Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 93

1889 [November]

Aufzeichnungen1 des Geheimen Oberregierungsrats im Reichsamt des Innern Theodor Lohmann

Niederschrift

Grundlegende Kritik der Bismarckschen Arbeiterpolitik; eine Hebung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung der Arbeiter ist notwendig; die bisherige Gesetzgebung ist zur Aussöhnung der Arbeiterschaft nicht geeignet

Sozialpolitisches

Die gegenw [ärtige] herrschende Produktionsordnung wird über kurz od[er] lang eines anders machen müssen. Welche Ordnung an ihre Stelle treten wird, kann niemand [ Druckseite 443 ] voraussagen. Die neue Ordnung wird das Ergebnis der gesch[ichtlichen] Entwicklung sein, in welcher wir stehen. Gewiß scheint nur, daß die Entwicklung dahin gehen wird, der Arbeiterklasse einen größeren Anteil an den Ergebnissen der Produktion und einen bestimmenderen Einfluß auf ihre Gestalt einzuräumen. Eine gesunde Sozialpolitik muß dahin gehen, die Arbeiterklasse auf diejenige Höhe der geistigen u. sittlichen Bildung zu heben, welche erforderlich ist, um sie zu befähigen, die ihr voraussichtlich künftig zufallende Stellung ohne Gefahr für die Erhaltung u. d[en] Fortschritt der Kultur einzunehmen und ferner d[ie] Entwicklung so zu leiten, daß die Umwandlung sich auf dem Wege der Reform u. nicht der Revolution vollzieht.

Dazu ist erforderlich, zur Hebung der wirtschaffl[ichen] und gesellschaftl[ichen] Lage der Arbeiter alles dasjenige zu tun, was auf d[er] Grundlage der bestehend[en] gesellschaftl[ichen] Ordnung möglich ist.

1. Wirtschaftl[ich]. Der Staat kann nicht direkt in d[ie] Bemessung des Lohnes eingreifen zu dem Zweck, um die durch die Masch[inen]arbeit erhöhte Produktion auch dem Arbeiter zugute kommen zu lassen, er kann dies aber indirekt, indem er die Arbeitszeit begrenzt und dadurch d[en] Wert der menschl[ichen] Arbeit erhöht. Also: Maximalarbeitstag mit d[er] Möglichkeit d[er] Anpassung a[n] d[ie] Besonderheit der verschiedenen Industriezweige, Beschränkung der Nachtarbeit auf die durch techn[ische] Eigentümlichkeiten begründeten Fälle der Notwendigkeit; ebenso der Sonntagsarbeit.

Ferner energische Maßregeln zur Besserung der Wohnungsverhältnisse als Grundlage einer geordneten Hauswirtschaft u. der Erziehung des Arbeiters zu einer rationellen Entwicklung seiner wirtschaftl[ichen] Bedürfnisse.

2. Sittlich. Die Gesetzgebung über d[ie] Arbeitszeit wird neben d[en] wirtschaftl[ichen] die Folge haben, dem Arbeiter eine geregelte Mußezeit und damit die Voraussetzung zu einer höheren Entwicklung der geistig[en] u. sittl[ichen] Bildung zu sichern ─ Mißbr[auch] der Muße nicht ausgeschlossen, aber ohne d[ie] Mögl[ich]k[ei]t des Mißbrauchs kein Fortschritt. Die Mußezeit in Verbindung mit einer ausr[eichenden] Wohnung ermöglicht erst wieder ein wirkl[iches] Familienleben und damit eine Quelle der Befriedigung, welche nicht unbedingt v[on] d[em] Maß der materiellen Mittel abhängig ist, und zugl[eich] d[as] wirksamste Mittel geg[en] den Durst nach materiellen Genüssen bildet. Dazu muß eine sorgsame geistige u. sittl[iche] Pflege mit denjenigen Mitteln kommen, welche Staat, Kirche und freie Tätigkeit bieten können.

Polit[isch] und Sozial. Eine relative Befriedigung unserer Arbeiterwelt und gleichermaßen eine Erziehung derselben zu einer dem Gemeinwohl förderlichen Gebrauch ihrer Kraft ist nicht möglich, wenn dem Streben nach Gleichberechtigung und selbsttätiger Wahrnehmung ihrer Interessen nicht in ehrlicher Weise Rechnung getragen wird. Eine Volksklasse, welche in immer weiteren Schichten v[on] d[em] Bewußtsein des Bestehens großer gemeins[chaftlicher] Interessen u. von dem elementaren Drang, in der Gesellschaft eine höhere Stufe zu erlangen, erfüllt wird, kann man, ohne die Gefahr revolut[ionärer] Ausbrüche heraufzubeschwören, auf die Dauer nicht v[on] d[em] Recht, ihre Interessen im Wege der genossenschaftl[ichen] Vereinigung wahrzunehmen, ausschließen. Dem Verlangen der Arbeiter, in dieser Beziehung tatsächlich auf gleichem Fuß mit den übrigen Volksklassen behandelt zu werden, wird man niemals durch irgendwelche gesetzl[ichen] Zwangsorganisationen Befriedigung gewähren. Es kann das nur geschehen durch Schaffung eines Vereinsrechts, [ Druckseite 444 ] welches den Arbeitern die Möglichkeit bietet, in freien Vereinigungen ihre Interessen zu erörtern, ihre Wünsche, soweit es sich um Gesetzgebung handelt, z[um] Ausdr[uck] zu bringen, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, daß die Beschäftigung mit öffentl[ichen] od[er] polit[ischen] Angelegenheiten zur Handhabe einer polizeilichen Maßregelung wird, welche man den herrschenden Klassen gegenüber nicht zur Anwendung bringt.

