Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 94

1889 Dezember

Denkschrift1 des Geheimen Regierungsrats Dr. Georg Hinzpeter für Kaiser Wilhelm II.

Ausfertigung

Populärhistorische Ausführungen über die Entstehung der Arbeiterbewegung in Deutschland; Schlußplädoyer für eine organisierte Arbeiterbewegung

In Deutschland macht sich zuerst in den 40er Jahren die umwälzende Wirkung der Großindustrie geltend, indem ihre vernichtende Konkurrenz das Kleingewerbe in Bedrängnis bringt. Es entsteht eine protestierende, klagende Bewegung unter den Handwerkern, welche aber teils wegen der fesselnden Beschränkungen der Gesetze, teils wegen gänzlichen Mangels an Energie in der verkommenen, gedrückten Klasse der Gewerbtreibenden ohne jedes Resultat bleibt. Von sozialistischen Ideen zeigt sich noch keine Spur; diese gehen nur bei den gebildeten Klassen um durch geheimes Lesen verbotener französischer kommunistischer Schriften. Auch die Revolution von 1848 bringt nur Ausbrüche von doktrinär kommunistischem Fanatismus in publizistischen Ankündigungen des bevorstehenden Vernichtungskampfs gegen das Kapital in französisch-internationaler Färbung und dem Ruf: Proletarier aller Länder vereinigt Euch! Aber die noch wenig zahlreichen erregbaren Proletarier in Deutschland hören noch nicht darauf; höchstens daß sie hier und da eine Maschine zerschlagen, die ihnen noch ganz als Feindin, als Arbeitsräuberin gilt.

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In den 50er Jahren bemüht sich dann die liberale Partei in ihrem Bedürfnis nach Popularität um die Not der sog. kleinen Leute und zeigte ihnen allerlei in England

erlernte kleine Mittel, gegen die wachsende Übermacht des Kapitals ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zu verteidigen. Unter Leitung von Schulze-Delitzsch entstanden zahlreiche Konsum-, Rohstoff- und Kreditvereine.

Inzwischen nahm auch in Deutschland die Großindustrie in tragischem Wachstum zu, zog Tausende aus den Werkstätten und vom Land in ihre Fabriken und schuf so auch hier eine eigentliche Arbeiterschaft als neue soziale Klasse von noch unbestimmter Färbung und Stellung. Dieselbe ist ganz unfähig, sich eine solche behaglich zu schaffen, denn ihre Abhängigkeit von dem Kapital, welches die noch sehr beschränkte Arbeitsgelegenheit schafft, ist unbeschränkt. Dieses benutzt denn auch seine Macht zu rücksichtslosester Ausbeutung der Arbeitskraft, zumal da die übermächtige ausländische Konkurrenz ihm die Eroberung auch nur des inländischen Marktes sehr schwer macht. Die Spinner und Weber des Wuppertals aber, die sich um Mittag ihren Eßtopf um den Leib schnallen müssen, um nicht unnütze Zeit beim Essen zu verlieren, konnten nicht Energie des Denkens und Wollens genug haben, um die neue Stellung, welche in der Großindustrie der Arbeit dem Kapital gegenüber geschaffen war, behaglich und würdig zu gestalten. Die Arbeitnehmer also können sich nicht selbst vorwärts oder aufwärts helfen; die Arbeitgeber aber waren vollständig absorbiert von ihrem schwierig und zweifelhaft bleibenden Gewinn. Sie glaubten in den Arbeitern lediglich Produktionsinstrumente sehen zu dürfen, welche dann als sog. freie Männer für ihr persönliches Gedeihen allein verantwortlich sein müßten. Die Regierung ihrerseits glaubte sich weder prinzipiell zum Schaffen eines neuen Arbeitsrechts für die neue Stellung der Arbeit berufen, noch zeigte sie besonderen Eifer in der Betätigung ihrer traditionellen Funktion allgemeiner Überwachung der Volksentwicklung wie der Fürsorge für die schwächeren Volksglieder insbesondere.

