailarbeit den wichtigen allgemeineren Aufgaben der Zentralverwaltung, namentlich der Verarbeitung des statistischen Materials zur Vervollkommnung der Einteilung in Gefahrenklassen, zur Berichtigung der Prämiensätze, zur Ermittlung der in den einzelnen Industriezweigen vorherrschenden Ursachen von Unfällen und der zur Minderung der letzteren zu ergreifenden Maßregeln nicht die nötige Kraft und Sorgfalt geschenkt werden kann.

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Diese Erwägungen, welche sich leicht noch weiter verfolgen ließen, legen in der Tat die Befürchtung nahe, daß die Verwaltung der Reichsversicherungsanstalt an praktischen Mängeln leiden würde, welche die unverkennbaren Vorzüge, die einer großen zentralen Versicherungsanstalt in der Theorie unzweifelhaft vindiziert werden können, praktisch illusorisch machen würden.10

II. Staatszuschuß

Die wirtschaftliche Notwendigkeit eines Staats- (oder Reichs-)Beitrags zu der Versicherungsprämie läßt sich nur durch die Behauptung begründen, daß entweder der Arbeiter ─ wenn eine Abwälzung seines Beitrages auf den Unternehmer durch Lohnerhöhung nicht angenommen wird ─ den Beitrag nur auf Kosten der Befriedigung seiner notwendigsten Lebensbedürfnisse zu leisten vermöge, oder die Industrie ─ bei der entgegengesetzten Annahme ─ die ihr erwachsende Last ohne Gefährdung ihrer Konkurrenzfähigkeit nicht tragen könne.

Bei Abfassung der Motive des Gesetzentwurfs wurde von der Annahme ausgegangen, daß die Prämie für die gefährlichsten Gewerbe höchstens 3 % des Lohnes betragen werde. Das würde nach dem vom Reichstage beschlossenen Beitragsfuß für den Unternehmer 2 %, für den Arbeiter 1 % ergeben. Gegen die Annahme, daß ein Beitrag von letzterem Betrage dem Arbeiter nicht auferlegt werden könne, ohne seine bisherige Lebenshaltung fühlbar zu beeinträchtigen, spricht folgende Erwägung: Die Wirkung der Beitragspflicht ist bei dem im Gesetze vorgesehenen Zahlungsmodus (Anrechnung auf den Lohn) dieselbe, wie diejenige einer Lohnherabsetzung von gleichem Betrage. Nun kommen aber im gewöhnlichen Gange der Industrie ─ ohne das Hinzutreten von Notständen ─ Lohnschwankungen vor, welche eine viel größere Lohndifferenz zur Folge haben, erfahrungsmäßig aber ─ bei sonst geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen ─ keine Erschütterung des Haushalts der beteiligten Arbeiter hervorbringen. Lohnherauf- oder -herabsetzungen um 5 % sind nichts Seltenes. Sie ergeben bei einem Wochenlohn von beispielsweise 9 M 45 Pf für die Woche, während der Prämienbeitrag für denselben Wochenlohn 9 Pf beträgt.

Bei der großen Mehrzahl der Arbeiter wird aber das Opfer noch ungleich geringer werden, da schon nach der Heymschen Berechnung11 anzunehmen ist, daß für Industriezweige von mittlerer Gefährlichkeit die Prämie nicht über 1 1/2 %, also der Beitrag des Arbeiters nicht über 1/2 % betragen wird. In nach den neuerdings von Sachverständigen eingereichten Berechnungen ist man zu der Annahme berechtigt, daß selbst in den gefährlichsten Industriezweigen die Prämie 1 1/2 % und somit der Beitrag des Arbeiters 1/2 % nicht übersteigen wird (Behm12 rechnet für die gefährlichsten Industriezweige 1,4 % Prämie). Für die Mehrzahl der Arbeiter würde sich dann der Prämienbetrag so niedrig stellen, daß von einer wirtschaftlichen Bedeutung kaum noch die Rede sein könnte. Eine solche würde ja immerhin auch bei dem niedrigsten Prämienbeitrage verbleiben, wenn derselbe nach Art der direkten [ Druckseite 6 ] Steuern erhoben werden sollte, und damit alle die Nachteile drohten, welche aus einer direkten Steuer für die untersten Volksklassen vermöge der Art der Hebung mit Beitreibung und Pfändung erwachsen könnten. Das ist aber nicht der Fall, vielmehr wird der Beitrag bei der vorgesehenen Art der Hebung in dieser Beziehung ganz die Natur einer indirekten Steuer annehmen.

