Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 88

1889 Juni 14 [15, 17 u. 19]

Conservative Correspondenz1 Nr. 117─120 Sozialpolitische Zeit- und Streitfragen

Druck

Allgemeine Ausführungen zur gewerbe- und sozialpolitischen Gesetzgebung aus konservativer Sicht unter dem Eindruck des Bergarbeiterstreiks; der Staat hat das Recht, in wirtschaftliche Angelegenheiten einzugreifen; die Sozialdemokratie muß niedergehalten werden; eine behutsame Sozialreform ist notwendig; Handlungsbedarf besteht insbesondere hinsichtlich des Arbeiterschutzes und der Einrichtung von Einigungsämtern

I.

Es sind jetzt gerade 20 Jahre her, daß der Norddeutsche Bund, der so schnell darauf sich zum Deutschen Reich erweitern sollte, eine Deutsche Gewerbeordnung schuf. Man hatte Recht, damals zu eilen mit Festlegung aller jener Grundlagen der Einheit, deren bindende Kraft von größerer Festigkeit und Dauer ist als Bündnisverträge und Verfassungsparagraphen. Die Einheit der Wehrverfassung, die Einheit des Verkehrs-, Arbeits- und Rechtslebens, das waren große Gesichtspunkte, und wir [ Druckseite 385 ] wollen denen danken, die sie fest im Auge gehalten, und nicht zu streng mit ihnen rechten, wenn die Arbeit etwas eilig ─ mit Zimmermanns Art und Maß und vielfach einseitig beeinflußt von damals beherrschenden theoretischen Auffassungen auf volkswirtschaftlichem und staatsrechtlichem Gebiet ─ zustande gebracht wurde.

Die Grundlage für die Gewerbeordnung bildete die damalige Preußische Gewerbeordnung von 18452; und damals war es, wo zwei schwerwiegende Paragraphen dieser Gewerbeordnung der herrschenden Zeitauffassung zum Opfer fielen, jene §§ 181 und 182, welche in genau paralleler Fassung

„Gewerbetreibende bzw. Gehilfen, Gesellen und Fabrikarbeiter mit Strafe bedrohten, wenn sie ihre Gesellen, Gehilfen oder Arbeiter bzw. die Gewerbetreibenden oder die Obrigkeit zu gewissen Handlungen oder Zugeständnissen dadurch zu bestimmen suchen, daß sie gemeinsame Einstellung des Betriebs oder der Arbeit verabreden.“

Das Koalitionsrecht der Arbeiter wurde damit anerkannt. Von der parallelen Anerkennung des gleichen Rechtes der Arbeitgeber hat man damals nicht viel gesprochen. Wir kennen den Effekt der Maßregel wesentlich nur in den Streiks, die seit jener Zeit an der Tagesordnung waren. Dinge, wie sie in anderen Ländern versucht sind (wir erinnern an den beabsichtigten Salzring etc.), haben bei uns den Gedanken noch nicht nahegelegt, daß jene beseitigten Paragraphen der alten Gewerbeordnung auch den Arbeitgebern gegenüber Waffen enthielten, die unter Umständen zum Schutz des Staats, der ganzen Volkswohlfahrt von einigem Wert sein könnten. Jedem Versuch einer Koalition der Arbeitgeber, welcher sich nicht ängstlich auf Gegenwirkung gegen maßlose Konkurrenz und Überproduktion beschränkt, welcher etwa den Versuch machen wollte, sich definitiv unliebsamer Erscheinungen, Agitationen oder Agitatoren zu erwehren, steht trotz rechtlicher Unanfechtbarkeit ein starkes, von beteiligter Seite geflissentlich genährtes und von der unklaren Humanitätsauffassung der Zeit gestütztes Vorurteil entgegen, und dieser Umstand wie der Eigennutz des einzelnen Unternehmers, der weit selbständiger dasteht als der einzelne Arbeiter gegenüber einer Bewegung seiner Genossen, setzen der Koalitionsmöglichkeit der Arbeitgeber zu starke Schranken, als daß die Frage nach dem Bedürfnis einer gesetzlichen Beschränkung praktisches Gewicht erhalten könnte.

Ganz anders ist es mit dem Koalitionsrecht der Arbeiter; das hat seit jener Zeit eine gewaltige praktische Bedeutung gewonnen. Ob es wesentlich zur Hebung des Zustands der Arbeiter beigetragen, ob die Verbesserungen, die in bezug auf ihre Lebensbedingungen und Lohnverhältnisse eingetreten, nicht auch im ruhigen Lauf der Dinge und ohne jene gewaltsamen Momente erreicht wären, darüber sind die Meinungen geteilt, und wir wollen kein bestimmtes Urteil fällen. Das aber steht fest, daß jedenfalls, mag man noch soviel wohltätige Wirkungen zugeben, auch viel Unliebsames ─ schwere Not und Entbehrung in Arbeiterkreisen selbst, Zerstörung von Werten, ruinierte Existenzen, und vor allem auch ein nicht nach Geld schätzbarer Schade: ein starkes Anwachsen von Verbitterung und Klassenhaß ─ in den Kauf genommen werden mußten. Vor allen haben die Streiks sich als das dankbarste Feld für die Operationen der Sozialdemokratie erwiesen, und die neuesten Erfahrungen, die großen Streiks im Kohlengebiet3, welche den Betrieb eines großen Teils der [ Druckseite 386 ] deutschen Industrie, das ganze Verkehrswesen in ernsthaftester Weise bedrohten, machen eine gründliche Erörterung dieser Fragen zur Pflicht, ja zu einer zwingenden politischen Notwendigkeit.

Die Aufhebung jener Bestimmungen der Preußischen Gewerbeordnung, welche der Vereinigung von Arbeitgebern wie von Arbeitern für gewisse Zwecke im öffentlichen Interesse einige Schranken setzten, entspringt im Grunde einem Gedanken, der in jener Zeit fast widerspruchslos herrschte, dem Gedanken, daß jeder Eingriff des Staats in das wirtschaftliche Leben vom Übel, daß von dem freiesten unbehinderten Spiel der Kräfte auf wirtschaftlichem Gebiet alles Heil zu erwarten sei. Eine Zeit, welche in wenigen Menschenaltern eine Umwälzung aller technischen und Verkehrsverhältnisse, eine Umgestaltung aller sozialen Anschauungen und Bedürfnisse durchlebt, neben der die alten Formen der Staats- und Rechtsverfassung vielfach nur als Hindernisse der Entwicklung empfunden wurden, hatte von der Befreiung des wirtschaftlichen Verkehrs nach allen Richtungen hin zunächst nur die wohltätigen Folgen gesehen.

