Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 58

1884 Dezember 22

Vorlage1 des Generalsekretärs Franz Hitze für die 8. Vorstandssitzung des Verbands katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde2

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In Fabriken sollen Arbeiterausschüsse mit beratender Funktion, Krankenkassen und ergänzende Arbeiterunterstützungskassen eingerichtet werden; die Arbeitgeber bzw. die Arbeiterausschüsse sollen auch in die Privatsphäre der Arbeiter eingreifen, z. B. durch obligatorische Entlassung minderjähriger und unverheirateter weiblicher Arbeiter, die nicht bei ihren Eltern wohnen; Bekämpfung des Alkoholkonsums

Einige Gedanken zur sozialen Praxis für Arbeitgeber

1. In jeder Fabrik sollte ein Vertrauensausschuß ─ „Ältestenkollegium“ ─ aus den Arbeitern und Meistern gebildet werden, mit dem der Fabrikherr die die Arbeiter betreffenden Fragen bespricht. Die Entscheidung behält sich der Fabrikherr vor. Wo [ Druckseite 257 ] eine Fabrikkrankenkasse besteht, kann der Kassenvorstand zugleich als dieser Vertrauensausschuß gelten. Andernfalls bestimmt der Fabrikherr aus den älteren Arbeitern solche, die das Vertrauen der Arbeiter genießen, als seinen ständigen Vertrauensrat, oder er läßt dieselben wählen. Als spezielle Aufgaben des Vorstands resp. Vertrauensrates gelten (neben den unter Nummer 7 erwähnten):

a. Besuch der Kranken, Fürsorge für eine angemessene Behandlung und entsprechende Unterstützung.

b. Beaufsichtigung der jugendlichen Arbeiter bezüglich der sittlichen Führung.

c. Soll der Vorstand ferner durch bestmögliche Kontrolle zur Hinderung alles dessen beitragen, was gegen die gute Sitte verstößt ─ insbesondere unordentliche, schlechtes Beispiel gebende Personen in geeigneter Weise mahnen und warnen, eventuell dieselben zur Entlassung vorschlagen.

d. Neben diesen ethischen Aufgaben hat der Vorstand auch auf technische Übelstände aufmerksam zu machen, eventuell Abänderungen aufgrund seiner Erfahrungen in der Praxis vorzuschlagen, das Interesse von Arbeitnehmer wie Arbeitgeber nach jeder Richtung hin zu wahren: speziell Veruntreuungen zu verhindern und für möglichste Ausnutzung der Rohstoffe zu sorgen.

2. Es empfiehlt sich, bei Wohlfahrtseinrichtungen den Arbeitern eine gewisse Mitverwaltung einzuräumen und, soweit es geht, dieselben auch zu einem Beitrag heranzuziehen. Dadurch wird das Interesse der Arbeiter für die Einrichtung erhöht und der wohltätige Einfluß gefördert.

3. Meister und Angestellte sollen nicht bloß nach Rücksichten technischer Tüchtigkeit, sondern auch mit Rücksicht auf die sittliche Qualifikation angestellt werden.

4. Bei sorgfältiger Überlegung läßt sich vieles für die Trennung der Geschlechter in der Fabrik und für Vermeidung der Sonntagsarbeit tun. Wenn Sonntagsarbeit unumgänglich nötig, hat der betreffende Angestellte zum Besuch des Gottesdienstes Zeit zu geben und dazu anzuhalten.

5. Da der Fabrikherr meistens persönlich mit Geschäften überlastet ist, so empfiehlt es sich, einen geeigneten Angestellten, der Initiative, Wohlwollen und Autorität besitzt, mit den Aufgaben der sittlichen Fürsorge und der Wohlfahrt speziell zu betrauen.

6. Die Erziehung zur Sparsamkeit ist von ebenso weittragender sittlicher wie wirtschaftlicher Bedeutung. Diesem Ziel dienen: Erleichterung der Einlage auch kleiner Summen durch Errichtung von Fabriksparkassen, Sparmarkenverkauf und Übermittlung der Sparsummen an eine Sparkasse, Gewährung von hohen Zinsen oder Prämien, persönlicher Zuspruch und wohlwollendes Interesse für das Fortkommen des Arbeiters etc.