Abgesehen hiervon würde aber mit dem Staatsbeitrag der Zweck nur sehr unvollkommen erreicht werden. Soll der Prämienbeitrag nicht für alle Arbeiter ohne Unterschied der Lohnhöhe aus öffentlichen Mitteln gedeckt werden, so wird man eine Grenze immer nur in einer bestimmten Lohnhöhe ─ im Gesetzentwurf 750 M ─ finden. Bei dieser Art der Begrenzung wird aber die Wohltat großen Massen von Arbeitern zuteil werden, für welche diese Unterstützung aus öffentlichen Mitteln keine Berechtigung hat, während sie andererseits einer großen Zahl nicht zuteil werden kann, für welche das Bedürfnis, wenn von einem solchen überhaupt die Rede sein kann, in weit höherem Maße vorhanden ist. Zunächst wird die Unterstützung den zahlreichen jugendlichen und unverheirateten Arbeitern, welche in der Regel auch in Gegenden und Industriezweigen mit höheren Löhnen den Lohnsatz von 750 M noch nicht erreichen, zuteil werden, obwohl sie wirtschaftlich ja ungleich günstiger stehen, als die verheirateten Arbeiter derselben Gegend und desselben Industriezweiges, welche den Lohnsatz von 750 M ─ vielleicht nur um ein geringes überschritten haben. Ebenso wird sie in Gegenden, wo der Preis der notwendigen Lebensbedürfnisse und folgeweise der Arbeitslohn niedrig steht, der Mehrzahl aller Arbeiter und darunter auch denjenigen, welche mit einem Lohnsatze von nahezu 750 M nach den Verhältnissen der betreffenden Gegend ihr gutes Auskommen haben, zuteil werden, während sie in anderen Gegenden mit höheren Preisen und Löhnen vielen Arbeitern versagt bleibt, welche bei höherem Lohn ein viel weniger gutes Auskommen haben als jene.

Sieht man aber, von der Annahme ausgehend, daß der Beitrag der Arbeiter auf die Unternehmer abgewälzt werden würde, den Staatsbeitrag als ein Mittel an, durch welches die der Konkurrenzfähigkeit der Industrie drohende Gefahr abgewendet werden soll, so läßt sich auch von diesem Gesichtspunkte aus weder die Notwendigkeit noch die Wirksamkeit des Staatsbeitrages begründen. Für den Einfluß des Prämienbeitrags auf die Konkurrenzfähigkeit der Industrie gilt dasselbe, was oben für denjenigen auf die Lebenshaltung der Arbeiter geltend gemacht ist, daß nämlich der Betrag der Prämie schon bei der Annahme des Heymschen Gutachtens zu gering ist, um eine entscheidende Wirkung auf die Rentabilität eines Unternehmens auszuüben. Der Beweis für diese Behauptung liegt wiederum in dem Umstande, daß die gewöhnlichen Lohnschwankungen, welche ohne Hinzutritt außergewöhnlicher Konjunkturen in der Industrie vorkommen, viel größere Differenzen in der für dasselbe Produktionsquantum von einem industriellen Unternehmen zu verwendenden Lohnsumme hervorbringen, als durch die Belastung mit dem Prämienbeitrage hervorgerufen werden können, und zwar treten solche Differenzen oft genug in der Zwischenzeit zwischen der Übernahme eines Auftrages und seiner Ausführung ein, ohne daß dadurch die Rentabilität des Unternehmens gefährdet würde: Ein sicherer Beweis dafür, daß für den Kalkül über die Rentabilität eines Unternehmens so geringe Lohndifferenzen, wie sie aus der Versicherungsprämie erwachsen, gar nicht in Betracht kommen.

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Noch bestimmter läßt sich aber nachweisen, daß der Staatsbeitrag nach dieser Richtung hin nicht die beabsichtigte Wirkung haben, vielmehr nur dahin führen würde, die natürlichen Konkurrenzbedingungen der Unternehmer desselben Industriezweiges künstlich zugunsten des einen und zum Nachteil des anderen zu verschieben.