Es war also das Terrain frei und günstig für eine demagogische Agitation. Kaum zeigen sich deshalb unter den deutschen Arbeitern die ersten Spuren eigener Bewegung und eigentümlichen Lebens, so tritt (1863) Lassalle, der jüdisch-kosmopolitische Rentier und Gelehrte als Apostel eines neuen Arbeiterevangeliums auf. Nach diesem gibt es nur ein Mittel, aber auch ein untrügliches, den Arbeitern eine befriedigende und menschenwürdige Stellung zu schaffen. Dies besteht einfach darin, daß sie selbst Unternehmer werden. Dazu braucht ihnen der Staat nur die nötigen Millionen vorzustrecken; und damit der Staat dies tue, brauchen die Arbeiter, welche ja eigentlich das ganze Volk bilden, ihre Macht zu benutzen. Um das zu können, haben sie nur das allgemeine Stimmrecht nötig; also mit diesem ist alles getan. So wurden den deutschen Arbeitern, ehe sie sich nur selbst besinnen konnten, die ersten Begriffe von moderner Volkswirtschaft, von ihrer eigenen Rolle in derselben, von ihrer Macht und Bedeutung für Staat und Gesellschaft gegeben von einem politischen Demagogen, der systematisch den Haß gegen das Bestehende predigte und schleunigen Ersatz desselben durch phantastische Neuschöpfungen vorspiegelte. Der erste deutsche Arbeiterverein, der sich reißend schnell über das ganze Land ausbreitete, hatte lediglich politische Agitation zum Zweck und Erfolg. Dadurch ist der deutschen Arbeiterwelt von vornherein der Geschmack verdorben und der Kopf verdreht; statt auf allein mögliches langsames Verbessern ihrer Lage durch eigene Anstrengung, ist ihr Sinn gerichtet worden auf eine unmögliche plötzliche Umgestaltung der Welt durch eine radikale Revolution. Verstärkt wurde dann diese falsche Stimmung und Richtung noch durch das Auftreten der sog. Internationale, einer Vereinigung [ Druckseite 448 ] der radikalen Elemente aller Staaten Europas mit ihren noch phantastischeren Anschauungen und Zielen.

Ernsthafte, praktische Bestrebungen nach Verbesserung und Sicherung ihrer Lage, namentlich nach Erlangung der praktischen Gleichstellung von Kapital und Arbeit bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen waren unter den deutschen Arbeitern infolge dieser Verkehrtheit des Fühlens und Denkens sehr gering; sie blieben auch gering, als 1869 die Aufhebung des Koalitionsverbots ihnen volle Freiheit ihrer Bewegung verschaffte.2 Statt von realisierbaren Plänen und verständigen Forderungen sind sie von radikalen Träumen und leidenschaftlichen Gefühlen erfüllt. Die nun von der liberalen Partei aus England importierten Gewerkvereine erringen nur sehr wenig Erfolg und Einfluß, während die in Haß und Unvernunft maßlose sozialdemokratische Presse und Propaganda ihre Herrschaft über die Arbeiterwelt immer mehr erweitert und befestigt. Bleibt auch die Masse der älteren Arbeiter ─ unentwickelt, arm und abhängig, wie sie sich fühlen ─ bewegungslos, so sind doch die beweglicheren, intelligenteren Elemente gewonnen, und von diesen gehen Lehre und Gesinnung über auf die allmählich als Ersatz eintretende Jugend. Denn innerhalb der Arbeiterwelt existiert kein Gegengewicht gegen diese nun einmal vorhandene Strömung; jede wirtschaftliche Einsicht und jede politische Disziplin fehlt; also können ökonomischer Unsinn und politische Zügellosigkeit die Oberhand gewinnen und behalten.

Als dann 1878 das Sozialistengesetz gegeben wurde, konnte dasselbe doch die innere Propaganda, welche in der Werkstatt oder Fabrik, im Wirtshaus und in der Familie vor sich geht, nicht aufhalten, sie ging und geht ruhig fort und ist ihres Erfolgs der endlichen Verkehrung des Geistes der ganzen Arbeiterwelt ziemlich sicher.

Gegen diese allgemein herrschende Epidemie gibt es nur das eine Heilmittel des Gesundens der Arbeiterwelt im Denken und Empfinden, indem sie zurückgebracht wird von Leidenschaft und Phantasterei zu verständiger Reflexion und richtigem Erfassen der Wirklichkeit. Dies kann aber nur dadurch geschehen, daß sie dahin gebracht wird, die Möglichkeit und Nützlichkeit einer allmählichen Verbesserung ihrer Lage zu verstehen, den Wunsch danach zu fühlen und das Streben danach zu würdigen. Dies würde dann von selbst ein Verlangen nach Einsicht in die reellen Bedingungen der Produktion wie der augenblicklichen Lage der Industrie hervorrufen. Und damit wäre schon die Bekehrung zur Nüchternheit und Billigkeit angebahnt.