Eine der schlimmsten Folgen des Soz[ialisten]gesetzes [ist], daß es auch zur Unterdrückung eines berechtigten u. gesunden genossenschaftlichen Vereinslebens der Arbeiter geführt und damit v[on] Jahr zu Jahr größere Arbeitermassen in d[ie] Bahn einer die Öffentlichkeit vermeidend[en] Vereinstätigkeit gedrängt hat.

Die neuere soz[ial]pol[itische] Gesetzgebung ist durchaus nicht geeignet, die Arbeiter zu versöhnen und einen erziehend[en] Einfl[uß] auf sie auszuüben, welcher sie fähig macht, bei der Überführung der bestehenden gesellschaftl[ichen] Ordnung in eine neue mitzuwirk[en], ohne in ein revolutionäres Treiben zu verfallen.

Die ganze Versicherungsgesetzgebung verfolgt die Tendenz, unter Aufrechterhaltung des bestehenden Herrschaftsverhältnisses eine Zufriedenheit der Arbeiter dadurch herbeizuführen, daß man ihnen gewisse Wohltaten erweist. Die Mittel zu diesen Wohltaten werden teils durch die zwangsweisen Beiträge der Arbeiter, teils durch die den Arbeitgebern auferlegten Leistungen, teils endlich durch die Verwendung öffentlicher Mittel beschafft.

Abgesehen davon, daß es sich bei allen Versicherungsgesetzen nur um die Verbesserung der zeitweise oder dauernd Erwerbsunfähigen handelt, die erwerbsfähigen Arbeiter aber in ihrer Lage dadurch nicht gehoben, vielmehr durch d[ie] Zwangsbeiträge noch geschädigt werden, lassen dieselben das erziehende Element nur deswillen vermissen, weil jene Wohltaten, soweit sie nicht aus den Beitr[ägen] der Arbeiter selbst folgen, als Geschenke erscheinen und dadurch in dem Arbeiter die Anschauung nähren, daß der Staat verpflichtet sei, einen Zustand zu schaffen, welcher dem Arbeiter, unabhängig v[on] seiner eigenen Anstrengung eine befriedigende wirtschaftliche Lage sichert. Der Verlauf der Vers[icherung]sgesetzgebung zeigt aufs deutlichste, in welchem Maß durch d[en] Wetteifer der Regierung u. der parlamentar[ischen] Parteien, einander in Arbeiterfreundlichkeit zu überbieten, die Begehrlichkeit der Arbeiter gewachsen. Man braucht sich nur vergegenwärtigten, mit welcher Sorgfalt in der ersten Vorlage des Unfallversicherungsgesetzes2 das Maß der Heranziehung der Arbeitgeber zu Beiträgen neben den Arbeitern gerechtfertigt und mit welcher Zaghaftigkeit das Eintreten des Staates für diejenigen Arbeiter, welche man für unfähig erachtete, Beiträge zu leisten, gefordert und mit welcher Entschiedenheit diese Forderung von der überwältigenden Mehrheit des Reichstags ─ nur d[ie] Soz[ial]dem[okraten] erklärten sich dafür ─ zurückgewiesen wurde und wie rasch man dahin gelangt ist, die Last der Unfallversicherung den Arbeitgebern allein aufzubürden u. f[ür] die Alters- und Invalidenversicherung einen erheblichen Beitrag aus Reichsmitteln zu gewähren, und mit welcher Kühle die Arbeiterkreise ─ soweit sie in der soz[ial]polit[ischen] Entwicklung überhaupt eine aktive Rolle spielen ─ diese Opfer als eine Abschlagszahlung auf viel weitergehende Forderungen hingenommen haben, um sich zu sagen, daß auf diesem Wege eine Versöhnung der Arbeiter nicht zu erreichen ist. Nicht durch Geschenke wird man die Begehrlichkeit der [ Druckseite 445 ] Arbeiter befriedigen, man wird sie dadurch nur immer mehr steigern, weil die Vermehrung der materiellen Befriedigungsmittel überhaupt nicht Zufriedenheit, sondern wachsendes Begehren erzeugt, zumal wenn jene Vermehrung nicht mehr durch eigene Anstrengung bedingt ist. Wirkliche Befriedigung ist nur zu erreichen durch eine Reform der Rechtsordnung, welche die Anstrengungen des einzelnen für ihn wirksamer macht, verbunden mit einer Pflege der sittlichen Güter, welche eine von dem Maß der materiellen Mittel relativ unabhängige Befriedigung gewähren.