Die Unternehmungen desselben Industriezweiges haben in den verschiedenen Gegenden Deutschlands ganz verschiedene Lohnsätze. Die Großeisenindustrie zahlt beispielsweise in Oberschlesien sehr viel niedrigere Löhne als in Westfalen und der Rheinprovinz. Während in Oberschlesien nur ein sehr geringer Teil der Arbeiter einen Jahresarbeitsverdienst von mehr als 750 M erzielt, ist in Westfalen und der Rheinprovinz die Zahl derjenigen Arbeiter sehr gering, welche unter diesem Jahresverdienst bleiben.13

Wenn von zwei Werken mit der gleichen Anzahl Arbeiter das eine in Oberschlesien belegene jährlich 2 000 000 Mark, das andere in Westfalen belegene 3 000 000 Mark Löhne zahlt, und von der Lohnsumme des ersteren 3/4, von derjenigen des letzteren 1/4 auf Arbeiter mit mehr als 750 M Jahresverdienst fiele, so würden bei einer Versicherungsprämie von 3 % für das erstere Werk an Staatsbeitrag jährlich 15 000 M für das letztere dagegen nur 7 500 M gezahlt werden. Es würde demnach das erstere Werk ─ Gesamtprämie 3 % von 2 000 000 = 60 000 M, Staatsbeitrag 1 % von 1 500 000 = 15 000 M, bleibt zu Lasten des Unternehmens 45 000 M oder 2 1/4 % von 2 000 000 M ─ durch die Unfallversicherung im ganzen nur mit 2 1/4 % seiner Lohnausgabe belastet werden, während dieselbe Belastung für das letztere Werk ─ Gesamtprämie 3 % von 3 000 000 = 90 000 M, Staatsbeitrag 1 % von 750 000 = 7500 M, bleibt zu Lasten des Unternehmens 82 500 M oder 2 3/4 % von 3 000 000 M ─ 2 3/4 % betragen würde. Die in dieser Beziehung an sich schon ungünstigen Produktionsbedingungen des letzteren Werkes würden also gegenüber dem ersteren noch um 1/2 % der Lohnsumme verschlechtert werden: was volkswirtschaftlich um so bedenklicher sein würde, je höher man die Bedeutung der aus der Unfallversicherung erwachsenden Belastung für die Produktivität der industriellen Unternehmungen veranschlagt.

Wenn hiernach erhebliche Gründe dafür sprechen dürften, den Staatsbeitrag zur Prämie fallen zu lassen, so könnte in Frage kommen, ob, um die Belastung der Arbeiter zu vermeiden, die ganze Prämie dem Unternehmer auferlegt werden solle. Der Besorgnis, daß damit der Unternehmer zu stark belastet werden würde, dürfte nach den vorstehenden Erörterungen eine entscheidende Bedeutung kaum beizumessen sein. Wohl aber sprechen andere gewichtige Gründe gegen diese Maßregel. Der durchschlagendste dürfte der sein, daß es mit der Gerechtigkeit nicht verträglich sein würde, dem Arbeiter auch in solchen Fällen, wo er seine Verletzung durch eigene Leichtfertigkeit, Unaufmerksamkeit oder Ungeschicklichkeit oder durch noch gröberes Verschulden herbeigeführt hat, einen Entschädigungsanspruch einzuräumen, ohne ihn zu einer, wenn auch noch so geringen Gegenleistung durch [ Druckseite 8 ] einen Prämienbeitrag heranzuziehen14. Durch eine solche dem allgemeinen Rechtsbewußtsein zuwiderlaufende Regelung würde bei der großen Mehrzahl der Arbeitgeber eine berechtigte Verstimmung hervorgerufen und in Arbeiterkreisen einer Auffassung ihres Verhältnisses zum Arbeitgeber Vorschub geleistet werden, welche für die weitere Entwicklung der sozialen Verhältnisse nicht heilsam wirken könnte.15

Ein anderes schwerwiegendes Bedenken gegen diese Maßregel liegt darin, daß die genossenschaftliche Regelung der Unfallversicherung, deren Vorzüge von allen Seiten anerkannt werden, und welche unbedenklich als das erwünschte letzte Ziel der ganzen Rechtsentwicklung bezeichnet werden kann, zu ihrer vollkommensten, alle wohltätigen Wirkungen, deren sie fähig ist, sichernden Ausbildung nur gelangen kann, wenn auch der Arbeiter in ihr nicht bloß als berechtigtes, sondern auch als verpflichtetes Glied seine Stellung erhält.