Und doch ist jener Gedanke durchaus verkehrt; er verleugnet die ersten und wichtigsten Aufgaben des Staats: Jedes Blatt der Geschichte hätte darüber belehren sollen. Von den ersten Anfängen staatlicher Bildung, mit den ersten Anfängen wirtschaftlicher Tätigkeit, die über den Kreis der Familie hinaus wirksam wird, tritt auch die Forderung an den Staat heran, ordnend und regelnd in das wirtschaftliche Leben einzugreifen. Der ganze Inhalt des Rechts wird durch wirtschaftliche Verhältnisse und Bedürfnisse bestimmt. Jene einseitige theoretische Auffassung konstruierte sich für den einzelnen [auf] „volle Freiheit des Handelns auf wirtschaftlichem Gebiet“, natürlich unter „Achtung der Rechtssphäre der anderen“. Daß aber diese Rechtssphäre nur bestimmbar ist mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, daß man lediglich das Faustrecht auf wirtschaftlichem Gebiet, den ungehinderten Kampf ums Dasein, die reine Anarchie schafft, wenn diese Rücksicht wegfällt, das wurde dabei übersehen. In der Praxis hat jene theoretische Auffassung nie gehindert, tiefe Eingriffe in die wirtschaftliche Selbstbestimmung des einzelnen zu fordern; die Forderungen des praktischen Lebens, häufig auch agitatorische Rücksichten, erwiesen sich bei allen Parteien mächtiger als die Theorie. Wir haben überhaupt den Eindruck, daß in den letzten Zeiten der Einfluß der theoretisierenden Auffassungen in den Hintergrund tritt, daß in weiten Kreisen die Notwendigkeit, über die praktischen Ziele der Politik sich zu verständigen, empfunden wird ─ und die Erfahrungen der jüngsten Zeit mit den weitverbreiteten Streiks weisen in der Tat darauf hin, auf diesem [ Druckseite 387 ] Gebiet nicht mehr eine Fraktions- und Agitationspolitik zu treiben, sondern die zu lösenden Aufgaben in ihrem ganzen furchtbaren Ernst ins Auge zu fassen.

II.

Die „Emanzipation des vierten Standes“, um ein bereits eingebürgertes Wort zu gebrauchen, ist die bewegende Frage der Zeit für alle Kulturvölker. Es ist ein Produkt einer lange im stetigen Gang befindlichen geistigen Bewegung und des Durchbruchs eines echt christlichen und humanen Gedankens, daß diese Frage auf der Tagesordnung steht.

Die Frage ist unendlich dringlicher geworden nach einer Periode des Aufschwungs der Technik, des Maschinenbetriebs, der Verkehrsentwicklung und vor allem nach einer Periode, in der die Befreiung des wirtschaftlichen Lebens von allen Schranken der herrschende Gedanke war und, verbunden mit der Assoziation des Kapitals, die Großindustrie mit Freizügigkeit und Beweglichkeit der Menschen, die Anhäufung der Arbeitermassen geschaffen hat. Fragen wir aber, was ist in Wahrheit die zu lösende Aufgabe, so wird die Antwort lauten: die Herstellung einer menschenwürdigen, wirtschaftlich gesicherten Existenz für die auf ihrer Hände Arbeit angewiesenen Klassen, die Herstellung friedlicher und humaner Verhältnisse zwischen Unternehmer und Arbeiter, die Herstellung einer geordneten Teilnahme auch der Arbeiter am öffentlichen Leben, an der Verwaltung der sie betreffenden Organisationen und Einrichtungen des Staates, welche sie eingliedert in die Organisation der Gesellschaft, welche auch sie zu bewußten und mitverantwortlichen Trägern der staatlichen Organisation, der öffentlichen Ordnung macht.

Diese Aufgabe ist nur zu lösen, wenn der Staat sich nicht scheut, auch in die wirtschaftliche Selbstbestimmung des einzelnen einzugreifen, wo die Lösung der sozialen Aufgaben, wo das höhere Interesse der Gesamtheit es erfordert. Es ist völlig verkehrt, wenn jede Maßregel dieser Art, wie noch jüngst bei dem Widerstand gegen die Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung, als ein verderblicher und hochgefährlicher Schritt zum Sozialismus bezeichnet wird.

Diese Aufgabe ist zu lösen auf dem historisch erwachsenen Boden unserer Staatsund Gesellschaftsordnung. Ihre Lösung steht völlig im Einklang mit einer konservativen Auffassung, welche, fern von dem Wunsch, Zustände nur ihres Alters wegen zu konservieren, die Fortbildung will, aber die organische Fortbildung auf den gegebenen Grundlagen; sie steht völlig im Einklang mit der Verwirklichung echt christlicher Gedanken und Grundsätze, welche der ganzen konservativen Auffassung von Staat und Gesellschaft zugrunde liegen.

Diese Aufgabe kann aber nur gelöst werden in ruhiger, stetiger, in langsam und sicher organisierender politischer Arbeit, und darin liegt die dringende Mahnung zur Verständigung aller derer, welche die Grundlagen unserer Staats- und Gesellschaftsordnung erhalten wissen wollen.

Im vollen Gegensatz zu der Auffassung der sozialpolitischen Aufgabe, wie sie konservativen Anschauungen entspricht, wie sie von allen bestimmt werden muß, welche wirklich für die Grundlagen unserer Staats- und Rechtsordnung eintreten, sieht die Sozialdemokratie die Lösung in einer Neuordnung der Gesellschaft, in einer Umgestaltung der wirtschaftlichen Produktion auf neuen Grundlagen, die nicht auf Erfahrung und Geschichte, sondern auf theoretische Konstruktionen des frei spekulierenden Menschengeistes sich gründen. Nicht die Reform der sozialen Lage des vierten Standes in recht christlichem und humanem Sinn, nicht seine Eingliederung [ Druckseite 388 ] in diesem Sinn in die Gesellschaftsorganisation ist ihr Ziel, sondern die Neugestaltung des Arbeiterstaates, die Herrschaft des vierten Standes, und an letzter Stelle die gleiche Verteilung irdischer Güter und Genüsse in der völlig nivellierten Gesellschaft. Charakteristisch und grundbestimmend für ihre Ziele und doch vielfach nicht gehörig gewürdigt, ja das eigentliche Grundprinzip für den Neubau der Gesellschaft nach ihrem Muster ist die Vernichtung der wirtschaftlichen Freiheit des einzelnen und in der Konsequenz die Vernichtung von Besitz, Eigentum, Erbrecht, kurz aller der Grundlagen der Rechtsordnung, auf denen unser Kulturzustand ruht.

