Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

Eine chronologische Auflistung der Quellen über alle Bände hinweg ist als PDF verfügbar.

Abteilung II, 1. Band

Nr. 83

1888 September 5

Rede1 des Reichstagsabgeordneten Franz Hitze auf der 35. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands

Druck

Positive Arbeiterpolitik ist ein Mittel gegen die Entsittlichung der Arbeiter

„Das Christentum muß die soziale Frage lösen!“ Wie oft ist diese Wahrheit auf den katholischen Generalversammlungen ausgesprochen worden!2 Und gewiß, wer möchte sie bezweifeln? Aber auch das Umgekehrte ist wahr: Die sozialen Verhältnisse bedingen das christliche Leben, und wenn Staat und Gesellschaft, wenn alle beteiligten Faktoren nicht ernstlich die Hand bieten zur sozialen Reform, dann wird die Entsittlichung unserer Massen nicht aufgehalten werden, dann wird auch die Kirche es nicht vermögen, der Entchristlichung Schranken zu setzen. Das sei der Gegenstand meines Vortrags.

Christentum und soziale Frage sind solidarisch. Das möchte ich Ihnen speziell unter Berücksichtigung der Arbeiterfrage etwas näher darlegen. Meine Herren! Die Arbeiterfrage, die soziale Frage ist zunächst eine materielle, eine Eigentums- und Einkommensfrage. Aber Eigentum und Einkommen, sind sie nicht auch wichtig für das sittliche Leben? Gewiß, es gibt einen Heroismus der Tugend, der sogar auf den Besitz freiwillig verzichtet; es gibt einen Heroismus der Tugend, der auch die Hütten der Armen mit Hingebung und Gottvertrauen zu verklären weiß; meine Herren, es gibt auch eine idyllische Armut, die nicht entbehrt, weil sie kein Bedürfnis kennt, eine Armut, welche in saurer Arbeit der Erde ihr Brot abgewinnt, eine Armut, die physisch und sittlich sogar stärkt. Aber ganz verschieden davon ist die moderne Massenarmut, die proletarische Armut, die aus der Hand in den Mund lebt, die sich nichts daraus macht, auch durch Betteln und Armenpflege und Leihhaus die ins Wanken geratene Bilanz wieder ins Gleichgewicht zu bringen, jene moderne Massenarmut, die Armut der Verzweiflung, die in Groll und Haß ihre Hand erhebt gegen den Besitz, die nichts zu verlieren hat, auch nicht durch die Revolution, und die dem Bestehenden Rache schwört. „Armut und Reichtum gib mir nicht; verleihe mir, was nötig ist zu meinem Lebensunterhalt!“ so lehrt uns die heilige Schrift beten,3 und das ist auch das Ziel einer gesunden christlichen Sozialreform. Alles, was diesem Ziel dient: eine gefestigte wirtschaftliche Existenz, ein stetiges, ausreichendes Einkommen [ Druckseite 339 ] zu sichern, kommt auch dem sittlichen Volksleben zugute. Meine Herren, wer einen Bauern aus Wuchererhänden befreit, wer einen Bauernhof rettet, der hat eine Stätte christlicher Kultur gerettet. (Bravo!) Meine Herren! Wenn es uns gelingen würde, wieder einen gewerblichen Mittelstand zu schaffen, dem Handwerkerstand wieder ein Recht der Arbeit, eine eigene Werkstatt zu sichern, wahrlich, es würde auch ein sittlicher Gewinn für unser Volksleben sein. Wer mithilft, dem Arbeiter ein eigenes Heim, ein Sparkassenbuch zu erwerben, der kann sich rühmen, der Entsittlichung eine Wehr entgegengesetzt zu haben, ein Stück Land der Kultur gerettet zu haben. (Bravo!)