Da es ohnehin der Erwägung wert sein würde, ob den Unfallversicherungsgenossenschaften, welche in dem Gesetzentwurf bisher nur sozusagen im Keime vorhanden sind, bei Wiedervorlegung desselben nicht von vornherein ein weiterer Spielraum und eine nähere Regelung zu geben wäre, so mag es gestattet sein, ihrer möglichen Bedeutung und der Art ihrer Regelung schon hier eine etwas eingehendere Betrachtung zu widmen.

III. Versicherungsgenossenschaften

Nach der im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelung würden die Versicherungsgenossenschaften zunächst nur die Bedeutung haben, daß für die vereinigten Unternehmer an die Stelle der Versicherung gegen feste Prämie die gemeinsame Aufbringung des in jedem Jahre durch Unfall erwachsenden Schadens treten würde, und daß das gemeinsame Interesse, diesen Schaden möglichst herabzudrücken, die Unternehmer veranlassen würde, auf möglichst vollkommene Einrichtungen zur Verhütung von Unfällen in allen vereinigten Betrieben hinzuwirken. Die in diesem gemeinsamen Interesse liegende Garantie würde den Staat in den Stand setzen, die Beaufsichtigung der Betriebe nach dieser Seite hin und die Feststellung der für alle Betriebe vorzuschreibenden Schutzvorrichtungen in erster Linie der Genossenschaft zu überlassen und sich selbst nur eine Art Oberaufsicht vorzubehalten. Es würde sich vielleicht empfehlen, in dieser Beziehung die nötigsten Vorschriften schon in den Entwurf aufzunehmen, namentlich zu bestimmen, daß unter Vorbehalt der Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde durch Genossenschaftsbeschluß über die Einrichtung und den Betrieb der vereinigten Betriebe Vorschriften erlassen und deren Übertretung mit Strafen zugunsten der Genossenschaftskasse bedroht werden können.

Eine ungleich größere Wirksamkeit würden die Genossenschaften aber erhalten, wenn man ihnen unter gewissen Garantien auch die Feststellung der Entschädigungen und die Beaufsichtigung der Arbeiter zum Zwecke der Unfallverhütung übertragen könnte. Beides würde aber nur möglich sein, wenn man auch den Arbeitern

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eine Mitwirkung bei der Verwaltung der Genossenschaften einräumen könnte. Nur unter dieser Voraussetzung würde man die Feststellung der Entschädigungen Schiedsgerichten, welche aus Arbeitgebern und Arbeitern zusammengesetzt wären ─ unter Vorbehalt einer Rekursinstanz ─ überlassen und ebenso der Genossenschaft das Recht einräumen können, zum Zweck der Verhütung von Unfällen auch Vorschriften über das Verhalten der Arbeiter zu erlassen und deren Übertretung zugunsten der Genossenschaftskasse mit Strafen zu bedrohen. Unter der gleichen Voraussetzung könnte man aber auch den Haushalt der Versicherungsgenossenschaften viel selbständiger hinstellen, als es nach dem Entwurf geschehen würde, ja man könnte sie zu wirklich selbständigen Versicherungsgenossenschaften machen, denen man zur Sicherung der Entschädigungen nur eine Beschränkung aufzuerlegen brauchte. Während man nämlich für alle Entschädigungen, welche bloß einmalig oder vorübergehend zu zahlen sind (Heilungskosten, Begräbniskosten, Entschädigung für vorübergehende Erwerbsunfähigkeit) der Genossenschaft nicht bloß die Feststellung, sondern auch die Zahlung der Entschädigung ohne Beeinträchtigung der Sicherheit der letzteren überlassen könnte, würde man hinsichtlich der fortlaufenden Renten (für dauernd, ganz oder teilweise Invalide, für Witwen, Waisen und Aszendenten) zu bestimmen haben, daß dieselben, nachdem sie auf dem vorgeschriebenen Wege festgestellt worden, von der Reichsversicherungsanstalt, eventuell von einer anderen öffentlichen Rentenversicherungsanstalt gegen Kapital zu kaufen sein.16 Auf diese Weise würde man gleichzeitig die volle Sicherheit der Entschädigungsrenten und die völlig freie Bewegung der Genossenschaften erreichen, indem der denselben auferlegte Rentenkauf nur an die Stelle der Belegung des Deckungskapitals treten würde, welche jede solide Versicherungsgesellschaft oder -anstalt am Schluß des Rechnungsjahres für jeden in demselben anerkannten Anspruch auf fortlaufende Rente vornehmen muß.