Ein Rückblick auf die Entwicklung der Kultur von den Anfängen der Geschichte an, ein vergleichender Blick auf wirtschaftliche und Kulturzustände der zivilisierten und der wilden und halbwilden Völker muß jedem Denkenden zeigen, welche Bedeutung das Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit und ihre notwendigen Konsequenzen in den Rechtsinstituten von Eigentum, Erbrecht usw. auf die Kulturentwicklung der Menschheit übt, wie stark die Triebfedern für menschliche und bürgerliche Tugend sind, die dem gesicherten Erwerb, der Fürsorge für Familie und Nachkommen, dem richtigen Genuß erworbener und ererbter Güter entspringen. Es gehört der volle Glaube der Theoretiker an ein Hirngespinst, die volle Mißachtung aller Lehren der Geschichte, das Verkennen der psychologischen Natur des Menschen dazu, um zu glauben, daß in dem großen Zwangsarbeitshaus, in welches die Ideen der Sozialdemokratie, wenn je verwirklicht, den Staat verwandeln würden, Kultur und menschliche Gesittung, wie sie im Lauf der Jahrtausende herangewachsen, erhalten und weiter gefördert werden könnten. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie ist also in Wahrheit auch ein Kampf für die Erhaltung der höheren, nicht bloß materiellen Güter der Zivilisation.

Die Gefahr der Sozialdemokratie wird bei uns vielfach nicht in ihrem ganzen Umfang erkannt, weil das Vertrauen auf eine erhaltene starke Autorität mit gewaltigen Machtmitteln allgemein ist und weil die repressiv wirkende Sozialistengesetzgebung die wilde, abschreckende Form der sozialistischen Agitation niederhält. Sie ist demungeachtet eine sehr große. Fanatischer Glaube an eine angeblich die Welt von allen Übeln erlösende Theorie und der intensive Haß dessen, der seiner Ansicht nach nicht den genügenden Anteil an Ehre und Gütern dieser Welt genießt, sind die mächtigsten Werber für ein stets schlagfertiges Heer von Agitatoren. Die planmäßige Vergiftung der Gesinnung der Massen, die sich an die mächtigsten Leidenschaften der Menschenbrust wendet, findet in wirklichen oder vermeintlichen und geflissentlich übertriebenen Notständen ihre Unterstützung. Gefördert wird die Bewegung ferner durch die allgemeine und an sich berechtigte Sympathie für alle humanitären Fortschritte und durch die Erregung des Irrtums, als sei die Sozialdemokratie die Partei sozialer Reform.

In Wirklichkeit ist sie der bitterste Feind jeder sozialen Reform auf der Grundlage unserer Staats- und Gesellschaftsordnung; ihr Ziel ist deren Umsturz durch die soziale Revolution. Der auch von deutschen sozialdemokratischen Führern unterzeichnete Aufruf, den noch jüngst das Organisationskomitee des internationalen Sozialistenkongresses in Paris erlassen hat, ist hierfür ein neuer Beleg, und wir lassen ihn darum hier im Wortlaut folgen:

„Die Klasse der Kapitalisten ladet die Reichen und die Mächtigen ein, auf der Weltausstellung das Werk der Arbeiter zu bewundern, welche inmitten der kolossalsten Reichtümer, die jemals die menschliche Gesellschaft besessen hat, zum jämmerlichsten Elend verurteilt sind. Wir Sozialisten, die wir die Befreiung der Arbeit, [ Druckseite 389 ] die Abschaffung des Salärs und die Schöpfung eines Zustandes verfolgen, in dem ohne Unterschied des Geschlechts und der Nationalität alle ein Recht haben auf die aus der gemeinsamen Arbeit hervorgegangenen Reichtümer, geben den Erzeugern (producteurs) Rendezvous in Paris am 14. Juli. Wir laden sie ein zu kommen, um die brüderlichen Bande fester zu knüpfen, was die Anstrengungen des Proletariats aller Länder befestigen und das Erscheinen der neuen Welt beschleunigen wird. Proletarier aller Länder, vereinigen wir uns!“4

Die Vorbereitungen zu der Schöpfung dieser „neuen Welt“, vor allem die Erregung der Massen, ihre allmähliche Disziplinierung und Organisation wird mit planmäßiger, wohlberechneter Taktik verfolgt. Leider wird die Sozialdemokratie in diesem Streben durch die Art, wie andere Parteien ihre Ziele verfolgen, durch die Tonart ihrer Presse energisch unterstützt. Auch hier wird mit beachtenswertem Scharfsinn alles zusammengesucht und ausgenutzt, um die Stimmung der Massen gegen die Regierung, gegen die bestehenden Autoritäten, gegen die besitzenden Klassen zu erregen; große, im Interesse der finanziellen Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit des Reiches, im Interesse der Erhaltung der nationalen Produktion unerläßliche und von der weit überwiegenden Mehrheit der Volksvertretung gebilligte Maßregeln werden als Ausfluß engherziger Vertretung von Klasseninteressen dargestellt, umfassende und hochbedeutsame Maßregeln der Gesetzgebung zur Hebung der Wohlfahrt der unteren Klassen werden in ihrer Wirkung verkleinert und entstellt. In dem Bestreben, das eigene Parteiprogramm wirksam in das hellste Licht zu stellen, wird frisch und fröhlich agitiert, ohne Rücksicht auf die schwere Schädigung für das Ganze, die aus einer auf die mehr oder weniger urteilslosen Massen berechneten Agitation erwächst.

In unseren gegenwärtigen Verkehrs- und Rechtsinstitutionen, die sich lange Zeit unter der Herrschaft einer einseitigen Theorie entwickelten, die in vollster Verkehrsund Handelsfreiheit auf dem Gebiet der Vergesellschaftung des Kapitals, des Kreditund Hypothekenwesens, des Börsenverkehrs etc. alles Heil erblickte, sind ja zweifellos eine Anzahl von Übelständen erwachsen, welche dringend der Reform bedürfen. Aber hier handelt es sich doch überall um Reformen, die auf dem Boden der bestehenden Staats- und Rechtsordnung möglich sind, die unter den Begriff einer Beschränkung der wirtschaftlichen Freiheit des einzelnen im öffentlichen Interesse fallen, während diese Freiheit an sich, als eine Grundbedingung unserer Kulturzustände, erhalten wird.