7. Die Krankenkasse bedarf der Ergänzung durch eine besondere Arbeiterunterstützungskasse mit der Aufgabe: 1. dem Arbeiter, speziell dem Familienvater, in besonderen Notfällen einen Zuschuß zum Krankengeld zu geben; 2. wo nötig, statt der Krankenkasse einzutreten, wenn die Maximalfrist für Unterstützungen aus der Krankenkasse abgelaufen ist; 3. Vorschüsse zu bewilligen für Wintereinkäufe, Erwerb einer Wohnung, Ausstattung und Reparatur derselben und sonstige besondere Fälle; 4. außerordentliche Geschenke in besonderen Notfällen (bei Geburten, Sterbefällen, Krankheiten von Frau oder Kindern usw., wo solche nicht schon im Statut der Krankenkasse vorgesehen) zu gewähren; 5. Einrichtungen zum gemeinsamen Besten der Arbeiter zu unterstützen: Errichtung einer Bibliothek, Zuschüsse für Bewahrschule, Gewinnung von geeigneten Kräften zur Pflege der Kranken etc.

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Wenn eine solche Kasse auch in erster Reihe natürlich den Verheirateten zugute kommt, sollen doch alle Arbeiter in gleichem Verhältnis zu den Beiträgen herangezogen werden, da alle in die Lage kommen können, dieselbe in Anspruch zu nehmen, dem jüngeren Arbeiter später die Institution ebenfalls wieder zugute kommt.

Der Beitrag zu dieser Kasse seitens des Fabrikherrn dürfte wohl nicht niedriger als der Beitrag zur Krankenkasse normiert werden, eher etwas höher.

Da die Unterstützungen nach Würdigkeit und Dürftigkeit gegeben werden, die Verwaltung also immer mehr oder weniger diskretionär ist, muß dieselbe einem ─ gewählten ─ Arbeiterausschuß übertragen werden, dessen Verhandlungen strengstens geheimzuhalten sind.

8. Der Fabrikherr hat die Pflicht, die Autorität der Eltern zu schützen. Daher sollten minderjährige Arbeiter und unverheiratete Arbeiterinnen, welche ohne genügenden Grund von den Eltern fortziehen, unnachsichtlich die Kündigung erhalten. Eine Vereinbarung aller Fabrikherren, z. B. einer Stadt in diesem Sinn, wäre sehr wohl möglich und notwendig. Die Entscheidung in den einzelnen Fällen könnte dem Krankenkassenvorstand oder dem Vertrauensausschuß übertragen werden.

9. Es empfiehlt sich, um den Arbeitern die Barzahlung zu erleichtern, alle acht Tage zu löhnen, wenigstens in Form einer Abschlagszahlung. Die Unsitte, nur auf Borg (Büchelchen) und dadurch teurer und schlechter zu kaufen, wird so wirksam bekämpft.

Die Löhnung soll nicht am Samstag, sondern in der ersten Hälfte der Woche stattfinden.

Den Eltern der Minderjährigen muß das Recht gewahrt bleiben, den Lohn selbst in Empfang zu nehmen, und soll in der Fabrikordnung dieses Recht ausdrücklich erwähnt sein.

10. Die zunehmende Trunksucht untergräbt Religion und Sittlichkeit und ist insbesondere eine große Gefahr für Familienleben, Wohlstand und Gesundheit unserer Arbeiterbevölkerung.

Dieser Gefahr gegenüber darf auch der Arbeitgeber nicht gleichgültig sein.

Der Schnapsgenuß in der Fabrik sowie das Mitbringen und Holenlassen von Schnaps ist zu verbieten und das Verbot mit ganzer Strenge durchzuführen. Wo wegen der besonderen Art der Arbeit der Branntweingenuß in der Fabrik bisher üblich war, möge der Übergang zur Enthaltung durch eine Prämie erleichtert werden. Wer wiederholt betrunken in der Fabrik betroffen wird oder „blauen Montag“ macht, sollte, falls Mahnungen nicht fruchten, rücksichtslos entlassen werden.

Zur Förderung der gänzlichen Enthaltsamkeit von Schnaps in und außer der Fabrik, namentlich unter der Fabrikjugend, trägt die Gewährung von Prämien wirksam bei.

Um den Arbeitern einen Ersatz für Branntwein zu bieten, muß von seiten der Fabrik morgens und nachmittags den Arbeitern Kaffee resp. warmes Wasser zur Bereitung von Kaffee während der Arbeitszeit zur Verfügung gestellt werden.

11. Die Förderung des Familienlebens ist die wirksamste positive Bekämpfung der zunehmenden Trunksucht. In dieser Beziehung empfiehlt sich ganz besonders, den Arbeiterinnen der Fabrik Muße und Gelegenheit zu geben, sich die notwendigsten Kenntnisse und Fertigkeiten für ihren zukünftigen Beruf als Hausfrau und Mutter anzueignen.