Die Mitwirkung der Arbeiter würde am zweckmäßigsten in der Weise zu regeln sein, daß nicht etwa ein gemeinsamer aus Arbeitgebern und Arbeitern bestehender Vorstand gebildet, sondern dem lediglich von den Arbeitgebern aus ihrer Mitte zu wählenden Vorstande ein Arbeiterausschuß17 mit bestimmt abgegrenzten Befugnissen an die Seite gestellt würde.

Diese Regelung verdient deshalb den Vorzug, weil bei einem gemeinsamen Vorstande die Mitwirkung der Arbeiter, welche in demselben nach dem Maße ihrer Beiträge immer nur die Minderheit bilden würden, nur eine scheinbare und deshalb unbefriedigende sein würde. Dagegen würde ihnen eine wirksame Vertretung ihrer Interessen und das befriedigende Bewußtsein eines wirklichen Einflusses auf die Verwaltung gesichert werden, wenn einem Arbeiterausschluß das Recht eingeräumt würde, von den Verhandlungen und Beschlüssen des Vorstandes, sowie von der Jahresrechnung und ihren Belegen Kenntnis zu nehmen, und Einsprüche gegen erstere sowie Erinnerungen gegen die letzteren, soweit sie nicht durch Verhandlung [ Druckseite 10 ] mit dem Vorstande erledigt würden, zur Entscheidung der höheren Verwaltungsbehörde zu bringen. Für die Schiedsgerichte würde die Vorschrift zu treffen sein, daß sie zur Hälfte aus Arbeitgebern, zur Hälfte aus Arbeitern bestehen und einen unparteiischen, keinem der beiden Teile angehörigen Obmann haben müßten. Im übrigen könnte es der Regelung durch das Genossenschaftsstatut überlassen werden, ob ein ─ oder bezirksweise ─ mehrere ständige, für alle innerhalb der Genossenschaft oder des betreffenden Bezirks vorkommenden Fälle zuständige Schiedsgerichte gebildet werden sollen, oder ob für jeden Fall ein Schiedsgericht ad hoc durch Wahl des Entschädigungsberechtigten einerseits, des Genossenschaftsvorstandes andererseits, berufen werden soll.

Neben der zweckmäßigsten Gestaltung der Unfallversicherung selbst würde eine solche Regelung den wünschenswerten Erfolg haben, daß der große Vorzug, welchen bei manchen Mängeln im einzelnen die Knappschaftskassen unbestritten haben, nämlich die korporative, auch die Arbeiter mit umfassende Organisation der Industrie, auf die übrigen Industriezweige übertragen und dadurch eine Grundlage für die gewerbliche Selbstverwaltung gewonnen würde, welche in ihrer weiteren Ausbildung, sowohl für die wirtschaftliche wie für die soziale Entwicklung der Industrie von großer Bedeutung werden könnte.

Die Betretung dieses Weges ist allerdings davon abhängig, daß zu der Versicherungsprämie auch die Arbeiter mit einem, wenn auch noch so geringem Beitrage herangezogen werden, da die Mitwirkung der Arbeiter bei der Verwaltung der Genossenschaften nur dann einen Sinn hat und einen Erfolg verspricht, wenn sie auch an den finanziellen Ergebnissen der Verwaltung ein Interesse haben, und ohne ein solches Interesse selbst die Mitwirkung bei der schiedsrichterlichen Feststellung der Entschädigungsansprüche nicht ihren vollen Wert behalten würde; während durch mannigfache Erfahrungen auf dem Gebiete des Unterstützungskassenwesens bereits festgestellt ist, daß eine Mitwirkung beitragender Arbeiter bei der Verwaltung die beste Garantie für eine wohlwollende, die individuellen Verhältnisse berücksichtigende und zugleich sparsame, namentlich die Simulation erfolgreich bekämpfende Bemessung der Leistungen der Kassen bietet. Auf alle Fälle dürfte eine solche Mitwirkung bei der Verwaltung den Einfluß der Unfallversicherung auf die Stimmung der Arbeiter zu einem ungleich wohltätigeren und nachhaltigeren machen, als er durch die bloßen wirtschaftlichen Vorteile, welche doch immer nur einem kleinen Prozentsatz der Arbeiter zum Bewußtsein kommen würde, jemals werden könnte.

Selbstverständlich würde bei einer genossenschaftlichen Regelung der Unfallversicherung kein Grund mehr vorliegen, die Karenzzeit beizubehalten, da bei der damit ermöglichten lokalisierten Verwaltung alle diejenigen Gründe, welche bei einer zentralisierten Versicherungsanstalt die Einführung einer Karenzzeit fast unentbehrlich machen, hinwegfallen. Es würde damit eine der größten Schwierigkeiten, auf welche die Regelung der Unfallversicherung bei Beibehaltung der bisherigen Grundlagen stoßen würde, beseitigt sein.