Meine Herren! Das ist auch die sittliche Seite der Arbeiterversicherung. Dieselbe ist ein Sparzwang, eine Erziehung zur Selbsthilfe, ein Ansporn, auf dem notdürftig gesicherten Boden durch freie Sparsamkeit weiterzubauen, wie sie andererseits das Gefühl der sozialen Verlassenheit hebt. Wenn es gelungen sein wird, wie durch Kranken- und Unfallversicherung so auch durch die Alters-, Invaliden-, Waisen- und Witwenversorgung, durch die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, dem Arbeiter die Freude am Schaffen und Leben wiederzugeben, wahrlich, es wäre das auch ein sittlicher Gewinn. (Bravo!) Meine Herren! Wie die Versicherung Ausdruck und Frucht des praktischen Christentums ist, so wird sie auch dem praktischen Christentum wieder zugute kommen.

Die Arbeiterfrage ist in zweiter Reihe eine Frage des öffentlichen Rechts. Gestern abend schon ist von dieser Stelle die Bedeutung, die Dringlichkeit und auch die sittliche Aufgabe der Arbeiterschutzgesetzgebung von beredterem Mund Ihnen dargelegt worden.4 In der Tat, die Sache ist klar. Wie ist ein religiöses Leben möglich ohne gesetzlichen Schutz der Sonntagsruhe? Wie ist ein geordnetes Familienleben möglich, wenn Vater und Kinder 12, 13 und 14 Stunden in der Fabrik festgehalten sind, sich während der ganzen Woche kaum sehen, sich des Zusammenseins kaum freuen können? Wie ist eine sittliche Erziehung des Kindes möglich, wenn schon das Kind zur Fabrik muß, wenn selbst die Mutter dem Erwerb in der Fabrik nachgeht, Haus und Kinder sich selbst überlassend? Und die Frage der Trennung der Geschlechter, der Errichtung besonderer Ankleide- und Waschräume, sind es nicht sittliche Forderungen, durch die Sittlichkeit gefordert und die Sittlichkeit bedingend?

Meine Herren! Die Arbeiterfrage ist drittens eine Frage des gesellschaftlichen Friedens. Im Kampf, im Krieg verwildern die Herzen, werden wüst die Sitten. Die sozialen Gegensätze verhärten die Herzen, und wenn die sozialen Gegensätze eine gewisse Höhe erreichen, dann predigt auch die Kirche Liebe und Pflicht vergebens. Der katholische Glaube hat das irische Volk nicht abgehalten, sich der Partei der Verschwörer in die Arme zu werfen. Die Jahrhunderte dauernden Ungerechtigkeiten haben die Gemüter so aufgeregt, daß selbst das Mahnwort des Heiligen Vaters sie nicht zu beruhigen vermochte.5 Soll die Sozialreform die Herzen versöhnen, so muß [ Druckseite 340 ] sie von christlichem Geist getragen sein, und soll die Kirche ihre Friedensmission erfüllen, dann müssen die berechtigten Forderungen des Arbeiterstands befriedigende Abhilfe finden. (Bravo!)

Meine Herren! Die Arbeiterfrage ist viertens eine sittliche Frage; denn sie schließt eine ganze Reihe von Fragen in sich, die in Ursache und Wirkung mit dem sittlichen Leben in innigster Berührung stehen.

Handwerk und Hausindustrie sind abgelöst durch die Fabrik, die Ordnung der Zunft ist durchbrochen, die sittliche Erziehung, welche die Zunft dem Lehrling, dem Gesellen sicherte ─ wie ersetzen wir sie in der Fabrik? Sie sagen mir: Diese Verpflichtungen gehen auf den Fabrikherren über. Gewiß; aber wie die Durchführung sichern? Der Arbeitgeber von heute steht seinen Arbeitern zu fern; es ruhen der Arbeiten, der Aufgaben zu viele auf seinen Schultern. Wie schaffen wir eine Mittelinstanz, ein vermittelndes Organ, um auch in der Fabrik die sittliche Solidarität und eine Erziehung der Jugend zu sichern? Antwort: Durch Gründung und Einrichtung von Ältestenkollegien, eines gewählten Arbeitervorstands, der durch das Vertrauen der Arbeiter getragen, durch die Autorität des Arbeitgebers gestützt ist. Diese Arbeitervorstände müssen die sittliche Erziehung und die sittliche Disziplin wiederherstellen.

