Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 60

1885 April 21

Thesen1 der Thüringer Kirchlichen Konferenz2

Druck, Teildruck

Die Thesen Friedrich Salomo Oldenbergs zur Denkschrift der Inneren Mission werden beraten und einstimmig angenommen

1. Die heute in Eisenach tagende Thüringer Kirchliche Konferenz erklärt zu dem wesentlichen Inhalt der unter obigem Titel3 veröffentlichten Denkschrift des Zentralausschusses für innere Mission ihre einmütige Zustimmung. Sie erkennt an, daß die in ihr dargelegten Grundsätze dem Worte Gottes gemäß und in zutreffender Weise auf die gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart angewandt sind. Ihre Mitglieder wissen sich darum verpflichtet, innerhalb ihrer Berufs- und Lebenskreise diese Grundsätze, soweit sie es vermögen, zur Geltung zu bringen.

2. Demgemäß stellen sie sich die Aufgabe, dem in allen Ständen verbreiteten Materialismus und Mammonismus mit dem Zeugnis des göttlichen Wortes entgegenzutreten, [ Druckseite 264 ] die christliche Anschauung von der Bedeutung des irdischen Lebens als einer Bereitung für die Ewigkeit den Besitzenden wie den Armen vor die Gewissen zu stellen und die christliche Lehre von dem Gebrauch und Mißbrauch der irdischen Güter mit besonderem Ernst zu treiben.

3. Die Mitglieder der Konferenz wissen sich verpflichtet, inmitten der sozialen Kämpfe der Gegenwart auch an ihrem Teil das Evangelium als eine versöhnende Kraft zur Geltung zu bringen und in seinem Lichte Reich und Arm, Arbeitgeber und Arbeiter erkennen zu lassen, daß sie vor Gott gleich, Glieder an einem Leibe sind und als Brüder einander zu dienen haben.

4. Solche Versöhnung ist nur möglich, wenn die Genossen jeder Gesellschaftsklasse zu der Erkenntnis geführt werden, daß der heilige Gott es ist, der ihren Stand geordnet, der all ihren Besitz, sei er groß oder gering, sei er Bildung oder Kapital oder Arbeitskraft als unverdiente Gabe ihnen anvertraut hat, für deren treuen Gebrauch zum eigenen und zu der Brüder Heil er von ihnen Rechenschaft fordern wird.

5. Darum sind die Besitzenden, die Arbeitgeber, Meister, Lehrherren und Dienstherrschaften für die Überzeugung zu gewinnen:

a) daß jeder Vorzug des Standes und Besitzes die Verantwortlichkeit des Bevorzugten erhöht und zu einem unter Gottes Gericht fallenden Raub wird, wenn er, statt im Dienste der Brüder, in selbstsüchtigem Interesse ausgenutzt wird;

b) daß sich der Arbeitgeber gegen Gott versündigt, der in seinem Arbeiter nur das Werkzeug sieht, welches er zur Mehrung des eigenen Gewinnes möglichst hoch ausnutzt, statt in ihm die sittliche Persönlichkeit zu erkennen, die er zu ehren hat und für deren zeitliches und ewiges Wohl er eine schwere Verantwortlichkeit trägt;

c) daß sich darum versündigt, wer den Lohn des Arbeiters zu eigener Bereicherung drückt ─ wer nicht darauf Bedacht nimmt, ihm das einzige Kapital, auf welches er gewiesen ist, seine Arbeitskraft zu erhalten ─, wer nicht mit gleichem Ernst danach trachtet, das sittliche und gesellschaftliche Wohl des Arbeiters zu fördern und ihm die Grundlage dazu, ein christlich geordnetes Familienleben, nach Möglichkeit zu sichern;

d) daß der Arbeitgeber ein Freund seiner Arbeiter sein, an ihrem Wohl und Wehe persönlichen, hilfreichen Anteil nehmen und sie es erfahren lassen muß, daß er es gut mit ihnen meint. Die Frauen der Arbeitgeber und ihre erwachsenen Söhne und Töchter müßten durch Teilnahme und tätige Handreichung dies Band des Vertrauens befestigen helfen.