Allerdings ist nicht zu verkennen, daß diese bisherige Grundlage dann auch noch in anderen Beziehungen sehr erhebliche Änderungen erleiden müßte. Es wird nicht möglich sein, die Unfallgenossenschaft von vornherein zur ausschließlichen Form der Unfallversicherung zu machen, wenn man nicht Zwangsgenossenschaften [ Druckseite 11 ] mit Beitrittsverpflichtung aller in einem Bezirk belegenen, den zu einer Genossenschaft zu vereinigenden Industriezweige angehörenden Unternehmungen auf der einen Seite und Aufnahmeverpflichtung für die Genossenschaft auf der anderen Seite einführen wollte. Damit würde man aber nicht nur die bedeutenden Vorzüge der genossenschaftlichen Regelung wieder verlieren, sondern auch den Staat vor die schwierige, vielleicht unlösbare Aufgabe stellen, von vornherein durch Gesetz oder Verordnung praktisch durchführbare Vorschriften über die lokale und industrielle Begrenzung der Genossenschaften und über die Zulässigkeit verschiedener Prämiensätze und Versicherungsbedingungen je nach der besseren oder schlechteren Einrichtung der einzelnen Betriebe zu erlassen. Auch würde die Durchführung der Zwangsgenossenschaften höchstwahrscheinlich daran scheitern, da es eine große Zahl von Unternehmungen gibt, welche wegen ihrer isolierten Lage und aus anderen Gründen der Eingliederung in eine Genossenschaft unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellen würden.

Es müßte also für diejenigen Unternehmungen, welche sich einer Genossenschaft nicht anschließen können, immerhin eine andere Gelegenheit zur Unfallversicherung geboten werden. Zu dem Ende scheint es am nächsten zu liegen, die Reichsversicherungsanstalt nach dem bisherigen Plan festzuhalten. Dem steht aber das Bedenken entgegen, daß eine Reichsversicherungsanstalt ohne Einführung einer Karenzzeit kaum durchfuhrbar sein würde, daß man aber den Versicherungszwang für sämtliche Betriebe gleich bemessen muß und nicht etwa für die bei der Reichsversicherungsanstalt Versicherten die Karenzzeit beibehalten kann, während man sie für die zu Unfallversicherungsgenossenschaften gehörenden beseitigt. Auch würde die Beibehaltung einer Reichsversicherungsanstalt insofern nicht ohne Bedenken sein, als eine zweckmäßige Regelung der Unfallversicherungsgenossenschaften leicht die Folge haben könnte, daß der Reichsversicherungsanstalt im wesentlichen nur die Betriebe mit ungünstigem Risiko zufallen und infolgedessen ihre Prämiensätze notwendig sehr hoch, vielleicht höher als diejenigen der gegenwärtig bestehenden Unfallversicherungsanstalten werden würden.

Diesen Schwierigkeiten würde man aber entgehen, wenn man sich entschlösse, die Reichsanstalt für die Unfallversicherung überhaupt auf diejenige Funktion zu beschränken, welche sie nach dem oben dargelegten Plane für die Unfallversicherungsgenossenschaften allein wahrzunehmen haben würde. Das könnte geschehen, wenn man neben den Genossenschaften auch Gegenseitigkeitsgesellschaften und andere Privatanstalten in der Weise zum Betriebe der Unfallversicherung zuließe, daß auch sie sämtliche dauernde Renten bei der Reichsanstalt zu kaufen hätten. Damit würden alle Bedenken, welche sich aus dem Gesichtspunkte der Sicherheit der Arbeiter hinsichtlich ihrer Entschädigungsansprüche ergeben, beseitigt sein, in dem alle diejenigen, welche Ansprüche auf dauernde Renten erwerben würden, zu ihrem direkten Schuldner die Reichsanstalt erhalten würden, während es nicht schwer sein würde, die bloß einmaligen und vorübergehenden Entschädigungen durch geeignete Vorschriften über den Geschäftsbetrieb der Versicherungsanstalten sicherzustellen.