Die Zunft gab dem Arbeiter auch einen materiellen Rückhalt, einen materiellen Rückhalt dem Meister, dem Lehrling, dem Gesellen; sie wirkte karitativ. Diese persönlichen Beziehungen zwischen Fabrikherren und Arbeitern, wie zwischen den Arbeitern unter sich, fehlen in der modernen Fabrik. Die Arbeiter selbst stehen sich feindlich gegenüber, Arbeitgeber und Arbeiter ebenso. Wie schaffen wir ein Bindeglied, wie schaffen wir wieder persönliche, humane Beziehungen in der Fabrik? Meine Herren, durch Gründung von Fabrikkrankenkassen, von Arbeiterunterstützungskassen, durch Vereine und karitative Anstalten aller Art. Es sind soziale Veranstaltungen ─ für sittliche karitative Zwecke.

Meine Herren! Eine neue Völkerwanderung ist durch die industrielle Entwicklung über uns hereingebrochen. Fremde Menschen strömen in unseren Industriezentren zusammen, losgelöst von Heimat und Sitte, preisgegeben der Verführung und Ausbeutung. Die bestehenden Wohnstätten genügen nicht, sie aufzunehmen; dicht gedrängt wohnen sie in großen Mietskasernen zusammen. Den ersten Bedingungen des Familienlebens, des häuslichen Friedens kann dort nicht genügt werden. Wie soll man Abhilfe schaffen? Durch Errichtung von gemeinnützigen Baugesellschaften, durch Gründung von Hospizien für unverheiratete Arbeiter und Arbeiterinnen. Das ist eine Frage materieller und gesundheitlicher Fürsorge; aber es ist zugleich die erste Bedingung, um der sittlichen Verwilderung ein Ziel zu setzen.

Meine Herren! Die industrielle Entwicklung hat auch in die Sphäre des weiblichen Berufs eingegriffen. Spinnen und Nähen, Stricken und Weben werden fabrikmäßig betrieben; auch das Mädchen, das jetzt zur Fabrik geht, ist dem Hause entzogen. Den ganzen Tag fern dem Hause, seiner Obhut und Sorge, verliert es nur zu leicht die sittliche Scheu und Zurückgezogenheit, den häuslichen Sinn, das Interesse und die Erfahrung der häuslichen Arbeiten. Und doch, auch diese Mädchen heiraten und sollen einen Haushalt führen; sie sollen kochen, nähen, flicken, stopfen, sie [ Druckseite 341 ] sollen dem Mann das Heim behaglich zu machen wissen, um ihn dem Wirtshaus fernzuhalten. Wie lösen wir diesen Konflikt zwischen Erwerb und weiblichem Beruf? Durch Gründung von Haushaltungsschulen, durch Nähunterricht und Kochunterricht, sei es, daß der Unternehmer diese Einrichtungen trifft, sei es, daß Vereine sich an die Spitze stellen, sei es, daß unsere Schwerstern oder Damen den Unterricht in die Hand nehmen. Meine Herren! Nähen und Kochen sind gar weltliche Dinge; aber sie sind von großer Bedeutung auch für die sittliche Zukunft unseres Volkslebens, und wahrlich, auch Geistliche und Ordensgenossenschaften haben die Pflicht, dieser Frage näherzutreten. (Bravo!)