6. Im besonderen verlangt die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für das Wohl der Arbeiter:

a) die Beseitigung alles dessen aus seiner Fabrik oder Werkstatt, was die Sittlichkeit der Arbeiter und Arbeiterinnen gefährdet; daher auch die Beseitigung solcher Beamten, die in jener Beziehung sich als unzuverlässig erweisen; in erster Linie aber die ernst sittliche Haltung des Arbeitgebers;

b) seine Willigkeit, Einrichtungen anzubahnen und zu unterstützen, durch welche den Arbeitern, wo das Bedürfnis dazu vorhanden, die Beschaffung geeigneter Wohnungen und billiger Lebensmittel erleichtert wird;

c) seine Willigkeit, den von ihm beschäftigten verheirateten Frauen, auch über den Buchstaben der Fabrikordnung hinaus, diejenige Zeit zu gönnen, welche sie zur Besorgung ihrer Hausstände bedürfen ─ resp. ihnen, wo der industrielle Betrieb es ermöglicht, Hausarbeit zu gewähren; [ Druckseite 265 ] d) seine Willigkeit, für Einrichtungen mitzuwirken, durch welche den noch nicht schulpflichtigen Kindern seiner Arbeiter während diese letzteren in den Fabriken beschäftigt sind, die erforderliche Fürsorge geboten wird;

e) seine Willigkeit, die Erziehung der von ihm beschäftigten jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen zu künftiger wirtschaftlicher Selbständigkeit zu fördern;

f) seine Willigkeit, den Arbeitern heilsame Erholung bieten zu helfen;

g) sein Entschluß, ihnen ─ unvermeidliche Ausnahmefälle abgerechnet ─ den Sonntag freizugeben und, soweit es von seiner Seite geschehen kann, eine würdige Sonntagsfeier zu erleichtern;

h) seine Arbeiterinnen aber ausnahmslos von aller Sonntags- und ebenso von aller Nachtarbeit auszuschließen.

7. Dementsprechend muß es Aufgabe sein, die Arbeiter, Gesellen, Lehrlinge, Dienstleute zu dem Verständnis zu führen,

a) daß auch sie berufen sind, in der ihnen gegebenen Lebensstellung ihre Kräfte im Dienst der Gemeinschaft zu verwenden, daß sie für die Erfüllung dieses Berufes Gott verantwortlich sind, daß sie darum ihrem Arbeitgeber, Lehr- und Brotherrn in Treue zu dienen haben und daß neidisches Begehren nach irdischen Gütern unter das gleiche Gericht fällt wie selbstsüchtiger Mißbrauch derselben;

b) daß sie die Autorität des Arbeitgebers und seiner Vertreter zu achten, ihre Arbeiten mit sorgfältigster Gewissenhaftigkeit auszuführen, auch zur Aufrechterhaltung jeder Ordnung und guten Sitte mitzuwirken und die Durchführung der vom Arbeitgeber ausgehenden Wohlfahrtseinrichtungen vertrauensvoll zu unterstützen haben;

c) daß es eine Unbill ist, die sorgen- und mühevolle Last zu verkennen, welche der gewissenhafte Arbeitgeber unablässig trägt, um seinen Arbeitern dauernd das tägliche Brot zu sichern, und daß nur Unwissenheit oder böser Wille ihm die Schuld für jeden Rückgang der Löhne aufbürden kann; daß vielmehr auch der wohlwollendste Arbeitgeber unter der Zwangslage, welche ungünstige Konjunkturen und die Konkurrenz auswärtiger Industrien herbeiführen, in der Gewährung genügender Löhne zeitweise beschränkt wird, daß es daher Pflicht der Arbeiter ist und zugleich in ihrem eigenen Interesse liegt, solche schwierige Zeiten durch Enthaltung von überspannten Lohnforderungen überwinden zu helfen.

8. Die Mitglieder der Konferenz werden bestrebt sein, innerhalb ihrer Berufskreise auf Arbeitgeber wie auf Arbeiter nach den bezeichneten Richtungen aufklärend, mahnend und versöhnend einzuwirken, auch einsichtsvolle Gemeindeglieder für gleiche Wirksamkeit zu gewinnen. Die in der Denkschrift ausgeführten Grundsätze werden sie zu verbreiten suchen, indem sie dieselben in geeigneten Kreisen zur Besprechung bringen und dazu helfen, daß sie in der Presse ihre Vertretung finden.

