Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 66

1885 August 31

Rede1 des Reichstagsabgeordneten Dr. Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst2 auf der 32. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands

Druck, Teildruck

Die soziale Frage ist auch eine Seelenfrage; Defizite bestehen in der Arbeiterschutzgesetzgebung und dort insbesondere in der Frage des Verbots der Sonntagsarbeit

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Ich anerkenne, daß Krankenkassen und Unfallversicherungsgesetze, wie Gesetze zum Schutz der invaliden und alten Arbeiter, sehr nützlich sind, und zum Zustandekommen der ersten beiden hat ja vor allem auch das Zentrum maßgebend und namentlich in der Richtung auf Korporationsbildung eingewirkt.3 Wer aber glaubt, daß nun mit diesen Gesetzen die Tätigkeit für die Arbeiter abzuschließen sei, wer glaubt, daß genug geschehen sei im Bereich der sozialen Frage, der ist nicht nur in einem dicken Irrtum, sondern das beweist auch, daß er die soziale Frage gar nicht anders versteht als die Sozialdemokraten, nämlich als reine Magenfrage.4 Nach der Seite der Seelenfrage ist ungefähr noch alles zu tun, und da müssen wir doch vor allem sorgen, daß dem Arbeiter der Glaube erhalten werde und das Leben nach dem Glauben möglich bleibe. Und deshalb müssen und werden wir an erster Stelle immer verlangen [ Druckseite 276 ] Beendigung des Kulturkampfs, müssen anstreben die Beseitigung derjenigen Gesetze, welche die Freiheiten der Kirche und ihre segensreiche Wirksamkeit beschränken, müssen verlangen die Rückkehr mehrerer Orden, und ich sage ausdrücklich: inklusive der Jesuiten.5 (Lebhaftes Bravo.) Bei uns selbst, meine Herren, werden wir keine Lauheit und keine Verzagtheit und keinen Marasmus im Kampf aufkommen lassen; nein, mit frischem frohem Kampfesmut werden wir vorgehen. Keine Halbheit, keine mißdeutungsfähigen Konzessionen, sondern unser ganzes volles Recht wollen wir mit aller Einigkeit und Energie verlangen. (Bravo!) Es fehlen vor allem die Arbeiterschutzgesetze,6 denn es ist gerade auch notwendig, für den gesunden Arbeiter zu sorgen, für seine Gesundheit an Seele und Leib, zur Erhaltung seiner Kraft, gegen die Ausbeutung der menschlichen Tätigkeit und gegen das frühe Siechtum. Daher verlangen wir an erster Stelle und haben verlangt die Beseitigung oder Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit. Denn wir wollen das Familienleben erhalten, wir wollen die Frau wieder ihrem eigentlichen Beruf, Gattin und Mutter zu sein, zurückgeben, wir wollen die Kinder wieder ans Herz der Mutter legen und ihnen eine christliche Erziehung in der Familie sichern. (Bravo!) Wir verlangen die Regelung der Arbeitszeit, wie sie schon in anderen Ländern eingeführt und zulässig ist.7 Erfahrung und Wissenschaft bestätigen, daß das Arbeitsquantum dabei nicht sinkt und die Arbeitsqualität sogar gehoben wird. Wir verlangen gewerbliche Schiedsgerichte unter Mitwirkung frei gewählter Vertreter der Arbeiter.

Und, meine Herren, vor allem müssen wir eins verlangen, und darauf gehe ich noch mit ein paar Worten ein: Wir müssen verlangen die Regelung der Sonntagsruhe, worunter ich natürlich auch die Festtage verstehe. (Bravo!) Man hat gesagt, die Frage der Sonntagsruhe sei noch nicht spruchreif. Nun, ich dächte, wenn eine Frage spruchreif ist, dann ist es diese. Die Frage der Sonntagsruhe ist genau spruchreif, seitdem der liebe Gott auf Sinai unter Donner und Blitz die zehn Gebote gegeben hat. (Bravo!) Am peinlichsten hat mich und wohl alle ein Wort berührt, welches zu dem Bericht der Reichstagskommission über die Sonntagsruhe gefallen ist.8 Die Reichstagskommission ─ ich bitte nur einen Augenblick noch um ihre Aufmerksamkeit ─ hatte sehr treffend gesagt: „Materielle Verluste können nicht in Frage kommen, wenn es sich um die höchsten Güter eines Volks, um seine geistige und körperliche Gesundheit handelt.“ Hierzu wurde nun von hoher Stelle bemerkt: „Ja, wenn aber dabei die Mittel zum Leben verlorengehen oder geringer werden und der Arbeitslohn ausfällt; was helfen dem Volk denn die höchsten Güter, wenn es Hunger leiden muß?“9 Meine Herren, ich möchte diesem Satz: „Was helfen dem Volk denn