Es ist eine bedauerliche Unterstützung sozialistischer Bestrebungen, wenn diese Dinge in einer Form und in agitatorischen Redewendungen behandelt werden, wie „Kampf gegen die kapitalistische Produktion“ ─ wenn von dem „Goldsack-Staat der Gegenwart“, von der „Organisation der Arbeit, die der Ausbeutung der Menschenkraft ein Ende machen wird“ etc., gesprochen wird ─, in einer Art, welche nur den nächsten drastischen Einfluß auf die Massen im Auge hat, in Wahrheit aber der Sozialdemokratie auf das kräftigste Vorschub leistet. Hören wir doch jetzt zuweilen von dem „sozialen Königtum“ sprechen, als ob es sich darum handele, den sozialistischen Staat nur mit monarchischer Spitze anstelle der Republik herzustellen, die den Ideen der Sozialdemokratie entspricht. Die Monarchie hat ja, abgesehen von allem [ Druckseite 390 ] anderen, einen unberechenbaren Wert auch gerade für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse: Sie allein macht es möglich, rechtzeitig die nötigen sozialen Reformen durchzuführen, den Klassenegoismus genügend zu beschränken, die notwendigen und grundlegenden Staatsgedanken stetig zu verfolgen und zu entwickeln. Was die preußische Monarchie in diesem Sinn geleistet, ist in den Blättern der Geschichte verzeichnet. Aber die Monarchie kann nur mit voller Sicherheit auf dem gefestigten Unterbau der historisch erwachsenen Staats- und Gesellschaftsordnung ruhen ─ der historische Rechtsboden, die legitime und berufene Vertretung dauernder Staatsgedanken, das sind ihre Grundlagen. Die Monarchie an der Spitze einer nivellierten Gesellschaft, mit einem nach sozialistischen Prinzipien neu konstruierten Wirtschaftssystem, das ist ein Widerspruch in sich, das ist eine Verirrung, gegen die von echt konservativem Standpunkt aus die entschiedenste Verwahrung eingelegt werden muß.

Die Streikbewegungen der letzten Zeit lassen, mag es auch nicht überall im einzelnen nachweisbar sein, die leitende Hand der Sozialdemokratie nicht verkennen. Sie müssen uns eine ernste Mahnung sein, die praktischen Maßregeln zu erwägen, welche zu einer Bekämpfung solcher Zustände nötig sind, und es ist unerläßlich, dabei das Verhältnis zur Sozialdemokratie klar ins Auge zu fassen. In diesem Zusammenhang scheiden wir aber scharf die unerläßlichen Maßregeln gegen die sozialdemokratische Agitation, gegen die bewußte Vorbereitung der sozialen Revolution ─ von diesen mag seinerzeit besonders gehandelt werden ─ von denjenigen, welche speziell durch die Streikbewegung und die damit zusammenhängenden Fragen auf die Tagesordnung gestellt sind. Nur von letzteren soll hier gesprochen werden.

III.

An eine Beseitigung der Koalitionsfreiheit der Arbeiter, wie sie die Gewerbeordnung hergestellt hat, wird man im Ernst nicht denken können. Ähnliche Bestimmungen, wie sie die alte preußische Gewerbeordnung enthielt, würden auch praktisch von geringer Wirkung sein. Dagegen bedarf die Frage, ob die Bestimmungen der Gesetze genügen, dem Terrorismus, der bei Bewegungen der hier besprochenen Art geübt wird, wirksam entgegenzutreten, einer näheren Prüfung an der Hand der gemachten Erfahrungen.

Ebensowenig wird man im Ernst daran denken können, durch gesetzgeberische Maßregeln auf eine Normierung der Lohnsätze für industrielle Betriebe einwirken zu wollen. Es ist sehr leicht, in dieser Richtung einige wohlklingende Phrasen zu produzieren. Jede nähere Durchführung des Gedankens scheitert aber an der praktischen Unmöglichkeit der Dinge oder gerät auf dem Weg eines Experiments nach sozialistischen Rezepten und in direkten Widerspruch mit allen Grundlagen unseres staatlichen und rechtlichen Zustands.

Genossenschaftlicher Betrieb durch kleine Unternehmer, ja unter Beteiligung der Arbeiter selbst, kann sich gewiß im natürlichen Lauf der Dinge für bestimmte und beschränkte Gebiete gewerblicher Tätigkeit herausbilden ─ noch soeben hat die Gesetzgebung in dem Genossenschaftsgesetz Organisationen dieser Art erleichtert.5 Ebenso wird es für einzelne Betriebe möglich sein, die Arbeiter durch die Art der Löhnung an dem Betriebsresultat zu interessieren, und der wohlverstandene Vorteil [ Druckseite 391 ] der Unternehmer wird darauf hinweisen. Aber Maßregeln dieser Art von Staats wegen zu schaffen oder die Hoffnung zu hegen, daß sie die jetzige Art des industriellen Betriebes im großen umgestalten können, halten wir für ein Unding.

Das, was wir tun können, liegt, nächst der Fürsorge für die wirtschaftliche Sicherung der Lage der Arbeiter ─ und wer will verkennen, daß in der Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung große und wirksame Maßregeln unter opferwilligem Eintreten von Arbeitgebern und Staat bereits geschaffen sind ─, in der Fürsorge für Festigung des Vertragsverhältnisses zwischen Arbeitgeber und -nehmer, für zweckmäßige Organisation der wüsten Arbeitermassen der Großindustrie und in der Beseitigung von Übelständen, die in der Lohnart, der Behandlung und Beschäftigung der Arbeiter hervortreten, also auf dem Gebiet der sog. Arbeiterschutzgesetzgebung.

Die Gewerbeordnung hat für alle gewerblichen Arbeiter ohne Unterschied für den Arbeitsvertrag eine Kündigungsfrist von 14 Tagen vorgeschrieben. Für manche Fälle mag dies genügen, die kurze Frist mag hin und wieder dem Interesse der Arbeiter wie der Arbeitgeber entsprechen, aber für sehr viele Betriebe liegt das doch ganz anders, und der Unternehmer hat sowohl ein Interesse an dauernder, auf längere Zeit gesicherter Arbeitskraft wie der Arbeiter an der Sicherheit gegen Brotlosigkeit bei plötzlich wechselnder Konjunktur. Dem Opfer an Freiheit auf der einen Seite entspricht der Gewinn an Sicherheit auf der anderen. Gelten doch in der Landwirtschaft, der Natur ihres Betriebs entsprechend, ganz andere Grundsätze über die Dauer des Arbeitsvertrags. Ähnliches in angemessener Änderung der Zeiten und Fristen wird auch für industrielle Betriebe vielfach möglich sein. Freiwillige Vertragsbestimmung kann ja auf diesem Gebiet helfen, aber es ist doch fraglich, ob sie ohne Beihilfe und Unterstützung der Gesetzgebung wirksam und durchgreifend reformieren kann.