Meine Herren! „Wandern“ ist das Los unserer industriellen Bevölkerung, wechselnd die Arbeit, wechselnd die Wohnstätten; dauernde seelsorgliche Beziehungen zur Arbeiterfamilie sind da schwer, um so schwerer, als die Zahl der Seelsorger so gering ist und nicht im Verhältnis zu dem Anwachsen der Bevölkerung steht. Wie weit liegt die Zeit hinter uns, wo der Geistliche als Hausfreund betrachtet wurde, der in allen ernstlichen Angelegenheiten des Hauses zurate gezogen wurde! Meine Herren! Wie schaffen wir Ersatz für diese Hausseelsorge, wie finden wir die alten herzlichen Beziehungen wieder? Antwort: Durch Gründung von Vereinen, durch Arbeitervereine, Arbeiterinnenvereine, Vereine für Mütter, für jugendliche Arbeiter usw. (Bravo!) Wir müssen die Arbeiter um uns sammeln; in Vereinen können wir praktische Seelsorge üben, dort können wir uns auch dem Familienleben nähern und Fragen behandeln, welche auf der Kanzel nicht behandelt werden können, dort können wir für anständige Erholung sorgen und eine christliche Bildung vermitteln. Die Vereinsbildung liegt im Zug der Zeit; wir würden unsere Zeit schlecht verstehen, wenn wir diesen Zug der Zeit nicht den Interessen des Guten dienstbar machen wollten.6 (Bravo!)

Meine Herren! Ich könnte diese Beispiele noch vermehren; es würde mir auch leicht sein für die Handwerkerfrage, für die Bauernfrage denselben Zusammenhang nachzuweisen: Christentum und soziale Frage sind solidarisch.

Aber nun lassen Sie mich einige Konsequenzen ziehen. Jedem, dem das sittliche Volksleben am Herzen liegt, der in der sittlichen Kraft unseres Volkes auch die dauernden Interessen des Vaterlands erkennt, dem Vaterland und Kirche nicht bloß in Worten, sondern auch in der Tat lieb und teuer sind, dem darf auch die soziale Frage nicht gleichgültig sein. Die soziale Frage ist keine Fachfrage, die wir den Professoren der Nationalökonomie überlassen dürfen: sie ist eine Volksfrage. (Bravo!) Alle, die im Volk stehen, die mit dem Volk arbeiten und wirken, sie müssen alle der sozialen Frage sich widmen und ihr nähertreten. (Bravo!) Es ist doch traurig, wenn so viele über die soziale Frage sprechen, aber so wenige dieselbe eines ernsten Studiums würdigen. Gerade auf diesem Gebiet macht der Dilettantismus sich breit, wo doch gründliche Erfahrung, gründliches Studium so dringend notwendig sind. Meine Herren! Es ist traurig, wenn gerade auf diesem Gebiet unsere ganze Bildung ─ von der Elementarschule und dem Gymnasium bis zur Universität ─ uns im Stich läßt und wenn auch die Hilfsmittel, die sich bieten, nicht benutzt werden.

Meine Herren! Unsere Juristen studieren römisches Recht, germanisches Recht, preußisches Landrecht; aber unser soziales Recht, seine Ziele, seine Entwicklung, zu [ Druckseite 342 ] der mitzuwirken sie berufen sind, kennen sie nicht. Schon auf dem Gymnasium werden wir bekannt gemacht mit den sozialen Kämpfen der Griechen und der Römer, mit den Sklavenaufständen, mit den Aufständen der Bauern zur Reformationszeit, mit der Emanzipation des dritten Standes in der französischen Revolution; aber den großen Emanzipationskampf unserer Tage, den Emanzipationskampf des vierten Standes,7 der sich vor unsern Augen vollzieht, der alle Kulturstaaten erzittern macht, diesen Kampf, seine treibenden Kräfte, seine Ziele kennen wir nicht. Meine Herren! Wieviel Zeit verschwenden wir nicht auf die Fragen der hohen Politik, auf Zeitungslektüre usw.? Und doch, wie selten steht uns da ein Urteil zu! Was können wir in diesen Fragen machen? Aber, meine Herren, die Frage aller politischen Fragen, welche alle bei weitem überragt, die Frage, von der die Zukunft unseres Volkes abhängt, in der wir nicht bloß zu reden, sondern vor allem auch zu handeln haben, wo heilige Pflichten uns rufen, diese Frage ─ wir bekümmern uns nicht um sie. Wir rühmen uns unserer Humanität, mit lebhafter Teilnahme und Entrüstung vernehmen wir die Schilderungen über afrikanische Zustände, über die Sklavenjagden usw., und gewiß, wer möchte seine Teilnahme versagen, seine Bewunderung nicht zollen dem Kirchenfürsten, der jetzt Europa durchreist, um die Liebe und das öffentliche Recht anzurufen gegen diese Mißstände?8 Aber, meine Herren, die sittliche und soziale Nachtseite unserer eigenen Kultur, sie halten wir uns fern. Dürfen wir es vergessen, welch schwere Vorwürfe gegen unsere Gesellschaftsordnung, gegen unsere Kultur erhoben werden, dürfen wir vergessen, daß 760 000 deutsche Männer jene Zustände für so zerfahren erachten, daß sie an keine Heilung mehr glauben und nur vom Umsturz noch Rettung erwarten?9 Meine Herren! Ist es nicht Pflicht, diese Anklagen, diese Mißstände zu prüfen und zu fragen, wieweit sie berechtigt sind, wieweit denselben Abhilfe werden kann?