Die Durchführung des Versicherungszwanges würde auch bei diesem System in ausreichendem Maße gesichert werden können. Allerdings würde man den im Entwurf vorgesehenen Weg des direkten, durch polizeiliche Einwirkung und Kontrolle [ Druckseite 12 ] vermittelten Zwanges verlassen und zu dem, in der ursprünglichen dem Bundesrat vorgelegten Fassung des Entwurfs in Aussicht genommenen indirekten Zwange zurückkehren müssen, welcher darin besteht, daß man denjenigen Unternehmern, welche der gesetzlichen Verpflichtung zur Versicherung gegen Unfälle nicht nachkommen, für den Fall eines in ihrem Betriebe vorkommenden Unfalles die Verpflichtung auferlegt, die Entschädigung aus eigenen Mitteln zu bezahlen; und zwar würde es sich, um das Zwangsmittel zu einem noch wirksameren zu machen, empfehlen, für diese Fälle dem Unternehmer nicht die gesetzlich limitierten Entschädigungsbeträge, sondern die volle Entschädigung aufzuerlegen. Darin würde eine Unbilligkeit deshalb nicht gefunden werden können, weil jeder Unternehmer sich vor der ihm drohenden Gefahr durch Erfüllung der gesetzlichen Versicherungspflicht entziehen könnte. Der Einwand aber, daß bei dieser Regelung immer Fälle vorkommen könnten, in welchen der Arbeiter den ihm gesetzlich zustehenden Entschädigungsanspruch nicht würde realisieren können, weil sein Arbeitgeber nicht versichert habe und zur eigenen Zahlung der Entschädigung nicht fähig sei, ist seinerzeit bei Aufstellung des ersten Entwurfs nicht als durchschlagend angesehen und dürfte auch auf einer Überspannung der in dieser Beziehung an die Gesetzgebung zu stellenden Anforderung bezeichnet werden dürfen. Die Gewährung einer solchen unbedingten Sicherheit der Befriedigung individueller Rechtsansprüche hat bis jetzt in unserem Rechtssystem nirgends eine Stelle gefunden. Ihre Einführung in die Regelung der vorliegenden Rechtsmaterie würde die Einführung eines völlig neuen Prinzips bedeuten, dessen Konsequenzen für andere verwandte Verhältnisse zu ziehen, ebenso bedenklich wie unmöglich sein würde, während die Forderung, daß dies geschehe, mit der Zeit schwerlich ausbleiben würde. Dieselben Gründe welche sich für die unbedingte Sicherstellung der hier fraglichen, an die Stelle des bisherigen Arbeitslohns tretenden Entschädigungen anführen lassen, könnten auch für den Arbeitslosen selbst geltend gemacht werden.

So mannigfach aber auch die Vorschriften sind, durch welche die bestehende Gesetzgebung den Lohnarbeiter in dem unverkümmerten Bezug seines Arbeitslohnes zu schützen sucht, so ist doch noch niemals der Versuch gemacht worden und wird auch schwerlich gemacht werden, die Sicherheit dieses Bezuges über alle natürlichen Wechselfälle der menschlichen Verhältnisse zu erheben.

Es ist nicht zu verkennen, daß eine so weitgehende Abweichung von den Grundlagen des bisherigen Entwurfs nach dem ganzen Verlaufe der Verhandlungen politisch nicht erwünscht sein würde. Auf der anderen Seite würde den verbündeten Regierungen gewiß kein Vorwurf daraus gemacht werden können, wenn sie auf einem so neuen und überaus schwierigen Gebiete aufgrund wiederholter, die Ergebnisse der bisherigen Verhandlung und daneben neue, selbst in diesem noch nicht zur Erörterung gekommenen Gesichtspunkte berücksichtigender Erwägungen eine sehr wesentlich abweichende neue Vorlage einbringen sollte.

Auf alle Fälle handelt es sich um eine so wichtige und folgenschwere Maßregel, daß ich mich für verpflichtet gehalten habe, die Bedenken gegen die Durchführbarkeit derselben auf der bisherigen Grundlage, welche mir auch erst im Verlaufe der Verhandlungen klar geworden sind, im gegenwärtigem Zeitpunkte, wo die Betretung eines anderen Weges noch möglich ist, amtlich zur Sprache zu bringen.