Darüber kann kein Zweifel bestehen, daß Rechtsleistung von beiden Seiten, daß strenge Innehaltung der eingegangenen Verträge unerläßlich sind, um gesicherte Zustände zu erhalten. Es drängt sich der Gedanke auf, daß die Gesetzgebung vielleicht nicht gut getan hat, für den Arbeitsvertrag in allen Fällen die volle Formlosigkeit zu gestatten. Wir sind überzeugt, daß von den Tausenden strikender Arbeiter nur ein geringer Teil sich bewußt ist, einen rechtswidrigen Vertragsbruch begangen zu haben.

Von konservativer Seite wurde schon im Anfang der 70er Jahre ein Antrag auf Bestrafung des Kontraktbruchs im Reichstag eingebracht, aber damals mit wenig Gunst behandelt.6 Gegenüber dem, was wir jetzt durchlebt, wird man vielleicht anders darüber denken. Es ist eine Verkehr[t]heit, einen Bruch übernommener Verpflichtungen zur Arbeitsleistung in einem Betrieb, an dessen Fortgang nicht der Arbeitgeber allein, sondern auch die Masse der Arbeiter selbst, die Gesamtheit der Bevölkerung ein wesentliches Interesse hat, mit der Versäumnis der Erfüllung eines sonstigen Vertrages, der nur die beiden Vertragsschließenden interessiert, aus rein theoretischen Gründen auf eine Linie stellen zu wollen. Wir erinnern nur daran, daß auf anderen Gebieten (in der Landwirtschaft) ähnliche Bestimmungen wohl in allen deutschen Ländern bestehen, und wir meinen, daß sich prinzipiell nichts dagegen sagen läßt, daß die Innehaltung von Verträgen, an der die Gesamtheit wie die Vertragsschließenden [ Druckseite 392 ] selbst ein so hohes Interesse haben, unter eine festigende Sanktion durch Strafandrohung gestellt werden.

Es scheint, daß bei den jüngsten Strikebewegungen doch wirklich vorhandene Übelstände in der Löhnungsart, in der Normierung der Arbeitszeit, der Beförderung zur Arbeitsstelle usw. eine Rolle gespielt haben. Wenn wir nun auch fern davon sind, auf die Normierung der Lohnhöhe an sich durch Aufsichtsinstanzen eine Einwirkung für geboten und möglich zu halten, so liegt die Sache doch ganz anders bezüglich der Art der Lohnzahlung und der Feststellung derjenigen Arbeitsbedingungen, die mit der pflichtmäßigen Fürsorge für Leben und Gesundheit in nahem Zusammenhang stehen. Auch die bestehende Gewerbeordnung nimmt keinen Anstand, z. B. in den Bestimmungen über das sog. Trucksystem, beschränkend in die wirtschaftliche Freiheit einzugreifen. Die ältere Bergordnung gab der Aufsichtsbehörde eingreifendere Befugnisse in diesem Sinn. Es ist nicht abzusehen, warum in dieser Beziehung für eine Reihe von Betrieben, und in erster Stelle für den Bergbau, nicht den Behörden eine erweiterte Befugnis zur Beseitigung von Übelständen auf diesem Gebiet, zur Genehmigung obligatorisch vorzuschreibender Arbeitsordnungen usw. gegeben werden sollte. Dabei muß allerdings die Verwaltung auf ein genaues Verständnis der Bedürfnisse des Betriebes, der Verhältnisse auch der Arbeiter das höchste Gewicht legen. Mit der schematischen Verwaltung vom grünen Tisch ist es nicht getan. Es muß für Organe gesorgt werden, welche mit der lebendigen Praxis vertraut sind; man wird vielleicht an beratende Organe, die aus Arbeitgebern und -nehmern sich zusammensetzen, in zweckmäßiger Organisation mehr als bisher denken müssen.

Die Maßregeln, auf welche hier hingedeutet wurde, gehören recht eigentlich in das Gebiet der sogenannten Arbeiterschutzgesetzgebung, welche in den Verhandlungen des Reichstages seit Jahren eine Rolle gespielt hat, da man in weiten Kreisen der Meinung war, daß das, was die Novelle zur Gewerbeordnung von 1879 [recte: 1878] getan, nicht genüge.

Die im Reichstag gemachten Vorschläge beziehen sich im wesentlichen auf die Beschränkung beziehentlich das Verbot der Kinderarbeit, die Beschränkung der Frauenarbeit in den Fabriken und die Einführung eines Normalarbeitstags auch für erwachsene männliche Arbeiter mindestens für bestimmte Betriebe.7

Während über das Prinzip einer Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit in der großen Mehrheit des Reichstags, einschließlich der Vertretung speziell industrieller Interessen in demselben, Einverständnis besteht, ist das Maß derselben vielfach streitig. Bei der Regelung der Kinderarbeit bietet die Existenz der Hausindustrie, die gerade da, wo Kinderarbeit in Fabriken vorkommt, neben dem Fabrikbetrieb besteht, für welche eine Durchführung ähnlicher Bestimmungen wie für Fabriken fast unmöglich und in der die Kinderarbeit vielfach weit gefährlicher ist als in den Fabriken, große praktische Schwierigkeiten. Bei der Beschränkung der Frauenarbeit, deren Notwendigkeit im Interesse der Hebung der ganzen sanitären wie sittlichen Zustände der Arbeiterkreise allseitig als erwünscht anerkannt wird, ist mit allgemeinen Maßregeln nicht durchzukommen, da zweifellos Betriebszweige und Verhältnisse existieren, in denen die Frauenarbeit kaum entbehrlich, auch an sich kaum schädlich und in denen vor allem eine zu weitgehende Beschränkung die Arbeiterkreise empfindlich schädigen würde. Daß außerdem die Grenze, bis zu welcher man [ Druckseite 393 ] in der Beschränkung der Benutzung der Arbeitskraft von Frauen und Kindern im industriellen Betrieb gehen kann, nicht ohne alle Rücksicht auf die Verhältnisse des Auslandes, die Konkurrenzfähigkeit der Industrie bemessen werden kann ─ auch mit Rücksicht auf die Arbeiterkreise selbst, deren Existenz von der Lebensfähigkeit der Industrie abhängt ─, mag hier nur erwähnt werden. Indessen ist nicht zu bezweifeln, daß bei dem fast von allen Parteien ausgesprochenen guten Willen eine Verständigung unter diesen und auch mit dem Bundesrat zu erzielen ist und auch erzielt werden wird.

