Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 87

1889 Juni 5

Münchener Post1 Die Krönung des Gebäudes

Druck

Positives Bild der Gesetzgebung zur Sozialversicherung, bei der noch die Witwen- und Waisenversorgung fehlt; Defizite in den Bereichen Arbeiterschutz und Arbeiterrecht

Von einem namhaften sozialpolitischen Schriftsteller (Fachmann) erhalten wir nachstehenden Artikel, den wir unsern Lesern uns mitzuteilen beeilen, obgleich wir nicht mit allen Ausführungen übereinstimmen:

Der Reichstag hat seine Sitzungen beschlossen; den Hauptgegenstand seiner Beratungen bildete der Entwurf des Gesetzes, betreffend die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter,2 jenes Gesetzes, das so vielfach in der Presse und selbst in Reden von maßgebender Stelle mit Stolz und Freude als das Schlußglied in der Kette der neuen Sozialgesetzgebung, als die Vollendung des seinerzeit in der Novemberbotschaft3 versprochenen Werks gefeiert worden ist. Da ist es gewiß zeitgemäß, wenn einmal an dieser Stelle untersucht wird, inwieweit jene Erwartungen berechtigt sind. Vermag überhaupt der Entwurf und vermag die ganze Arbeiterversicherung, von der die Invalidenversicherung ja nur ein Teil ist, die Anforderungen zu erfüllen, die seitens der Arbeiter mit Recht an die Gesetzgebung erhoben werden können, und wie verhält sich das, was die neuen sozialpolitischen Gesetze bestenfalls leisten, zu dem, was sie von jenen Anforderungen unerfüllt lassen? Wir schicken der Erörterung dieser Frage voraus, daß wir die Gesetze seit dem ersten Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes 18804 mit Freude und Sympathie begrüßt haben. Sie bezeichnen einen prinzipiellen Fortschritt bedeutsamer Art; und wir wissen namentlich auch, daß es wesentlich ihr Verdienst ist, wenn in den letzten Jahren ein gewisser Stillstand in dem steten Anwachsen der Armenlasten eingetreten ist.5

Die Kranken-, die Unfalls- und die Altersversicherung sichern dem Lohnarbeiter den Lebensunterhalt in den Zeiten, in denen seine einzige Einkommensquelle, seine Arbeitskraft, zeitweise durch Krankheit, Unfall oder Alter unterbrochen oder aufgehoben ist. Sie erstrecken sich nur auf den Lohnarbeiter. Der Arbeitslohn, wie er sich derzeit und unter den unsere Wirtschaft beherrschenden volkswirtschaftlichen Gesetzen [ Druckseite 382 ] gestaltet, reicht nicht hin, um auch über jene Unterbrechungen des Erwerbs hinwegzuhelfen. Die theoretischen Ermittlungen über die Höhe des Arbeitslohns von Brentano 6, Engel 7 u. a. decken sich in dieser Beziehung vollständig mit der täglichen Erfahrung. Die Arbeiterversicherungsgesetze steuern dieser ungenügenden Lohnfestsetzung, indem sie die Unternehmer zu Beiträgen zwingen und indem sie die zur Krankenhilfe usw. erforderlichen Einrichtungen (Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, öffentliche Versicherungsanstalten) unter staatlichen Schutz und staatliche Garantie stellen.8 Sie bewirken, daß der Arbeiter fortan während des Arbeitsvertrags Hilfe bei Krankheit, Unfall usw. findet, die er früher aufgrund des Arbeitsvertrags sich nicht zu verschaffen vermochte. Die Gesetze charakterisieren sich somit volkswirtschaftlich als Lohnregulierungsgesetze; darin liegt ihr Verdienst, darin aber auch die Grenze ihrer Wirksamkeit.

Die Lohnregulierung, d. h. die Erlangung eines den theoretischen Anforderungen und den wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechenden Arbeitslohns ist gewiß ein nicht unwesentliches Stück der Ansprüche, die die Arbeiter erheben, um zu einer den heutigen Verhältnissen entsprechenden Gestaltung des Arbeitsverhältnisses zu gelangen. Aber sie wird durch die vorhandenen Gesetze und Entwürfe noch lange nicht verwirklicht ─ es fehlt namentlich noch die Witwen- und Waisenversorgung; und sie geht Hand in Hand mit den anderen Forderungen der Arbeiter: auf Durchführung möglichst großer Sicherheit und möglichst großer Stetigkeit der Arbeit, tunlichster Befreiung von den jetzt häufig eintretenden Pausen der Arbeit infolge vorhergegangener Überproduktion.

Im Interesse der Sicherheit bei der Arbeit verlangen die Arbeiter z. B. scharfe Durchführung der privatrechtlichen Haftpflicht der Unternehmer; Vermehrung der Zahl und der Befugnisse der Fabrikinspektoren; Überwachung der Hausindustrie und des kleinen Gewerbes; auf die Stetigkeit der Arbeit, die tunlichste Beseitigung der Produktionskrisen beziehen sich die Forderungen der internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung, des Normal- oder Maximalarbeitstags, der Beseitigung der Kinderarbeit, der Regelung der Frauen- und Sonntagsarbeit.

