Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

Eine chronologische Auflistung der Quellen über alle Bände hinweg ist als PDF verfügbar.

Abteilung II, 1. Band

Nr. 104

1890 Januar 16

Bericht1 des Gesandten Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim2

Ausfertigung, Teildruck

Bericht über Differenzen zwischen Wilhelm II. und Bismarck; der geplante sächsische Arbeiterschutzantrag ist von Wilhelm II. initiiert

[...]

Die letztere Differenz liegt auf dem Boden des sogenannten Arbeiterschutzes. Wie Euer Exzellenz bekannt ist, beschließt der Reichstag alljährlich fast mit Einstimmigkeit Gesetzentwürfe über Sonntagsheiligung, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit usw., die regelmäßig nach Vorschlag Preußens vom Bundesrat abgelehnt werden. Herr von Boetticher, der auf dem Standpunkt steht, daß die verbündeten Regierungen schon aus politischen Gründen Anlaß hätten, dem Reichstag und der öffentlichen Meinung einige Konzessionen auf diesem Gebiet zu machen, versucht seit Jahren, den Reichskanzler für diese seine Ansicht zu gewinnen. Dieser hat aber schon seit geraumer Zeit das früher so rege Interesse an sozialen Gesetzen verloren und lehnt es beharrlich ab, seine Zustimmung zu irgendwelcher legislatorischen Maßregel auf diesem Gebiet zu geben. Damit scheint allerdings nicht übereinzustimmen, daß der Reichskanzler im verflossenen Jahr das Arbeiterinvalidengesetz im Reichstag vertreten hat.3 Aber man wird annehmen dürfen, daß damals mehr die persönliche Rücksicht auf Herrn von Boetticher, der anderenfalls sein Amt niedergelegt hätte, als das Interesse an der Sache bestimmend gewesen ist. Vom Arbeiterschutz will aber der Fürst entschieden nichts wissen, weil er alle damit verbundenen Beschränkungen als eine Gefahr für die nationale Arbeit betrachtet.

Die Vorgänge in den Kohlenbergwerken scheinen nun den Kaiser dahin geführt zu haben, daß er sich mit dem Los der Arbeiter überhaupt beschäftigt und daß die Frage des Arbeiterschutzes zur Zeit in den Vordergrund seiner Interessen gerückt ist.

Neuere Versuche Herrn von Boettichers, den Reichskanzler zu einer Initiative auf diesem Gebiet zu bewegen, scheinen ohne Erfolg gewesen zu sein,4 und so ist es gekommen, daß der Kaiser, der nicht leicht eine einmal gefaßte Idee aufgibt, sich nach einem anderen Weg umgesehen hat, um zum Ziel zu kommen. Dieser, unter den gegebenen Verhältnissen gewiß denkbar merkwürdigste, ist, daß der Kaiser den aus Anlaß der Leichenfeier5 hierher gekommenen Fürsten, insbesondere den König von Sachsen und den Großherzog von Baden, für die Angelegenheit interessiert und [ Druckseite 467 ] an den König von Sachsen die ausdrückliche Bitte gestellt hat, daß Sachsen einen Gesetzentwurf über Arbeiterschutz im Bundesrat einbringe.

Da der Kaiser auf seiner Bitte bestand und zudem die sächsische Regierung einer gesetzlichen Regelung der Materie prinzipiell zustimmt, so hat König Albert6 das Ansinnen nicht abgelehnt und die Einbringung eines diesbezüglichen sächsischen Antrags zugesichert. Ich kann beifügen, daß die sächsischen Ministerien bereits an der Arbeit sind und daß, wenn kein Zwischenfall eintritt, in naher Zeit der Entwurf dem Bundesrat vorliegen wird.

Wie der Reichskanzler die Tatsache aufgenommen hat, daß sein Souverän einen Gesetzentwurf, der seiner, des Reichskanzlers, Auffassung zuwiderläuft, bei einem anderen Bundesfürsten bestellt, ist noch nicht bekannt. Ich vermute aber, daß die gestrige Reise7 des Grafen Herbert Bismarck8 mit der Sache in Verbindung steht und daß man nach der heute stattfindenden Rückkehr des Staatssekretärs bald näheres darüber erfahren wird.

Man glaubt hier übrigens nicht, daß der Reichskanzler aus dieser Angelegenheit eine Kabinettsfrage machen wird, dazu scheint sie weder groß genug, noch bietet sie einen allgemein verständlichen, wenn ich so sagen darf, populären Anlaß. Ebensowenig glaubt man, daß der Kaiser die Dinge zum Äußersten kommen lassen will; ja, ich habe sogar Grund anzunehmen, daß Seine Majestät den Schritt nicht getan hätte, wenn er nicht überzeugt wäre, daß der Reichskanzler schließlich nachgibt. Aber immerhin zeigt der Vorfall, wie schwierig das Verhältnis zwischen einem jungen, tatendurstigen Kaiser und einem gesättigten, allen neuen Unternehmungen abgeneigten ersten Minister ist. [...]

[ Druckseite 468 ]

Registerinformationen

Orte

  • Friedrichsruh (Kreis Herzogtum Lauenburg)

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849–1904) , Sohn und Mitarbeiter Otto von Bismarcks, Staatssekretär im Auswärtigen Amt
  • Eulenburg und Hertefeld, Dr. Philipp Graf zu (1847–1921), , preußischer Gesandter in Oldenburg, Braunschweig, Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe
  • Holstein, Friedrich von (1837–1909) , Wirklicher Geheimer Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Kayser, Dr. Paul (1845–1898) , Geheimer Legationsrat im Auswärtigen Amt

Sachindex

  • Arbeitgeber
  • Arbeitszeit
  • Bergarbeiter
  • Bergarbeiterstreik
  • Februarerlasse
  • Lohn
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Revolution
  • Staatsministerium, preußisches
  • Streik
  • 1Ausfertigung: BayHStA München MA Nr. 692, n. fol.; Entwurf: BayHStA München Bayerische Gesandtschaft Berlin 1060, n. fol. »
  • 2Krafft Freiherr von Crailsheim (1841─1926), seit 1889 bayerischer Außenminister. »
  • 3Am 18.5.1889 sprach Bismarck am zweiten Tag der dritten Reichstagslesung des Altersund Invaliditätsversicherungsgesetzes. Es war dies die letzte Reichstagsrede Bismarcks (Sten.Ber. RT 7. LP IV. Session 1888/1889, S. 1831─1836); vgl. Nr. 143 Bd. 6 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 4Vgl. Nr. 95. »
  • 5Begräbnis der Kaiserwitwe Augusta am 11.1.1890. »
  • 6Albert (1828─1902), seit 1873 König von Sachsen. »
  • 7Nach Friedrichsruh. »
  • 8Herbert Graf von Bismarck war seit 1886 Staatssekretär des Auswärtigen Amts. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 104, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0104

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.