Diese höhere Befriedigung ist für d[ie] Masse unseres Volkes nur auf d[er] Grundlage eines gesunden Familienlebens zu erreichen, und das ist der weitere Vorwurf, welcher der neueren polit[ischen] Gesetzgebung zu machen ist, daß sie die Gesundung des Familienlebens unserer Arbeiter nicht gefördert, sondern die Maßnahmen zur Herbeiführung derselben erschwert hat. Unter gesunden Verhältnissen ist es die Aufgabe der Familie, die zeitweilig erwerbsunfähig werden[den] Glieder so lange zu unterhalten, bis sie wieder erwerbsfähig werden und namentlich den durch Alter oder Invalidität dauernd erwerbsunfähig werdenden durch Gewährung des nötigen Unterhalts den Dank für das abzutragen, was sie während der Zeit der Erwerbsfähigkeit für die heranwachsenden Glieder der Familie geleistet haben. Das Bedürfnis nach dieser gegenseitigen Hilfe und das Bewußtsein der Verpflichtung zur Leistung derselben gehört zu den wesentlichen Grundlagen, auf denen der Familiensinn und das Familienglück erwachsen. Wo die Kraft der Familie nicht mehr ausreicht, sollen allerdings die zunächst über ihr stehenden Gemeinschaftsbildungen: die Genossenschaft, die kirchl[iche] u. d[ie] bürgerl[iche] Gemeinde eintreten. Sie bilden eben mit der Familie zusammen die „realen Mächte des christlichen Volkslebens“, welchen d[ie] Allerh[öchste] Botschaft v[om] 17. Nov[ember] 1881 eine so große Bedeutung für d[ie] soz[iale] Reform beilegt. Wenn man aber die Funktionen, welche diesen Grundordnungen des christl[ichen] Volkslebens zukommen, wie es z[um] Teil schon im Krankenversicherungsgesetz und in steigendem Maß in den Unfallversicherungsgesetzen geschehen ist, auf große Zwangsanstalten überträgt, welche lediglich durch die Macht des Gesetzes begründet und erhalten werden und schon wegen ihrer örtlichen Ausdehnung und der Verschiedenheit der in ihnen vereinigten Elemente nicht die Fähigkeit besitzen, ein genossenschaftliches Leben zu wecken u. zu pflegen3, so gibt es kaum einen Weg, auf welchen man die realen Mächte des christlichen Volkslebens gründlicher außer Tätigkeit setzen könnte. Die neue Invaliditätsversicherung hat vollends jede Spur einer genossenschaftlichen Organisation, welche ein persönliches Band unter den Beteiligten herstellen könnte, abgestreift.

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Registerinformationen

Orte

  • Bielefeld

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Herrfurth, Ernst Ludwig (1830–1900) , preußischer Innenminister
  • Hinzpeter, Dr. Georg (1827–1907) , Philologe, Geheimer Regierungsrat in Bielefeld, Erzieher Wilhelm II.
  • Lucius von Ballhausen, Freiherr Dr. Robert (1835–1914), preußischer Landwirtschaftsminister
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845–1907) , Chef der Reichskanzlei
  • Wilhelm H. (1859–1941) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeitervertretung, Ältestenkollegien
  • Arbeitgeber
  • Arbeitszeit
  • Begehrlichkeiten
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Christentum
  • Familie
  • Gemeinden, Kommunen
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Handelsministerium, preußisches
  • Handwerk, Handwerker
  • Kommunismus
  • Korporationen
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Lohn
  • Maschinen
  • Nachtarbeit
  • Normalarbeitstag
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Polizei
  • Reichskanzlei
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Revolution
  • Revolution – 1848/49
  • Sittlichkeit der Arbeiter
  • Sonntagsruhe
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Sozialreform
  • Staatszuschuß
  • Streik
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Versicherungszwang
  • Wohnung, siehe auch Hausbesitz
  • 1BArch N 2179 (Lohmann) Nr. 3, fol. 95─96 Rs.Datierung durch die Bearbeiter. Das undatierte Manuskript ist offensichtlich vor Bismarcks Sturz, jedoch nach der Verabschiedung des Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetzes am 24.5.1889, verfaßt worden. »
  • 2An dieser war Lohmann maßgeblich beteiligt (vgl. Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 3Lohmanns eigene Vorstellungen zur Sozialreform beinhalten die Bildung von Unfall(versicherungs-)genossenschaften der Arbeitgeber als neue Gemeinschaften zur Herstellung verantwortlichen Handelns gegenüber den Arbeitern. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 93, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0093

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