Neben und hinter all diesen Forderungen, die die Neubeordnung des Arbeitsverhältnisses bezwecken, stehen aber die weiter- und tiefergehenden Ansprüche, die im Interesse der aufsteigenden Klassenbewegung erhoben werden. Die Arbeiter verlangen, nicht als Lohnarbeiter im Gegensatz zu den Unternehmern, sondern als Besitzklasse im Gegensatz zu den anderen Besitzklassen nicht nur bessere Arbeitsbedingungen, sondern überhaupt Beseitigung der Schranken, welche die große Verschiedenheit der Besitzverhältnisse derzeit, wenn nicht rechtlich, so doch tatsächlich ihrer Teilnahme an den höheren Lebensgütern, vor allem auch ihrer Anteilnahme am [ Druckseite 383 ] öffentlichen Leben entgegensetzt; die soziale Frage hat nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre politische Seite.

Wir prüfen nun nicht die Berechtigung oder Durchführbarkeit der einzelnen aufgezählten Forderungen; wir konstatieren nur, daß im Verhältnis zur Zahl und dem Gewicht dieser vielfachen Ansprüche die Mitwirkung, die die Arbeiterversicherungsgesetze bestenfalls zu leisten vermögen, recht gering ist; und es stehen demnach die Hoffnungen derer auf schwachen Füßen, die glauben, die Arbeiter durch jene Gesetze gewissermaßen abgefunden und befriedigt zu haben. Wir konstatieren aber ferner, daß selbst die Neuordnung des Arbeitsverhältnisses, also der einfachere Teil der sozialen Frage, durch die Arbeiterversicherung nur ein verhältnismäßig kleines Stück weiter gefördert wird. Neben der Lohnregulierung stehen die Forderungen des Arbeiterschutzes und der Regulierung der Arbeitszeit; Kranken-, Unfall- und Altersversicherung sind aber nichts als eine noch unvollständige Lohnregulierung. Fragt man aber, inwieweit unsere Regierungen, etwa nach dem Grundsatz: „das eine tun und das andere nicht lassen“, neben ihren der Lohnregulierung zugewandten Bemühungen sich auch jener Forderungen angenommen haben, so ist die Antwort bekanntlich sehr einfach. Die Reichsregierung nimmt sich zwar der Lohnregulierungsgesetze an, tut aber wenig für den Arbeiterschutz und weist die Aufforderung des Reichstags, auch zum Versuch einer Regulierung der Arbeitszeit gesetzlich einzugreifen, entschieden und beharrlich zurück.9 Und wenn in letzterer Beziehung früher fast nichts geschehen war, so daß wenigstens ein Rückschritt eigentlich kaum möglich ist, so hat auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes, abgesehen von der ungenügenden Fabrikinspektion und der völligen Ungebundenheit der Hausindustrie, sogar eine Lockerung der früheren Garantien stattgehabt. Eine solche Lockerung ist es nämlich ganz entschieden, wenn die Unfallversicherungsgesetze die persönliche Schadenersatzpflicht des Unternehmers, der seine Arbeiter schuldhafteroder nachlässigerweise beschädigt hat, fast ganz beseitigen. Gleichwohl haben die drei Forderungen die gleiche theoretische Berechtigung: in der Unmöglichkeit für den einzelnen Arbeiter, sich dieselben im Wege des freien Vortrags zu verschaffen. Seitdem stehen sie tatsächlich im engsten Zusammenhang; man denke nur, wie die Unfallversicherung durch die Ausdehnung des Fabrikinspektorats, die Kranken- und Invalidenversicherung durch den Maximalarbeitstag oder durch Regulierung der Sonntagsarbeit, der Frauen- und Kinderarbeit erleichtert würde.

