Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 109

1890 Januar 21

Denkschrift1 Kaiser Wilhelm II.

Eigenhändige Niederschrift mit Randbemerkungen Bismarcks

Wilhelm II. legt seine sozialpolitischen Anschauungen dar; dabei nennt er seine Ratgeber; ein Erlaß an das Staatsministerium mit einem sozialpolitischen Programm soll ihm vorgelegt werden; die Denkschrift folgt weitgehend den Ausführungen Paul Kaysers

Bemerkungen zur Arbeiterfrage

Unsere Bürokratie hat ihr möglichstes getan, wenn sie eine Enquete veranstaltet, in welcher die einzelnen Beteiligten über längst bekannte Dinge vernommen werden.

Inzwischen ist es nach dem natürlichen Verlauf der Dinge weitergegangen, daß berechtigte Forderungen, wenn sie nicht berücksichtigt werden, sich in unberechtigte verwandeln und sich durch den Einfluß der Anarchisten und Sozialisten2 in das Maßlose und Ungemessene steigern. Man kann das an der Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung sehen; mit jedem Jahr steigern sich die Forderungen; jede Reichstagssession hat uns mit einem Antrag beschert, welcher die früheren übertrumpfte, und jede Beratung steigert die Wünsche der Arbeiter. Wartet man noch länger, dann wird man auch beim besten Willen nicht in der Lage sein, diese Wünsche mehr zu erfüllen, und die Regierung wird dann trotz ihrer Bemühungen nicht mehr imstande sein, die Forderungen zu befriedigen. Fast alle Revolutionen, von welchen die Geschichte spricht, lassen sich darauf zurückführen, daß rechtzeitige Reformen 3 versäumt worden sind.

Die gegenwärtigen Forderungen der Bergarbeiter auf 50 % Lohnerhöhung und nicht einmal 8 volle Stunden Arbeitsschicht sind übertrieben und unerfüllbar. Der Streik ist zum 1. Februar mit so ziemlicher Sicherheit zu erwarten; von einem Druck auf die Arbeitgeber zur Nachgiebigkeit kann füglich nicht mehr die Rede sein. Denn dieses mechanische Hilfsmittel würde nur dahin führen, daß nach einiger Zeit dasselbe Spiel von vorn wieder angeht.

Man muß sich bei dem bevorstehenden Arbeiterausstand auf alles gefaßt machen. Die Arbeiter haben seit dem letzten Mal vieles gelernt, sind besser organisiert und von sozialdem[okratischen] Agenten4 tüchtig bearbeitet worden. Überläßt man den [ Druckseite 475 ] Strike seinem Schicksal, wird es auch an Gewalttätigkeiten nicht fehlen, und es würden sich leider wohl genügend Anlässe vorfinden, aus denen auf die Leute geschossen werden müßte. Es wäre jedoch in jeder Hinsicht beklagenswert, wenn ich den Anfang meiner Regierung mit dem Blut meiner Untertanen färben müßte!5 Das so lange als möglich zu verhüten, ist mein sehnlichster Wunsch. Man würde mir das nie vergessen,6 und alle Erwartungen, die man in etwa in mich gesetzt hätte, würden ins Gegenteil umschlagen. In eine solche Zwangslage darf ich nicht und will ich nicht gebracht werden. Wer es also redlich mit mir meint, muß alles aufbieten, um ein solches Unglück zu verhüten. Ich würde in solchem Fall nur der Großindustrie zu Dank handeln;7 sie würde nach einem blutigen Zusammenstoß wohl auf einige Jahre vor den Forderungen ihrer Arbeiter Ruhe haben; jedoch nur auf einige Jahre, in denen sich noch mehr Haß und Grimm gegen Regierung und die Reichen ansammeln würde. Daher muß man Besonnenheit, Festigkeit und Maß halten! Durch dieses alles angeregt und aufgrund dessen, was ich mir durch den Verkehr mit Hintzpeter8 [sic!], Berlepsch9, Douglas10, H. v. Heyden11 an Material gesammelt habe,12 will ich einen Erlaß an das Staatsministerium mir vorlegen lassen, in welchem ich mein beifolgendes Programm entwickele und in welchem ich die Aufforderung ergehen lasse, nach Maßgabe dieser meiner Grundsätze unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen zu beraten und in Anwendung zu bringen.

Ich wünsche, daß der Erlaß in warmer13 und begeisterter Sprache gehalten werde, welche den Arbeitern zeigt, daß nach wie vor der König ein warmes Herz für sie habe, ihre wahren Bedürfnisse erkenne und auch gewillt sei, ihnen zu helfen.14 Zugleich muß aber der Erlaß damit schließen, daß den Arbeitern das Festhalten am Gesetz zur Pflicht gemacht wird unter Androhung, daß jede Ausschreitung auf das schärfste unnachsichtlich geahndet werden würde. Durch ein solches Vorgehen würde dem Strike der Boden entzogen werden; es wird dann leicht sein, mit den Arbeitern zu verhandeln,15 sobald das Wort und Programm des Kaisers vorliegt, daß und [ Druckseite 476 ] auf welche Weise ihren Beschwerden Abhilfe geschaffen werden soll.16 Sollte es trotzdem nötig werden, Truppen zur Aufrechterhaltung der Ruhe an sehr bedrohten Stellen einschreiten zu lassen ─ wenn die Gendamerie und Polizei sich machtlos zeigt17 ─, so wird die Maßregel doch an Härte verlieren, wenn zur gleichen Zeit eine Kommission zur Verwirklichung des von mir aufgestellten Programms tagt, und es wird dieses Vorgehen nicht als unverständige Nachgiebigkeit ausgelegt werden, wenn man sieht, daß die Regierung nicht zögert, für strenge Aufrechterhaltung der Sicherheit Vorsorge zu treffen. Die Arbeiter haben eben Bedürfnisse,18 die befriedigt werden können und müssen.19