Und vor allen, hochwürdige Mitbrüder, sollen auch wir uns dieser Frage fernhalten? Sollen auch wir fragen: Was geht es uns an, was können wir tun? Dürfen wir das? Gewiß, auch für uns sind die Fragen neu; auch wir sehen uns vergeblich um in unserer traditionellen Wissenschaft, in den Werken der Pastoral und der Dogmatik, über diese Fragen Unterricht zu empfangen. Gewiß, meine Herren, die Prinzipien sind alt, aber die Anwendung ist neu. Die Prinzipien finden sich schon bei Thomas von Aquin10 mustergültig entwickelt; aber wer wollte unsere Zeit der Eisenbahnen und der Dampfschiffe, der Großindustrie und der großen Städte vergleichen mit der Zeit, wo z. B. der heilige Augustinus11 seine „Civitas Dei“ oder der heilige Thomas seine „Summa“ geschrieben hat? Nein, meine Herren, wir müssen diese Fragen selbst studieren, wir müssen lehrend lernen und lernend lehren, mag das selbst viele Gefahren haben; die Not der Zeit drängt dazu. Wir alle müssen die sozialen Fragen studieren, [ Druckseite 343 ] müssen wissen und lehren, Recht und Unrecht zu scheiden. Auch in der Sozialdemokratie sind Wahrheit und Irrtum gemischt; der Irrtum wird gefährlich durch die Wahrheit, die ihm beigemischt ist. Meine Herren! Weisen wir den Irrtum zurück, eignen wir uns die Wahrheit an, und wir haben die Sozialdemokratie überwunden. (Bravo!) Auch die Lehren der Nationalökonomie müssen verarbeitet und den katholischen Grundsätzen angepaßt werden; auch in den Irrungen und Wirrungen der sozialen Fragen müssen wir festhalten an den Idealen des Christentums, müssen sie in das praktische Leben einführen, da hier Wirklichkeit und Ideale in Harmonie zu bringen sind. (Bravo!) Meine Herren! Alle Hochachtung vor dem belgischen Klerus, vor seiner sittlichen Integrität wie vor seiner theologischen Bildung; aber wenn das Manchestertum in Belgien solche Verwüstungen hat anrichten können, kann ich den Klerus von Mitschuld nicht freisprechen. Wenn Belgien einen katholischen Bischof wie Ketteler 12 gehabt hätte, es wäre nicht so weit gekommen, wie es gekommen ist.13

Meine Herren! Wir müssen die sozialen Fragen studieren: Auch das Wort Gottes wird Inhalt und Färbung durch die sozialen Verhältnisse bekommen; wir müssen konkret die Gefahren des Familienlebens zeigen, müssen die Klippen zu vermeiden lehren. Wenn wir es fertigbringen, Braut und Bräutigam zu bewegen, daß sie uns das Versprechen geben, daß die Frau nicht mehr zur Fabrik gehe, daß sie ihre freie Zeit zu ihrer weiteren häuslichen Ausbildung verwende, dann haben wir schon viel gewonnen. Das ist die praktische Seelsorge.