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die höchsten Güter, wenn es Hunger leiden muß?“ einen anderen mit besserer Autorität entgegensetzen, ich möchte sagen: „Ja, was hilft es aber dem Volk, wenn es satt ist, aber die höchsten Güter verloren hat oder entbehren muß?“ (Bravo!) Denn was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet er an seiner Seele! (Bravo) Und Schaden leidet er an seiner Seele ohne die Sonntagsruhe. „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist“, hört man so oft sagen.10 Nun wohl, wir haben es immer getan und werden es auch immer tun, aber ich möchte denen, die das so oft aussprechen, doch auch sagen: „Beachtet ihr vor allem auch den zweiten Satz, gebt dann ihr doch auch Gott, was Gottes ist!“ (Bravo!) Die Obrigkeit ist von Gott, und das Fürstentum ist von Gottes Gnaden, und darum gehorchen wir der Obrigkeit und halten dem angestammten Fürstenhaus die Treue. Und diese Untertanentreue um Gottes willen ist nicht allein die beste, sondern sie ist auch zuletzt die allein zuverlässige. (Sehr gut!) Woher soll sie aber kommen, wie soll sie erhalten werden, wenn der Glaube an Gott erschüttert, wenn die Religion nicht geübt, wenn der Tag des Herrn nicht gefeiert wird? Derselbe Gott, den man für die obrigkeitliche Autorität mit Recht anruft, hat auch das Gebot gegeben: „Gedenke, daß Du den Sabbat heiligst!“11 (Bravo!), und er selbst, der Schöpfer [des] Himmels und der Erde ruhte am siebenten Tag. Welche Bekräftigung für dieses Gebot! Ich sage: Entweder ─ oder! Entweder gelten die zehn Gebote, und es baut auf deren heilige Autorität sich die Staats- und bürgerliche Gesetzgebung auf, oder die zehn Gebote gelten nicht und bilden diese Grundlage nicht. Nun, dann ist alles reine Menschensatzung, nur bindend durch die Gewalt, dann aber auch ein Spielball der Laune und der Gewalt. (Sehr wahr!) Die Sonntagsruhe muß dem Arbeiter die notwendige Erholung geben für Leib und Seele; wenn er sechs Tage der Woche im Joch der Arbeit geseufzt, dann muß ihm wenigstens der Tag des Herrn bleiben, seinem Gott zu dienen, sich an Seele und Leib zu erfrischen, seiner Familie zu leben und sich wenigstens an diesem Tag wieder als Mensch, als Christ, als Vater oder Mitglied der Familie zu fühlen. (Bravo!) Und darin muß er geschützt werden. Denn die Sonntagsarbeit ist keine freiwillige; unter den jetzigen gesellschaftlichen Zusammenhängen ist sie der äußerste Zwang, dem der Arbeiter sich nicht entziehen kann. (Sehr wahr!) Die Arbeiter selbst haben aber doch auch in dieser Frage sich deutlich ausgesprochen. Aus allen Versammlungen, aus allen Vereinen hören wir nur den Ruf: „Sonntagsruhe!“, und ich halte deshalb eine Enquete nach dieser Seite für sehr überflüssig. (Sehr wahr!) Aber ich halte sie erst recht für überflüssig gegenüber dem Gottesgesetz.12 Meine Herren, die Gebote Gottes dürfen nicht unter ein Plebiszit gestellt werden (Bravo!), und ich sage deshalb: mit oder ohne Enquete ─ die Sonntagsruhe muß durchgesetzt werden zur Ehre Gottes und zum Wohl unserer Mitbrüder im Arbeiterstand. (Bravo!) Und nun zuletzt noch eins. Der schrecklichen Isolierung und Individualisierung der Arbeiter, welche so schwer auf ihnen lastet, kann nur abgeholfen werden durch Vereinigung, durch Organisation und Korporation: Wo wir christlich-soziale oder kirchliche Arbeitervereine haben, sehen wir deren gesegnete Wirksamkeit für das religiöse und Familienleben, für die Sittlichkeit, für die Ordnung, für die Wahrnehmung der [ Druckseite 278 ] Interessen der Arbeiter und den stärksten Damm gegen die Sozialdemokratie. Unser h[ei]l[iger] Vater Papst Leo XIII.13 fordert in seiner herrlichen Enzyklika „Humanum genus“ zu deren Bildung auf.14 Wohlan! gehen wir nicht auseinander ohne den Vorsatz eines jeden, dazu nach besten Kräften zu wirken. Der hl. Vater hat alle Vereine zu Zwecken der Karitas ─ und dazu gehört wesentlich auch die Vorsorge für die Arbeiter ─ unter den Schutz des hl. Vinzenz von Paul15 gestellt; wohlan! flehen wir diesen großen und liebenswürdigen Heiligen um seine Fürbitte und um seinen Beistand an. (Bravo!) Die Kirche, unsere geliebte Mutter, zeigt auch hier wieder, wie zu allen Zeiten, wie sehr ihr das Wohl ihrer bedrücktesten Mitglieder am Herzen liegt. Wenn das vielfach verkannt wird, wenn sogar diese beste und mächtigste Hilfe der Kirche in unbegreiflicher Blindheit zurückgewiesen, ja unmöglich gemacht wird, so sage ich zum Schluß: Und dennoch! die soziale Frage wird nur gelöst mit der Kirche, nicht ohne sie, am wenigsten gegen dieselbe! (Stürmischer, nicht enden wollender Beifall.)