Solche Bestrebungen können aber nur lebendig werden in einer fest organisierten Arbeiterschaft, welche in ihrer Organisation die Macht findet, verständige und billige Forderungen durchzusetzen und damit die Garantie hat, daß ihre Lage sich so behaglich und würdig gestalten wird, wie immer die Entwicklung der Volkswirtschaft und des Volkslebens es gestattet. Nur das Eintreten in eine Bahn mit unmittelbar praktischen erreichbaren Zielen wie Lohnerhöhungen, Arbeitszeitermäßigungen, Arbeiterschutzmaßregeln usw. kann die Arbeiterschaft abwenden von dem Verfolgen der falschen Bahn des Verdammens jedes Lohnverhältnisses, des Verlangens nach unverständiger Produktionsbeschränkung u. dgl. m. Eine feste, wirksame Organisation, welche der Arbeiterschaft, d. h. der Arbeit dem Kapital als ebenbürtig gegenüberstellt, wird auch neben allem äußeren Gewinn den Arbeitern zu ihrer inneren Befriedigung das Bewußtsein der rechten Ehre und Würde der Arbeit geben, wie sie deren Anerkennung des anderen erwerben oder erzwingen wird.

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Registerinformationen

Regionen

  • England
  • Preußen

Orte

  • Berlin
  • Friedrichsruh (Kreis Herzogtum Lauenburg)
  • Trachenberg/Schlesien (Kreis Militsch)

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Lassalle, Ferdinand (1825–1864) , Schriftsteller, Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
  • Schulze-Delitzsch, Dr. Hermann (1808–1883) , Kreisrichter a. D. in Potsdam, Begründer der deutschen Genossenschaftsbewegung, MdPrAbgH, MdR (Fortschritt)
  • Wilhelm H. (1859–1941) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Agitation
  • Arbeiterschutz
  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeitgeber
  • Arbeitszeit
  • Bundesrat
  • Demagogie
  • Evangelium
  • Fabrik
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Gastwirtschaften
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Gewerkvereine
  • Juden
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kinderarbeit
  • Koalitionsfreiheit
  • Konsumvereine
  • Landtag
  • Landtag – preußischer
  • Lohn
  • Parteien
  • Parteien – Liberale
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Revolution
  • Revolution – 1848/49
  • Sonntagsruhe
  • Staatsministerium, preußisches
  • Thronreden
  • Thronreden – 15.1.1890
  • Weber
  • Wirtschaftsliberalismus
  • 1GStA Berlin I. HA Rep. 89 Nr. 29959, fol. 142─144a Rs.Wilhelm II. ließ die Denkschrift Hinzpeters dem preußischen Innenminister Ludwig Herrfurth übergeben, der diese am 24.12.1889 v. Boetticher zuleitete: Ew. Exzellenz beehre ich mich beifolgend Abschrift eines mir im Auftrag Seiner Majestät des Kaisers durch den Flügeladjutanten vom Dienst übermittelten Promemoria des Geheimen Regierungsrats Dr. Hintzpeter (sic!) zu Bielefeld über die Arbeiterbewegung zur gefälligen vertraulichen Kenntnisnahme ganz ergebenst zu übersenden (Ausfertigung: BArch N 1025 [Boetticher] Nr. 57, n. fol.). Von Boetticher wiederum übersandte die Abschrift der Denkschrift mit Schreiben vom 3.1.1890 an den Chef der Reichskanzlei Dr. Franz v. Rottenburg (Ausfertigung: BArch R 43 Nr. 1084, fol. 153─153 Rs.). Von Rottenburg legte Bismarck die Denkschrift Hinzpeters jedoch nicht vor und nahm sie ohne weitere Bearbeitungsvermerke zu den Akten der Reichskanzlei. Von Rottenburg schrieb am 5.1.1890 an v. Boetticher: Das Hintzpetersche (sic!) Elaborat habe ich S(einer) D(urchlaucht) nicht gezeigt; es erschien mir zu einfach (BArch N 1025 [Boetticher] Nr. 48, n. fol.). Herrfurth übermittelte eine Abschrift der Denkschrift ebenfalls am 24.12.1889 an das preußische Handelsministerium, wo sie ohne weitere Veranlassung zu den Akten genommen wurde (GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB VII 1 Nr. 3 Bd. 1 ad., fol. 72─76 Rs.). Gleichwohl war der Reichskanzler über Hinzpeters Beratertätigkeit informiert. Am 6.1.1890 schrieb der preußische Landwirtschaftsminister Robert Freiherr Lucius v. Ballhausen an Bismarck in einem als vertraulich gekennzeichneten Schreiben: In der Behandlung der Strikebewegungen u. der Arbeiterfrage läßt sich Seine Majestät offenkundig nicht von den zuständigen Ressortministern, sondern von Herrn Hintzpeter (sic!) beraten (Ausfertigung von der Hand v. Lucius‘ mit Randbemerkungen Bismarcks: BArch N 1025 [Boetticher] Nr. 76, n. fol.). Bismarck hierzu in einer Randbemerkung: Richtig, aber doch nicht tanti. »
  • 2§ 152 der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869 (BGBl, S. 245); vgl. Nr. 14 Bd. 4 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 94, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0094

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