Meine Herren! Wie sollen wir Propaganda machen für die Idee des Rechts, für den richtigen Weg, die Arbeiterfrage zu lösen? Für alle Übelstände gibt’s Mittel der Abhilfe; wir müssen sie nur kennen. Wenn so wenig auf sozialem Gebiet geschieht, es ist wahrhaftig mehr Unwissenheit als böser Wille. Wir müssen uns an die Arbeitgeber wenden, an alle, die es noch gut meinen, die noch Gefühl haben, die noch etwas tun können und wollen. Wir alle müssen unser Scherflein beitragen, müssen unser Talent in den Dienst der sozialen Frage stellen: wer wenig hat, wenig, wer viel hat, viel; wer reden kann, der rede, halte Vorträge in Vereinen und Versammlungen; wer schreiben kann, der schreibe. Unsere Presse ist so arm an Artikeln über die soziale Frage; immer sind es dieselben Männer, die schreiben müssen, dieselben, die den Ruf erheben und die schon mit Arbeit überlastet sind. (Sehr wahr! Bei den Berichterstattern.) Meine Herren! Die Presse ist eine Großmacht, benutzen wir sie doch mehr, als wir es bis heute getan haben.

Die Herren Ärzte stehen dem Familienleben, dem Volk so nahe. Wie oft ringen sie verzweifelt die Hände ob all des materiellen und sittlichen Elends, das sich ihnen darbietet; wie oft möchten sie helfen! Sie können’s aber nicht, weil die materiellen Mittel fehlen. Warum greifen sie nicht zur Feder, um diese Zustände zu schildern, zu mahnen, zu warnen; warum appellieren sie nicht an die Arbeitgeber, an Gesetzgebung und Verwaltung, an teilnehmende Menschenfreunde, die helfen können und wollen? Sie sind vielleicht Kassenärzte und haben dadurch Erfahrungen auf dem Gebiet der Krankenversicherung gemacht; was sagen sie über die Wirkungen dieses [ Druckseite 344 ] Gesetzes? Haben sie keine Vorschläge bezüglich der Organisation, bezüglich der Weiterbildung? Sie sehen doch, welch ein Elend in der Familie erscheint, wenn nach der 13wöchigen Unterstützung auf einmal die Hilfe aufhört; nun wohlan, warum reden sie nicht?! Sie sind am ersten in der Lage, über Wohnungsfragen, über das Verderben der Trunksucht, über die Fragen des Arbeiterschutzes zu urteilen! Es lebt ferner im deutschen Ärztestand so viel Idealismus, seine Angehörigen haben die meisten Erfahrungen: Warum sind sie stumm, warum sprechen sie nicht, wo die ganze Welt von der sozialen Frage spricht? (Bravo!)

Meine Herren! Wir alle können arbeiten, wenn wir wollen. Vor fünf Jahren starb in Wien ein Mann, dem Gott den Segen eigener Kinder versagt hatte und der seine Lebensaufgabe darin erblickte, die Vormundschaft für diejenigen zu übernehmen, für die kein Vormund sich fand, und mehrere Hunderte von Mündeln ─ weinten Tränen des Danks an seinem Grab. Darf ich auf ein paralleles Gebiet verweisen? Wir haben Krankenversicherung, wir haben Unfallversicherung; in der Gesetzgebung ist alles aufgeboten, um auch dem gemeinen Mann es möglich zu machen, sein Recht selbst zu suchen. Allein die Fragen sind neu und schwierig. Der Arbeitsmann kommt oft in Verlegenheit, oft muß er zu Winkeladvokaten seine Zuflucht nehmen, oft kommt er um sein gutes Recht. Sollten unter Ihnen nicht Männer sein, die bereit wären, für ihren Bezirk die Anwaltschaft des armen Mannes zu übernehmen? (Bravo!) Es wäre ein edles Werk, und das „Arbeiterwohl“ ist gerne bereit, mitzuhelfen. Nichts empfindet man schmerzlicher, als wenn man Unrecht leiden muß und wenn das selbst eingebildet wäre. Es ist ein Werk der christlichen Liebe, zugleich eine Betätigung des Patriotismus, mitzuhelfen, daß die durch die kaiserliche Botschaft14 inaugurierte Gesetzgebung nun auch wirklich im Sinne der Gerechtigkeit und des Friedens zur Durchführung gelangte. (Bravo!)