Eine Voraussetzung halten wir allerdings für unerläßlich, nämlich die, daß von der gewissermaßen agitatorischen Art der Behandlung dieser Fragen Abstand genommen und die Erwägung der Möglichkeit praktischer Durchführung mehr in den Vordergrund gestellt wird. Es geht nicht an, daß man sehr allgemein gehaltene, sehr gut und human klingende Gesetzesparagraphen macht, von denen man anerkennen muß, daß sie praktisch gar nicht überall durchführbar sind und daß man sich damit hilft, dem Bundesrat oder der Verwaltungsbehörde die Aufgabe zuzuschieben, in allen Fällen, in denen die Durchführung untunlich ist, die Ausnahmen, und zwar scheinbar wenigstens, zugunsten der Betriebsunternehmer, der Industrie im Gegensatz zu den Arbeitern zu statuieren. Es liegt doch geradezu im Interesse der Erhaltung der Staatsautorität, des Vertrauens der Arbeiterbevölkerung zur Staatsleitung und Verwaltung, welche nicht allein für diese, sondern für die Gesamtheit von höchstem Wert ist, das umgekehrte Verfahren einzuschlagen und den Staatsorganen etwa aufgrund gesetzlich gegebener Direktiven das Einschreiten zugunsten des Arbeiterschutzes, wo er durchführbar und geboten scheint, zu übertragen. Von dieser Befugnis wird weit eher und mit günstigerem Erfolg für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse Gebrauch gemacht werden als von der umgekehrten.

Der Vorschlag, einen Normalarbeitstag auch für erwachsene männliche Arbeiter durchzuführen ─ mindestens für gewisse Gattungen der Industrie ─, hat in der großen Mehrheit der konservativen Partei nie Zustimmung gefunden. Es liegt klar, daß dies ein Eingriff in die wirtschaftliche Selbstbestimmung des einzelnen sein würde von prinzipieller Bedeutung, daß die Konsequenz einer gesetzlichen Normierung auch einer Lohngrenze kaum abweisbar ist. Es darf demungeachtet nicht verkannt werden, daß auch bei Beschäftigung dieser Kategorie voll selbständiger Arbeiter in bestimmten Verhältnissen und Betrieben Mißbräuche eintreten können und vorhanden sein mögen, welche ein Einschreiten aus allgemeinen Rücksichten und der im Begriff der Aufgabe der Wohlfahrtspolizei liegenden Fürsorgepflicht für Leben, Gesundheit und Sittlichkeit rechtfertigen.

Man wird nicht umhin können, in dieser Beziehung den ausführenden Behörden, der Verwaltung Vollmachten zu geben. Die Verhältnisse, wie sie der vielgestaltige technische Betrieb der Neuzeit, der komplizierte Organismus des Kulturstaates entwickeln, machen es ganz unmöglich, alle Funktionen der Polizei gesetzlich im Detail zu regeln. Diese Verhältnisse erfordern eine weit eingreifendere Regelung durch polizeiliche Maßnahmen als einfache Staats- und Gesellschaftszustände, und man darf sich nicht dagegen sträuben, diese unabweisbare Konsequenz anzuerkennen. Es wird darauf ankommen, für zweckmäßige Übung dieser notwendigen Vollmachten für die Verwaltung Fürsorge zu treffen, sie, wo es angänglich ist, geeigneten Organen zuzuweisen; und es scheint uns, daß gerade auf diesem Gebiet die berufsgenossenschaftlichen Organisationen unter geordneter Mitwirkung der Staatsorgane ein dankbares und ihnen naturgemäß zustehendes Feld der Tätigkeit finden sollten.

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Für dieses ganze Gebiet staatlicher Fürsorge im Interesse der Arbeiter wird unseres Erachtens ein viel zu großer Wert auf das Eingreifen der Gesetzgebung und ein vielleicht zu geringer auf die Übung des Arbeiterschutzes durch die Verwaltung gelegt, in welcher die Fürsorge des Staates doch wesentlich fühlbar in die Erscheinung tritt. Mit der Anstellung eines Fabrikinspektors für jeden Regierungsbezirk oder großen Distrikt allein ist es nicht getan, hier ist vielfach nur ein neuer technischer Dezernent für die höhere Verwaltungsbehörde geschaffen, und die Herrschaft der „Techniker“ in dieser Instanz, deren technisches Gutachten den eigentlichen Verwaltungsbeamten seiner Verantwortung für eigenes Urteil enthebt, gehört vielfach zu den bedauerlichen Zuständen unseres Verwaltungswesens. Wo die Wahl der Personen nicht glücklich war, wo der richtige Takt in der Herstellung des richtigen Verhältnisses zu Betriebsunternehmer und Arbeiter fehlt, mögen da vielfach mit Recht beklagte Übelstände erwachsen sein. Die Anforderungen an die Verwaltung sind mit den weiterentwickelten Verhältnissen enorm gestiegen, und es muß in der Ausbildung der Verwaltungsbeamten, in der Beherrschung auch des technischen Gebietes, der Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse der Industrie und ihrer Arbeiter von seiten der höheren Verwaltungsbeamten diesen Anforderungen entsprochen werden. Es wird unerläßlich sein, die nötigen Hilfskräfte zu gewinnen, in den Verwaltungsorganismus zweckmäßig einzufügen und den Kontakt der Verwaltung mit korporativen Bildungen auf dem Gebiet des Gewerbebetriebes lebendig und praktisch wirksam zu machen.