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Registerinformationen

Orte

  • Gadderbaum (Landkreis Bielefeld)

Personen

  • Bismarck, Johanna Fürstin von, geb. von , Puttkamer (1824–1894) , Ehefrau Otto von Bismarcks
  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Bodelschwingh, Friedrich von (1831–1910) , ev. Pfarrer, Leiter der Rheinisch-Westfä- , lischen Anstalt für Epileptische in Gadderbaum (Landkreis Bielefeld)
  • Pilgrim, Adolf von (1821–1909) , Regierungspräsident in Minden

Sachindex

  • Alkoholismus
  • Arbeitszeit
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Belagerungszustand
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Gefahrenschutz
  • Gesetz über den Belagerungszustand (4.6.1851)
  • Hausbesitz
  • Heirat, Ehe
  • Herbergen zur Heimat
  • Hunger
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kündigung des Arbeitsverhältnisses
  • Lohn
  • Montag, blauer
  • Nähmaschine
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Polizei
  • Presse
  • Presse – Der Sozialdemokrat
  • Reichsverfassung
  • Sittlichkeit der Arbeiter
  • Soldaten
  • Sonntagsruhe
  • Sparen
  • Sparkassen
  • Streik
  • Trennung der Geschlechter bei der Arbeit
  • Wohnung, siehe auch Hausbesitz
  • Zinsen
  • 1B Arch R 8107 Nr. 3, n. fol.Die von Franz Hitze vorgelegten „Gedanken zur sozialen Praxis der Arbeitgeber“ orientierten sich wesentlich an der in der Mönchengladbacher Mechanischen Weberei von Franz Brandts bereits seit Anfang der 1880er Jahre gültigen Arbeitsordnung (vgl. Nr. 43 Anm. 33).Im Protokoll der Vorstandssitzung ist hierzu festgehalten: Dann wurde über geeignete Diskussionspunkte für die nachher folgende Generalversammlung beraten: Der Generalsekretär referierte, welche Motive und Gesichtspunkte für die Aufstellung der Thesen (welche gedruckt vorlagen) „Einige Gedanken zur sozialen Praxis für Arbeitgeber“ maßgebend gewesen. Es wurde allgemein These 1 u. 7 für hochwichtig u. fruchtbar für die Diskussion erachtet, aber auch die Schwierigkeiten, auf welche man namentlich in Aachen bei Arbeitern wie Arbeitgebern bei der Durchführung stoßen werde, eingehend erörtert. Namentlich wurde der Mangel besonderer Fabrikkrankenkassen in Aachen als Lücke empfunden, um so mehr erachtete man die Gründung von Arbeiterkassen im Sinne der These 7 für notwendig als Voraussetzung für die Ausführung der These 1. Über die Zweckmäßigkeit u. Wichtigkeit einer Organisation im Sinne der These 1 („Ältestenkollegium“) waren alle Herren einig. Der Generalsekretär verlas eine große Anzahl an Thematas, welche zur Behandlung im „Arbeiterwohl“ geeignet sein möchten, u. fanden dieselben allseitige Zustimmung (Niederschrift: B Arch R 8107 Nr. 1, fol. 16 Rs.─17). Zur einvernehmlichen Aufnahme der „Gedanken zur sozialen Praxis der Arbeitergeber“ auf der am selben Tag abgehaltenen IV. Generalversammlung des Verbands „Arbeiterwohl“ vgl. Arbeiterwohl 4 (1884), S. 220─ 224. »
  • 2Der „Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde“, der, entsprechend der von ihm herausgegebenen Zeitschrift, zumeist nur kurz „Arbeiterwohl“ genannt wurde, war 1880 gegründet worden. Verbandssitz war Mönchengladbach; (Gründungs-)Vorsitzender war der Mönchengladbacher Textilindustrielle Franz Brandts; Generalsekretär war seit 1880 der Priester Franz Hitze, der seit 1882 MdPrAbgH und seit 1884 MdR (Zentrum) war. Zu den (1888) 648 Mitgliedern, von denen etwa ein Drittel Unternehmer waren, vgl. Mitglieder-Verzeichnis vom „Arbeiterwohl“ 1888, M. Gladbach (1888) (überliefert in: B Arch R 8107 Nr. 3, n. fol.). Zur Verbandsgeschichte vgl. Marcus Böhne, Der Verband „Arbeiterwohl“ und die Arbeiterfrage. Geschichte, Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege des „Verbandes katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde“ (1880─1928), Diss. Paderborn 2001. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 58, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0058

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