Meine Herren! Ich muß schließen, ich habe Ihre Geduld für diese nüchternen Fragen schon allzulange in Anspruch genommen. (Rufe: Nein!) Die soziale Frage ist die weltbewegende Frage unseres Jahrhunderts. Und doch ist die Zahl der christlichen Männer, die mitwirken, so klein; aber wir haben das Bewußtsein: Gott will es und Gott hilft. (Bravo!) Eine große Verantwortung ruht auf unseren Schultern; mögen wir der Aufgabe gewachsen sein, mögen wir uns derselben würdig machen, daß nicht einst, wenn das Weltgericht, die Weltgeschichte über uns das Urteil spricht, es auch von uns heiße: Gewogen und zu leicht befunden. Meine Herren! Was verdanken wir nicht der christlichen Kultur! Recht und Freiheit, die Ehre der Arbeit, die Würde der Frau, das Glück der Familie, alles hat uns das Christentum gebracht. Wie könnten wir die Pflicht des Danks dafür besser lösen, als indem wir nicht ruhen und nicht rasten, bis daß auch den Arbeitern die Güter der christlichen Kultur in vollem Maß wieder gesichert sind? (Stürmisches, andauerndes Bravo.)

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Registerinformationen

Regionen

  • Afrika
  • Belgien
  • England
  • Europa
  • Irland
  • Preußen

Orte

  • Kassel
  • Wien

Personen

  • Augustinus, Aurelius (354–439) , Kirchenvater
  • Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von , (1811–1877) , kath. Bischof von Mainz
  • Lavigerie, Charles-Martial-Allemand (1825–1892), kath. Erzbischof von Karthago (Tunesien)
  • Leo XIII. (1810–1903) , Papst in Rom
  • Lohmann, Theodor (1831–1905) , Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • MacCabe, Edward (1816–1885) , kath. Erzbischof in Dublin
  • Nelle, Wilhelm (1849–1918) , ev. Pfarrer in Hamm
  • Thomas von Aquin (1225–1274) , Theologe, Kirchengelehrter