9. Zugleich stellt sich ihnen die Aufgabe, wohlgesinnte Arbeitgeber in der Durchführung heilsamer Bestrebungen für ihre Arbeiter mit Rat und Tat zu unterstützen, da aber, wo Arbeitgeber solche Bestrebungen von sich abweisen, ohne sie dieselben ins Leben zu rufen. Das eine wie das andere kann nur in Gemeinschaft mit den in den Gemeinden vorhandenen gläubigen Kräften geschehen, die für bestimmte, in jedem Falle durch das Bedürfnis gewiesene Zwecke zu freiwilligem Dienst sich verbinden: so zur Begründung von Kinderbewahranstalten, von Näh- und Flickschulen, von Volksbibliotheken, von Einrichtungen zur Beschaffung christlicher Krankenpflege, zur Förderung der Erwerbsfähigkeit jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen, zur Pflege der Konfirmierten, zur Veredlung der Geselligkeit der Erwachsenen etc. Alle solche Einrichtungen werden mehr und mehr auch widerstrebende [ Druckseite 266 ] Arbeitgeber gewinnen, in die verbitterten Kreise der Arbeiter aber die versöhnende Kraft der Liebe hineintragen und sie der Kirche, der Scharen von ihnen entfremdet sind, wieder zuführen helfen.

10. Die Thüringer Kirchliche Konferenz, auf solchen Wegen im Glauben mit Weisheit und Entschlossenheit vorgehend, kann an ihrem Teil die innere Mission ihrem höchsten Ziel entgegenführen, daß die Kirche wieder wird das Gewissen unseres Volkes auch für sein wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben.

Die Zeichen der Zeit sind ernst und drohen mit verschuldeten Gerichten. Es gilt zu wirken, solange es Tag ist.

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Kayser, Max (1853–1888) , Redakteur in Dresden, MdR (Sozialdemokrat)
  • Maltzahn-Gültz, Helmut Freiherr von (1840–1923) , Rittergutsbesitzer in Gültz (Kreis Demmin), MdR (konservativ)

Sachindex

  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Arbeitgeber
  • Christentum
  • Dienstboten
  • Evangelium
  • Fabrik
  • Fabrikordnungen
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Gesetz über die Ausdehnung der Unfall- und Krankenversicherung (28.5.1885)
  • Haushaltungsschulen
  • Heirat, Ehe
  • Innere Mission, siehe auch Vereine und Verbände, Zentralausschuß
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kindergärten
  • Lehrlinge
  • Lohn
  • Nachtarbeit
  • Parteien
  • Parteien – Konservative
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1884
  • Revolution
  • Sittlichkeit der Arbeiter
  • Sonntagsruhe
  • Staatssozialismus
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Wohlfahrtseinrichtungen, betriebliche
  • 1Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg. Organ des Centralausschusses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, 42. Serie, Juni-Heft 1885, Artikel: „Die Thüringer Kirchliche Konferenz“.Die Thesen wurden von Friedrich Salomo Oldenberg eingebracht und einstimmig angenommen. »
  • 2Diese fand am 20. und 21.4.1885 statt; dabei handelte es sich um eine auf die thüringischen Staaten begrenzte Pastoralkonferenz, nicht um die deutschlandweite Eisenacher Evangelische Konferenz. Ein knapper Bericht über die Konferenz und das Referat von Oldenburg finden sich in der „Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung“, in der abschließend ausgeführt wird: Wurden in der lebhaften, an die vom Referenten gestellten Thesen sich anschließende Diskussion über die Aufgabe der Kirche, auch hierin wieder das Gewissen unseres Volkes zu werden, auch manche Mängel der Denkschrift hervorgehoben und manche berechtigte Ausstellungen gemacht, so war doch schließlich das Resultat einer dreistündigen Debatte die einstimmige Annahme der Thesen (18 [1885], S. 405 f.). »
  • 3Der Titel der Denkschrift lautete: Die Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart, vgl. Nr. 46. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 60, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0060

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