Registerinformationen

Personen

  • Behm, Gustav (1821─1906) Geheimer Sekretär und Kalkulator im preuß. Handelsministerium
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Heym, Prof. Dr. Karl Friedrich (1818─1889) Versicherungsmathematiker
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Molt, Karl Gottlob (1842─1910) Versicherungsdirektor
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1BArchP 15.01 Nr. 381, fol. 20─49; der eigenhändige Entwurf Lohmanns befindet sich ebd., fol. 3─17 Rs., mit Randbemerkungen des Abteilungsleiters Robert Bosse. Am 12.8. 1881 wurde die Denkschrift erneut ─ nach der Rückkehr der beiden aus dem Urlaub ─ zwischen Bosse und Lohmann beraten und geringfügig abgeändert. Daraufhin verfugte v. Boetticher am 16.8., daß eine Abschrift für Bismarck herzustellen sei, am 17.8.1881 vermerkte er dann Die Abschrift ist abgenommen (vgl. Nr. 7). »
  • 2Theodor Lohmann (1831─1905), seit April 1881 Vortragender Rat in der II. (wirtschaftlichen) Abteilung des Reichsamts des Innern. »
  • 3Karl Heinrich von Boetticher (1833─1907), seit 14.9.1880 Staatssekretär des Innern. »
  • 4Bismarck hatte am 18.6.1881 eine Bearbeitung und demnächstige Wiedereinbringung der ersten Unfallversicherungsvorlage angeordnet (vgl. Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, S. 617 f.). Mit dem Scheitern der ersten Unfallversicherungsvorlage verband Lohmann die Hoffnung, daß es ihm beschieden sein könne, eine seiner Auffassung mehr entsprechende Vorlage zu vertreten (Lohmann an Ernst Wyneken v. 25.4. 1881, ebd., S. 600 ff.). Die Denkschrift diente dazu, eine Vorlage erstellen zu können, mit der er sich persönlich identifizieren konnte. »
  • 5Karl Gottlob Molt (1842─1910), Gründer und Direktor des Allgemeinen Deutschen Versicherungsvereins in Stuttgart. »
  • 6Eingabe vom 31.1.1881 (überliefert: BArchP 15.01 Nr. 393, fol. 26─32 Rs., die von Lohmann ausgewertete Tabelle: fol. 31 Rs.). »
  • 7Vgl. § 8 der ersten Unfallversicherungsvorlage (Sten.Ber.RT, 4. LP, IV. Sess. 1881, Bd. 3, Aktenstück Nr. 41); der Reichstag hatte die in der Regierungsvorlage vorgesehene Karenzzeit erheblich verkürzt, nämlich von 4 Wochen auf 14 Tage (ebd., Nr. 159 und Nr. 238 sowie Nr. 260, hier nunmehr § 9). »
  • 8Art. 1 § 141 c, Nr. 2 des Gesetzes über die Abänderung des Titels VIII der Gewerbeordnung v. 8.4.1876 (RGBl. S. 135). »
  • 9Bosse (auf der Reinschrift): Haupthindernis des Wegfalls der Karenzzeit. »
  • 10Bosse (auf dem Entwurf): Dürfte sich durch richtige Organisation der lokalen u. Bezirks- r(e)sp(ektive) Provinz- und Landesorgane überwinden lassen. »
  • 11Vgl. dazu Bd. 2 der 1. Abt. dieser Quellensammlung “Von der Haftpflichtgesetzgebung zur ersten Unfallversicherungsvorlage” (1993), S. 410 ff. »
  • 12Gustav Behm (1821─1906), seit 1880 Geheimer Sekretär und Kalkulator im preuß. Handelsministerium; sein Gutachten ist überliefert im BArchP 15.01 Nr. 405, fol. 103─123. »
  • 13Diese verschiedenen Produktionsbedingungen waren mit ausschlaggebend für die unterschiedliche Haltung der Industriellen zur ersten Unfallversicherungvorlage, die besonders bei den Beratungen im preußischen Volkswirtschaftsrat deutlich wurden. »
  • 14Bosse (auf der Reinschrift): Der Prämienbeitrag ist in diesem Falle wohl kein entsprechendes Äquivalent. »
  • 15Bosse (auf der Reinschrift): Positiver Vorschlag? »
  • 16Dieses Verfahren bedeutete eine Übertragung des in der privaten Versicherungswirtschaft entwickelten Kapital- bzw. Anwartschaftsdeckungsverfahrens auf die öffentlichrechtliche Unfallversicherung, zum sog. Umlageverfahren vgl. Nr. 14 Anm. 4. »
  • 17Damit knüpft Lohmann an seinen Vorschlag vom 17.2.1880 an (vgl. Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, S. 138 ff.), vgl. dazu auch Nr. 143. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 1, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0001

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