Sachindex

  • Alkoholismus
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Arbeitervertretung, Ältestenkollegien
  • Arbeitgeber
  • Arbeitslosenversicherung
  • Arbeitslosigkeit, siehe auch Arbeitslosenversicherung
  • Arbeitszeit
  • Arzt
  • Attentat
  • Christentum
  • Dampfmaschine
  • Eisenbahn
  • Evangelium
  • Fabrik
  • Fabrik(kranken)kassen
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Gastwirtschaften
  • Handwerk, Handwerker
  • Hausbesitz
  • Haushaltungsschulen
  • Hausindustrie
  • Heirat, Ehe
  • Innere Mission, siehe auch Vereine und Verbände, Zentralausschuß
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kirche
  • Kirche – evangelische, siehe auch Innere Mission
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Landwirtschaft
  • Lehrlinge
  • Mittelstand
  • Nationalökonomie
  • Papst, Papsttum
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Presse
  • Presse – Arbeiterwohl
  • Recht auf Arbeit
  • Reformation
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1887
  • Revolution
  • Revolution – französische
  • Selbsthilfe
  • Sklaverei
  • Sonntagsruhe
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Sparen
  • Sparkassen
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Trennung der Geschlechter bei der Arbeit
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Zentralausschuß für die Innere Mission
  • Waisen
  • Wirtschaftsliberalismus
  • Witwen
  • Wohnung, siehe auch Hausbesitz
  • Wucher
  • Zünfte
  • 1Verhandlungen der XXXV. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Freiburg im Breisgau vom 2. bis 6. September 1888, S. 232─240. Präsident war der Koblenzer Justizrat Eduard Müller. »
  • 2Gemeint ist in erster Linie die Rede Franz Hitzes 1882 auf dem Katholikentag in Frankfurt/M. (vgl. Nr. 15 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung), die Rede des Freiherrn von Schorlemer-Alst 1885 auf dem Katholikentag in Münster (vgl. Nr. 66 in diesem Band), die Rede Franz Hitzes 1886 auf dem Katholikentag in Breslau (Verhandlungen der XXXIII. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Breslau vom 29. August bis 2. September 1886, S. 184─194) und dessen Rede 1887 auf dem Katholikentag in Trier (vgl. Nr. 156 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 3Sprüche 30,8. »
  • 4Der Schweizer Nationalrat Dr. Kaspar Decurtins hatte am Vortag im Rahmen der zweiten öffentlichen Generalversammlung über internationalen Arbeiterschutz gesprochen. »
  • 5In Irland kam es in den politischen Auseinandersetzungen mit England in den achtziger Jahren zu einer Attentatswelle. Leo XIII. intervenierte gegen die Gewaltakte und zeigte wenig Verständnis für den organisierten irischen Widerstand und die Boykottbewegungen von Landpächtern gegen die Landlords in der 1879 gegründeten „Landliga“. Bereits in einem Schreiben vom 3.1.1881 an den Dubliner Erzbischof Edward MacCabe hatte Leo XIII. die irischen Katholiken zur Mäßigung aufgerufen. Zuletzt hatte der Papst am 24.6.1888 in einem Schreiben an das Gesamtepiskopat die Legitimität des Pächterboykotts verneint (vgl. Hubert Jedin [Hg.], Handbuch der Kirchengeschichte, Band VI, Die Kirche der Gegenwart, Zweiter Halbband, Freiburg/Basel/Wien 1973, S. 149 f.); vgl. Zur Lage in Irland, in: Christlich-sociale Blätter 22 (1889), S. 559─571 u. S. 631─636. »
  • 6Im Jahr 1887 bestanden 92 katholische Arbeitervereine, 17 Vereine jugendlicher Arbeiter und 17 Arbeiterinnenvereine; bis zum Jahr 1889 war die Zahl der katholischen Arbeitervereine auf 282 gestiegen, in welchen 60 000 bis 70 000 Arbeiter organisiert waren. »
  • 7Vgl. Rudolf Meyer, Der Emancipationskampf des vierten Standes, 2 Bde., 2. Auflage, Berlin 1882. »
  • 8Charles-Martial-Allemand Lavigerie, Gründer der Missionsgesellschaften der „Weißen Väter“ und der „Weißen Schwestern“, 1867 Erzbischof von Algier, 1882 Kardinal, 1884 Erzbischof von Karthago. Lavigerie führte seit 1879 einen Feldzug gegen die Sklaverei, 1888 reiste er durch europäische Hauptstädte, regte eine päpstliche Enzyklika an und gab Veranlassung zur Brüsseler Antisklavenkonferenz von 1888/90. »
  • 9Gemeint sind die Stimmen, die sozialdemokratische Kandidaten 1887 bei der Wahl zum 7. Reichstag erhalten hatten. »
  • 10Thomas von Aquin (1225─1274), Theologe, Kirchengelehrter. »
  • 11Aurelius Augustinus (354─439), Kirchenvater. »
  • 12Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811─1877), 1850─1877 Bischof von Mainz. Er kritisierte den Liberalismus und drängte auf Verbesserung der Lage der Arbeiter, u. a. durch höhere Löhne und Arbeiterschutz. »
  • 13Wohl Anspielung auf den von Lüttich ausgehenden Generalstreik vom 18.3.1886, in dessen Verlauf es zu Gewalttätigkeiten und Militäreinsatz kam, in Belgien herrschte noch Patronage, es gab ungewöhnlich niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten. »
  • 14Vgl. Nr. 9. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 83, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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