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Registerinformationen

Regionen

  • Österreich
  • Schweiz

Orte

  • Leipzig

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Lehmann, Ernst (1835–1913) , ev. Oberpfarrer in Zwenkau (Amtshauptmannschaft Leipzig)
  • Leo XIII. (1810–1903) , Papst in Rom
  • Zinßer, Wilhelm Christoph (1836–1914) , ev. Pastor in Leipzig

Sachindex

  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeitervertretung, Ältestenkollegien
  • Arbeitszeit
  • Christentum
  • Fabrik
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Gefahrenschutz
  • Bundes-Gesetz, betreffend die Arbeit in den Fabriken (23.3.1877)
  • Hunger
  • Innere Mission, siehe auch Vereine und Verbände, Zentralausschuß
  • Jesuiten
  • Kinderarbeit
  • Kirche
  • Kirche – evangelische, siehe auch Innere Mission
  • Korporationen
  • Kulturkampf
  • Normalarbeitstag
  • Papst, Papsttum
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Presse
  • Presse – Monatsschrift für innere Mission
  • Reichstag
  • Sabbat
  • Schiedsgerichte
  • Soziale Frage
  • 1Verhandlungen der XXXII. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Münster vom 30. August bis 3. September 1885, S. 124─133, hier S. 130─133. Der Katholikentag des Jahres 1885 hatte etwa 5 000 Teilnehmer; Präsident war der Reichstagsabgeordnete Dr. Ernst Lieber (Zentrum). Zu den Arbeiterschutzforderungen des 32. Katholikentags vgl. Nr. 90 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 2Dr. Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst (1825─1895), Agrarpolitiker, Rittergutsbesitzer auf Alst (Kreis Steinfurt), seit 1874 MdR (Zentrum). »
  • 3Vgl. Bd. 2, 1. Teil, und Bd. 5 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 4Vgl. Nr. 49 Anm. 6. »
  • 5Der „Gesellschaft Jesu“ war durch Reichsgesetz vom 4.7.1872 (RGBl, S. 253) bzw. durch Bekanntmachung vom 5.7.1872 (RGBl, S. 254) jede Ordenstätigkeit in Deutschland untersagt. Durch Bekanntmachung vom 20.5.1873 (RGBl, S. 109) war das Verbot auf weitere Orden ausgedehnt worden. »
  • 6Vgl. Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 7In der Schweiz war durch das Fabrikgesetz des Jahres 1877 ein elfstündiger Normalarbeitstag in Fabriken eingeführt worden (vgl. Nr. 74 Anm. 12 Bd. 3 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). In Österreich galt seit der Novelle zur Gewerbeordnung vom 8.3.1885 ein elfstündiger Normalarbeitstag in fabrikmäßig betriebenen Gewerbsunternehmungen (vgl. Nr. 78 Anm. 3 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 8Vgl. Nr. 67 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 9So Bismarck am 9.5.1885 im Reichstag (97. Sitzung, Sten.Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 2675). »
  • 10Anspielung auf Matthäus 22,21; Markus 12,17; Lukas 20,25. »
  • 112. Mose 20,8. »
  • 12Gemeint ist die im Sommer 1885 durchgeführte Regierungsenquete über die Verbreitung der Sonntagsarbeit; vgl. Nr. 70─72, Nr. 77, Nr. 79─81, Nr. 84─88, Nr. 91─93 u. Nr. 95 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 13Leo XIII. (1810─1903), seit 1878 Papst in Rom. »
  • 14Enzyklika „Humanum genus“ vom 20.4.1884. »
  • 15Eigentlich: Vincenz Depaul (1576─1660), französischer Priester in Paris, Begründer der neuzeitlichen Caritas, insbesondere der Gemeindearmenkrankenpflege durch Genossenschaften von Frauen wie Männern; 1737 heiliggesprochen. Papst Leo XIII. erklärte ihn 1885 zum „Patron aller Vereinigungen der christlichen Liebe“. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 66, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0066

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