Es ist zweifellos, daß sich hier ein weites Feld für eine Tätigkeit bietet, welche den Gefahren, die aus den Bewegungen in Arbeiterkreisen erwachsen, entgegentreten kann. Aber das möchten wir doch auch aussprechen: Von so hochwichtiger Bedeutung diese Tätigkeit von Gesetzgebung und Verwaltung auf diesem Gebiet des sogenannten Arbeiterschutzes ist ─ man überschätze nicht den momentanen Effekt auf die Stimmung in den Arbeiterkreisen. Die gesetzlichen Maßregeln, welche die Ausnutzung der Arbeitskraft einschränken, werden hier keineswegs überall nach ihren hohen humanen Gesichtspunkten, ihrem allmählich wohltätig wirkenden Effekt gewürdigt, sie werden vielmehr vielfach in sehr kurzsichtiger Weise aufgefaßt und als eine unliebsame Beschränkung empfunden werden.

Und noch eine Bemerkung scheint nötig: Die Art, wie die Arbeiterschutzgesetzgebung jetzt in der Presse, ja teilweise auch in der parlamentarischen Aktion behandelt wird, fern von jedem Eingehen auf das Detail, auf die wirklich praktischen Fragen ─ diese agitatorische Art der Behandlung und diese Konkurrenz in dem Rennen um arbeiterfreundliche Vorschläge, sie sind vielleicht eine schwer vermeidbare Folge unserer Preß- und Wahlzustände, aber ruhige politische Erwägung sollte doch etwas Mäßigung empfehlen. Wir sind gewiß fern davon, vorhandene Mißstände zu verkennen und zu beschönigen, aber wir müssen doch auch daran erinnern, daß wohl kaum irgendwo und in keiner Zeit das Bestreben, auf diesem Gebiet tätig einzugreifen, so lebendig und auch so erfolgreich gewesen ist wie in Deutschland im letzten Menschenalter. Und wenn wir da in der Presse aller Parteien Ausführungen finden über die „Schutzlosigkeit des Arbeiters“, die Pflicht, „das Recht der Arbeiter auf eine menschenwürdige Behandlung zur Anerkennung zu bringen“ und dergleichen, so muß man doch sagen: Durch eine Diktion der Art wird die Sache nicht gefördert, wohl aber den Bestrebungen der Sozialdemokratie, der Erzeugung von Mißmut und Klassenhaß kräftiger Vorschub geleistet.

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IV. (Schluß)

Als ein Mittel zur Beseitigung oder leichterer Erledigung der Streiks ist ferner von vielen Seiten die Errichtung von Einigungsämtern in Anregung gebracht. Man hat dabei eine Instanz, aus Vertrauensmännern seitens der Arbeiter und der Betriebsunternehmer zusammengesetzt, im Auge, nach der von anderer Seite vertretenen Meinung unter Mitwirkung staatlicher Organe. Daß Instanzen dieser Art durch gütliche Beilegung von Streitigkeiten unter gewissen Umständen größere Streikbewegungen verhindern, daß sie bei ausgebrochenen Streiks ein Organ der Verständigung bieten und auch sonst wohltätig wirken können, ist bereits früher von uns dargelegt und nicht zu bezweifeln. Man übersehe indessen nicht, daß es sich hier nur um eine Art von schiedsrichterlicher Instanz handelt, der die Mittel, die Anerkennung der Gültigkeit ihres Spruchs zu erzwingen, die Mittel der Exekutive fehlen. Wir müssen aber noch auf einen anderen Punkt, der in Betracht genommen sein will, aufmerksam machen. In der Wahl einer Arbeitervertretung in diesem Sinn kann leicht eine Organisation geschaffen werden, die ganz anderen Zwecken dient; die Sozialdemokratie, deren Tendenz ja nichts ferner liegt als wirkliche Einigung, hat stets ein bemerkenswertes Geschick auf diesem Gebiet bewährt.

Es erscheinen somit, ehe Organisationen dieser Art wirksam und gefahrlos werden, doch einige Vorarbeiten nötig. Bei allen großen Arbeiterbewegungen treten die agitatorischen Elemente, die zur Agitation am leichtesten zu schulenden Kolonnen in den Vordergrund, und das ist gerade der jugendlichste, der am mindesten seßhafte, der am wenigsten durch die Not des Daseins, durch die Pflicht der Fürsorge für die Familie gedrückte Teil. Sollte es nicht möglich sein, auch in den Kreisen der Fabrikarbeiter eine gewisse Organisation durchzuführen, analog dem Handwerk in vielen Betrieben ein geordnetes Lehrlingswesen zu schaffen, dem geübten, technisch durchgebildeten Arbeiter eine gewisse bevorzugte Stellung tatsächlich und rechtlich zu schaffen, die Mitwirkung bei Wahlen für organisatorische Zwecke an gewisse Voraussetzungen des Alters, der technischen Befähigung, der Zeit der Zugehörigkeit zum Betrieb zu binden? Wir begnügen uns hier mit der Andeutung eines Gedankens für die Organisation, die Gliederung der Arbeitermassen, die uns nach vielen Richtungen hin nicht unfruchtbar erscheint. In vielen Industriezweigen werden sich schon Ansätze und Bausteine finden, die in dieser Richtung sich verwerten lassen. Viele der neu geschaffenen Institutionen, so die Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung bieten ein genügendes Feld, Arbeiter und Arbeitgeber gemeinsam für öffentliche Zwecke wirken zu lassen. In einer wohlüberlegten Pflege dieses Gebietes, aber nur unter Durchführung jenes Unterbaues in der Gliederung der Arbeitermassen, scheint uns das wesentlichste Mittel zu liegen, dem „vierten Stand“ diejenige Mitwirkung bei der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten zu sichern, die ihn mit zum bewußten Träger der Organisation von Staat und Gesellschaft macht, die ihn langsam, aber wirksam dem Einfluß der sozialrevolutionären Propaganda entzieht.

Es bleibt schließlich noch eine Frage zu behandeln, die vielfach aus Anlaß der Streiks zur Diskussion gezogen wurde, die Frage der Aktiengesellschaften und ihres Einflusses auf die Verhältnisse zwischen Arbeiter und Arbeitgeber.

Die Freigebung der Bildung von Aktiengesellschaften für alle industriellen Zwecke, diese Freigebung oder sagen wir richtiger, diese Privilegierung der Assoziation des Kapitals verdanken wir jener Zeit, in welcher der Gedanke, daß in vollster wirtschaftlicher Freiheit alles Heil liege, der alleinherrschende war. Wir stehen nicht an, es offen auszusprechen, daß wir diesen Schritt, so wie er getan, für einen schweren [ Druckseite 396 ] wirtschaftlichen und politischen Fehler gehalten haben. Eine lange Reihe beklagenswerter und bedenklicher Notstände unseres ganzen wirtschaftlichen Lebens lassen sich auf diese Aktienfreiheit zurückführen, und daß die Verhältnisse zu den Arbeitern bei dem Betrieb von Aktienunternehmungen vielfach um vieles schlechter stehen als da, wo die Persönlichkeit des Betriebsunternehmers als ein fühlendes, wirklich persönliches Wesen dem Arbeiter gegenübersteht, ist außer Zweifel.