Wenn wir es aber unterlassen, den Grund der so verschiedenen Behandlung der drei Materien zu suchen, so wollen wir dagegen auf einen wesentlichen Unterschied in ihrer Bedeutsamkeit aufmerksam machen. Die Lohnregulierung in Kranken-, Unfallversicherung usw. ist politisch und sozial belanglos; sie ändert weder etwas in der Stellung des Arbeiters zum Staat noch in seiner Stellung zum Unternehmer; wie sie ja bei uns Hand in Hand geht mit der machtlosen Stellung der Volksvertretung, den Zöllen auf notwendigste Lebensmittel, dem Streikerlaß10 des Herrn v. Puttkamer und dem Sozialistengesetz. Die Durchführung des Arbeiterschutzes, vor den Zivilgerichten gegen fahrlässige Unternehmer oder vor völlig unabhängigen und mit genügenden Befugnissen ausgestatteten Fabrikinspektoren, und noch mehr die Regulierung der Arbeitszeit durch Normalarbeitstag, durch Verbot der Kinderarbeit, der Sonntagsarbeit usw. würde neben der Besserung der materiellen Lage der Unvermögenden [ Druckseite 384 ] auch ihre Stellung gegenüber unbilligen und selbstsüchtigen Unternehmern stärken; sie würde aber außerdem auch ganzen Schichten der Bevölkerung die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten erst eröffnen, die ihnen derzeit tatsächlich verschlossen ist. Derzeit ist unsere Selbstverwaltung in allen ihren Zweigen fast ausschließlich in den Händen der Besitzenden. Diese Tatsache, welche die große Masse der Nichtbesitzenden von den öffentlichen Dingen, trotz aller Gesetze, fernhält, ist aber wesentlich die Folge davon, daß den Unvermögenden jetzt durch den langen Arbeitstag die Zeit und infolge des erschöpfenden Wechsels zwischen Arbeitsüberhäufung (Überarbeit, Nachtarbeit) und Arbeitslosigkeit auch vielfach die Lust und die Geistesfrische zur Mitarbeit auf jenen Gebieten fehlt. Der einzelne Unternehmer kann weder den Arbeitstag seiner Arbeiter über ein gewisses Maß kürzen, noch kann er durch Verzicht auf Überstunden und gelegentliche Reduktionen der Arbeiterzahl sein Unternehmen hinter allen anderen gleichartigen zurückstehen lassen. Hier kann nur die Gesetzgebung helfen; und deswegen müßte jeder freiheitlich Gesinnte, dem es mit der Anteilnahme aller am Staat ernst ist, um so mehr dafür eintreten, daß neben der Regulierung des Arbeitslohnes der Arbeiterschutz und die Regulierung der Arbeitszeit gesetzlich geordnet wird. Das ist eine demokratische Forderung; vielleicht ist die Haltung des Bundesrats zu den Anträgen über Arbeiterschutz, Sonntagsarbeit usw. gerade deshalb erklärlich.11

Registerinformationen

Personen

  • Brentano, Dr. Lujo (1844–1931) , Professor für Nationalökonomie in Straßburg
  • Engel, Dr. Ernst (1821–1896) , Direktor des preußischen Statistischen Büros in Berlin
  • Griesemann, Dr. Martin (gest. 1897) , Redakteur der „Conservativen Correspondenz“ in Berlin
  • Puttkamer, Robert von (1828–1900) , preußischer Innenminister

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Arbeitgeber
  • Arbeitslosigkeit, siehe auch Arbeitslosenversicherung
  • Arbeitsvertrag
  • Arbeitszeit
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Bergarbeiter
  • Bergarbeiterstreik
  • Berufsgenossenschaften
  • Bundesrat
  • Bundesregierungen
  • Einigungsämter
  • Fabrikinspektoren
  • Frauenarbeit
  • Gefahrenschutz
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Haftpflicht
  • Hausindustrie
  • Hilfskassen
  • Kinderarbeit
  • Nachtarbeit
  • Normalarbeitstag
  • Parteien
  • Parteien – Konservative
  • Polizei
  • Presse
  • Presse – Conservative Correspondenz
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Reichsverfassung
  • Selbstverwaltung
  • Sonntagsruhe
  • Soziale Frage
  • Streik
  • Waisen
  • Witwen
  • Zölle
  • 1Die 1886 gegründete gemäßigt sozialdemokratische „Münchener Post. Unabhängige Zeitung für Jedermann aus dem Volke“ erschien zweimal wöchentlich. Sie wurde von Louis Viereck herausgegeben. »
  • 2Vgl. Bd. 6 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 3Vgl. Nr. 9. »
  • 4Vgl. Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 5Anmerkung in der Quelle: In dieser Hinsicht müssen wir dem geehrten Herrn Einsender leider widersprechen. Die Abnahme der Armenlasten beruht u. E. gleich der geringeren Frequenz der Arbeitshäuser in den letzten Jahren in erster Linie auf der steigenden Prosperität der Geschäfte und der dadurch bewirkten erhöhten Arbeitsgelegenheit. Daß die Armenlasten jetzt zum Teil auf die Schultern der arbeitenden Klassen selber abgewälzt sind, ist doch ein recht zweifelhafter „Fortschritt“. Red(aktion). »
  • 6Dr. Ludwig Josef (Lujo) Brentano war seit Frühjahr 1889 Professor für Nationalökonomie in Leipzig. Vgl. Lujo Brentano, Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung, Leipzig 1876. »
  • 7Dr. Ernst Engel (1821─1896), 1860 bis 1882 Direktor des preußischen Statistischen Büros in Berlin. Vgl. Ernst Engel, Der Wert des Menschen 1. Teil: Der Kostenwert des Menschen, Berlin 1883. »
  • 8Anmerkung in der Quelle: Auch dieser Fortschritt hat seine bedenkliche Kehrseite. Die Bevormundung der freien Hilfskassen und fachgewerblichen Verbände ist der erste Schritt zum cäsaristischen Polizeisozialismus, dessen ideeller Schaden die geringen materiellen Vorteile überwiegen dürfte. Redaktion. »
  • 9Vgl. hierzu Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 10Vgl. Nr. 70 Anm. 5. »
  • 11Vgl. Nr. 173─177 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 87, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0087

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