Registerinformationen

Regionen

  • Sachsen, Königreich

Personen

  • Albert (1828–1902) , König von Sachsen
  • Berlepsch, Hans Freiherr von (1843–1926) , Regierungspräsident in Düsseldorf; später: Oberpräsident der Rheinprovinz; später: preußischer Handelsminister
  • Douglas, Hugo Sholto Graf von (1837–1912) , Bergwerksbesitzer in Aschersleben, MdPrAbgH (freikonservativ)
  • Fabrice, Alfred Graf von (1818–1891) , sächsischer Außenminister
  • Heyden, August von (1827–1897) , Lehrer an der Hochschule für die bildenden Künste in Berlin
  • Hinzpeter, Dr. Georg (1827–1907) , Philologe, Geheimer Regierungsrat in Bielefeld, Erzieher Wilhelm II.
  • Nostitz-Wallwitz, Hermann von (1826–1906) , sächsischer Innen- und Außenminister

Sachindex

  • Arbeiterschutz
  • Bundesrat
  • Frauenarbeit
  • Polizei
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Sachsen
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Soldaten
  • Sonntagsruhe
  • 1BArch R 43 Nr. 432, fol. 57─58 Rs. u. fol. 71; im Faksimile veröffentlicht: Ein Jahrhundert Deutscher Geschichte, Reichsgedanke und Reich 1815─1919, Berlin 1928, Nr. 73.Grundlage dieser Ausarbeitung Wilhelm II war der Brief Dr. Paul Kaysers an Graf zu Eulenburg und Hertefeld vom 19.1.1890 (vgl. Nr. 105), den letzterer in Abschrift am 20.1. an Wilhelm II. übersandte (vgl. Nr. 106). Wilhelm II. hat diesen Brief ─ stilistisch nur leicht bearbeitet ─ fast wörtlich in seine Ausarbeitung übernommen. Weggelassen hat Wilhelm II. Anfang und Ende des Briefs und einen Satz Paul Kaysers über die Niederschlagung des badischen Aufstands von 1849 durch (den seinerzeitigen „Prinzen von Preußen“) Wilhelm I. Inhaltlich relevante Ergänzungen bzw. Abänderungen Wilhelm II. haben wir in Fußnoten annotiert. Vgl. auch die Annotation des Briefs Kaysers (Nr. 105). »
  • 2„durch den Einfluß der Anarchisten und Sozialisten“ von Wilhelm II. ergänzt. »
  • 3Bismarck: trop tard. »
  • 4Bei Paul Kayser: Agitatoren. »
  • 5Bismarck: schon geschehen? »
  • 6Bismarck: doch! »
  • 7Bismarck: ? »
  • 8Nach der Aufzeichnung im „Journal des diensthabenden Flügeladjutanten“ war Dr. Hinzpeter zuletzt am 11.1.1890 von Wilhelm II. empfangen worden (GStA Berlin BrPrHA Rep. 53 [M] F III b Nr. 2, fol. 141). »
  • 9Hans Freiherr von Berlepsch (1843─1926), 1883─1889 Regierungspräsident in Düsseldorf, seit Oktober 1889 Oberpräsident der Rheinprovinz. Nach der Aufzeichnung im „Journal des diensthabenden Flügeladjutanten“ war Freiherr v. Berlepsch am 13.1.1890 von Wilhelm II. empfangen worden (GStA Berlin BrPrHA Rep. 53 [M] F III b Nr. 2, fol. 141). »
  • 10Hugo Sholto Graf von Douglas (1837─1912), Bergbauindustrieller in Aschersleben, seit 1882 MdPrAbgH (freikonservativ), 1888 Gründer des Kalikartells. Nach der Aufzeichnung im „Journal des diensthabenden Flügeladjutanten“ war Graf Douglas zuletzt am 20.1.1890 von Wilhelm II. empfangen worden (GStA Berlin BrPrHA Rep. 53 [M] F III b Nr. 2, fol. 143 Rs.). »
  • 11August von Heyden (1827─1897), zunächst Verwaltungschef der Bergwerke des Herzogs von Ujest in Oberschlesien, ab 1859 Maler, seit 1882 Lehrer an der Hochschule für die bildenden Künste in Berlin. »
  • 12Ab „durch dieses alles“ von Wilhelm II. ergänzt. »
  • 13Bei Paul Kayser: schöner. »
  • 14Bismarck: Worte tun‘s beim Arbeiter nicht, nur Lohn und Zeit »
  • 15Bismarck: ? »
  • 16Bismarck: Durch Verbote zu arbeiten? u. ihre Frauen Geld verd(ienen) zu lassen? »
  • 17„wenn die Gendamerie und Polizei sich machtlos zeigt“ von Wilhelm II. ergänzt. »
  • 18Bismarck: an Geld u. Zeit. »
  • 19Der letzte Satz geht nicht auf den Brief Paul Kaysers zurück. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 109, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0109

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