Aber der einmal getane Schritt läßt sich nicht ohne weiteres rückwärts tun. Man kann höchstens für die Zukunft Neubildungen hindern, man kann für Bestehendes auf Maßregeln denken, welche für die Vertretung der Gesellschaften den Arbeitern gegenüber bessere Garantien schaffen. In der Hauptsache läßt sich hier nur mit den allgemeinen Maßregeln des Arbeiterschutzes durch Gesetzgebung und Verwaltung wirken, die bereits besprochen wurden.

Über Vorschläge, welche dahin gehen, Aktiengesellschaften zu expropriieren, in Anteilsgenossenschaften der Arbeiter zur verwandeln und andere mehr oder weniger sozialistische Projekte verlieren wir kein Wort; unsere Stellung zu diesen Fragen haben wir genügend klargelegt.

Die ganze Streikbewegung dieses Frühsommers bleibt jedenfalls eine Mahnung von furchtbarem Ernst zur Tätigkeit auf dem von uns behandelten Gebiet. Möge diese vor allem getragen sein von klarem Bewußtsein des zu erreichenden Ziels ─ und möge man allseitig sich gegenwärtig halten, daß es auf praktische Fortschritte zu diesem Ziel ankommt, nicht auf agitatorische Ausnutzung der Ereignisse für Parteiund Wahlzwecke.

Registerinformationen

Regionen

  • Holland
  • Preußen
  • Ruhrgebiet
  • Saarland
  • Sachsen, Königreich
  • Schlesien, Provinz

Orte

  • Paris

Personen

  • Hammerstein, Wilhelm Freiherr von (1838–1904), Chefredakteur der „Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung“
  • Wagner, Dr. Adolph (1835–1917) , Professor für Staatswissenschaften in Berlin

Sachindex

  • Agitation
  • Aktien
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Arbeitervertretung, Ältestenkollegien
  • Arbeitgeber
  • Arbeitshaus
  • Arbeitsordnung, siehe auch Fabrikordnung
  • Arbeitsvertrag
  • Arbeitszeit
  • Beamte
  • Bergarbeiter
  • Bergarbeiterstreik
  • Börse
  • Bundesrat
  • Christentum
  • Einigungsämter
  • Fabrik
  • Fabrikarbeiter
  • Fabrikinspektoren
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Freizügigkeit
  • Gefahrenschutz
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung (17.7.1878)
  • Gesetz, betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (1.5.1889)
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Allgemeine Gewerbeordnung (17.1.1845)
  • Handwerk, Handwerker
  • Hausindustrie
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kinderarbeit
  • Koalitionsfreiheit
  • Kohlen
  • Kontraktbruch
  • Korporationen
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Landarbeiter
  • Landwirtschaft
  • Lehrlinge
  • Lohn
  • Maschinen
  • Normalarbeitstag
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Polizei
  • Presse
  • Presse – Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung
  • Presse – Der Sozialdemokrat
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Reichsverfassung
  • Revolution
  • Sittlichkeit der Arbeiter
  • Soldaten
  • Soziales Königtum
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Sozialreform
  • Streik
  • Trucksystem
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Wirtschaftsliberalismus
  • 1Die „Conservative Correspondenz“ erschien seit 1885 im Auftrag des Wahlvereins der Deutschen Konservativen in Berlin. Redakteur war Dr. Martin Griesemann. »
  • 2Allgemeine Gewerbeordnung vom 17.1.1845 (PrGS, S. 41), zum Nachfolgenden vgl. die Dokumente in Bd. 4 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 3Der Bergarbeiterstreik des Jahres 1889 war mit weit über 100 000 Teilnehmern die bis dahin größte Streikbewegung der deutschen Geschichte. Der Ausstand, in dessen Mittelpunkt Lohn- und Arbeitszeitforderungen standen, begann spontan in den ersten Maitagen im nördlichen Ruhrgebiet und breitete sich rasch aus. Gestreikt wurde auch in Schlesien, Sachsen und an der Saar. Die teilweise mit Hilfe des Militärs unterdrückten Arbeitsniederlegungen forderten bis Ende Mai 45 Menschenleben. Die Streikbewegung setzte sich in den folgenden Monaten sporadisch fort, vgl. Nr. 92.Zum Bergarbeiterstreik vgl. H(einrich) Imbusch, Arbeitsverhältnis und Arbeiterorganisation im deutschen Bergbau, Essen 1908, S. 277─307; Otto Hue, Die Bergarbeiter. Zweiter Band, Stuttgart 1913, S. 354─397; Wolfgang Köllmann (Hg.), Der Bergarbeiterstreik von 1889 und die Gründung des „Alten Verbandes“ in ausgewählten Dokumenten der Zeit, Bochum 1969; Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, 2. Auflage, Bonn 1981, S. 573─597; Karl Ditt/Dagmar Kift (Hg.), 1889. Bergarbeiterstreiks und Wilhelminische Gesellschaft, Hagen 1989; Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichskanzler, München 1998, S. 571─592. »
  • 4Es handelt sich um das zweite Einladungsschreiben des Komitees für den Internationalen Sozialistenkongreß, der vom 14. bis 20.7.1889 in Paris tagte. Das Schreiben ist (in abweichender Übersetzung) abgedruckt in: Der Sozialdemokrat Nr. 22 vom 1.6.1889. »
  • 5Gesetz, betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, vom 1.5.1889 (RGBl, S. 55); zur Entstehung dieses Gesetzes vgl. Werner Schubert (Hg.), 100 Jahre Genossenschaftsgesetz. Quellen zur Entstehung und jetziger Stand, Tübingen 1989. »
  • 6Die Auseinandersetzungen über eine Bestrafung des „Kontraktbruchs“ sind in Bd. 4 der I. Abteilung dieser Quellensammlung dokumentiert; vgl. die dortige Einleitung S. XXXIII f. und insbesondere Nr. 91, Nr. 116, Nr. 125, Nr. 127, Nr. 133, Nr. 139, Nr. 142, Nr. 145, Nr. 146 und Nr. 153─155. »
  • 7Vgl. Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 88, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0088

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