Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

Eine chronologische Auflistung der Quellen über alle Bände hinweg ist als PDF verfügbar.

Abteilung II, 1. Band

Nr. 55

1884 Oktober 3

Der Gewerkverein Nr. 40 „Das soziale Königthum“

Druck

Nicht die neue Kranken- und Unfallversicherung, sondern alte gewerberechtliche Regelungen haben die Lage der Arbeiter verbessert; Forderung nach Arbeiterschutzgesetzgebung

Der frühere Leiter des offiziösen Preßbüros,1 der in den Ruhestand getretene Geh[eime Oberregierungs]rat Ludwig Hahn 2, ist mit einer kleinen Broschüre, welche die Überschrift dieses Artikels als Titel führt, auf dem Wahlkampfplatz3 erschienen.4

Der alte Geheime Rat besitzt die Marotte, zu behaupten ─ vielleicht auch gar zu glauben ─, daß wir jetzt das „soziale Königtum“5 haben, dem Lassalle, der von Kindesbeinen an Republikaner zu sein vorgab, das Banner tragen würde.6 Den Beweis blieb er nicht schuldig und führt ihn durch das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz, welche die Mittel sind, um Mißstände der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung zu mildern und dieselbe zu sichern. Ludwig Hahn hat hiernach weder Lassalle noch den von dessen Anhängern vertretenen Sozialismus begriffen; dieser will die Aufhebung der heutigen Gesellschaftsordnung und eine neue sozialistische, in welcher man weder Kranken- und Unfall- noch Altersversicherung brauchen würde, und zwar deshalb nicht, weil dann die Arbeitsmittel und die Arbeitsprodukte allen gemeinsam gehören werden. Wenn der Geheime Rat sich die Mühe geben und die [ Druckseite 248 ] soziale Bewegung nicht bloß bei der Studierlampe, sondern mitten unter der arbeitenden Bevölkerung studieren möchte, so könnte er wenigstens hören, daß die Arbeiter, selbst die nichtsozialistischen, von diesen Gesetzen wenig oder gar keine Verbesserung ihrer sozialen Lage erwarten.

Nicht minder falsch urteilt Ludwig Hahn über die Vergangenheit, und zwar die der letzten Dezennien, wenn er sagt: „Es ist in der Tat neu, daß irgendeine staatliche Regierung mit Kraft und Entschiedenheit und mit Aussicht und schon mit Beginn des Erfolgs die soziale Frage, die Geschicke der Volksgemeinschaft und besonders des Proletariats in die Hand nimmt.“ Wir finden durchaus nichts Neues daran. Schon das alte Rom hat sich bemüht, die Volksgemeinschaft sozial glücklich zu machen; aber es ging dabei zugrunde, weil es das Proletariat von oben beglücken wollte, ihm keinen lebendigen tätigen Anteil zukommen ließ und es politisch und ökonomisch in Abhäng[ig]keit hielt. Das Ausland ist in der sozialen Gesetzgebung auch nicht müßig gewesen. So hat z. B. England eine umfassende Fabrikgesetzgebung, die recht viel Nachahmenswertes enthält. Robert Peel7 zum „großen Reformator des Wahlrechts in England“ zu machen, verrät Unkenntnis der neueren englischen Geschichte, in welcher Gladstone8 es augenblicklich ist, der für eine Ausdehnung des Wahlrechts eintritt.

Aber auch Preußen und Deutschland haben vor dem jetzt gültigen Kranken- und Unfallversicherungsgesetz eine soziale Gesetzgebung aufzuweisen, und der Vorwurf der Pflichtverletzung, die der Verfasser den voraufgehenden Regierungen und Monarchen macht, ist vollständig unbegründet, wenn wir damit auch nicht sagen wollen, daß nicht hätte mehr geschehen können. Zu den sozialen Gesetzen, die unseres Erachtens schwerer wiegen als die der abgelaufenen Legislaturperiode, sind zu zählen: die Beschränkung der Arbeitszeit der jugendlichen Arbeiter und der Kinder 9 ; die Aufhebung der Lohnbeschlagnahme 10 und der Schuldhaft11; die Abschaffung des Trucksystems 12; die Einführung der Fabrikinspektoren 13; die Koalitionsfreiheit 14; das Genossenschaftsgesetz von 186815; das Haftpflichtgesetz 16; die Freizügigkeit17; die Gewerbefreiheit 18 und die Paß- und Wanderfreiheit 19. Hierher sind ferner zu zählen die Emanzipation [ Druckseite 249 ] der Bauern und die durch Stein-Hardenberg begründete Selbstverwaltung, die die heutige soziale Regierung verschlechtert und nicht ausgebaut hat. Um die Wohltat der an und für sich immer noch der Verbesserung bedürftigen Gesetze recht ermessen zu können, denke man sich einmal den Zustand, der eintreten würde, wenn alle diese Gesetze nun plötzlich aufgehoben würden. Jedenfalls ist es leichtfertig oder Unkenntnis, diese Einrichtungen und die dadurch bedingten Umgestaltungen unserer sozialen Verhältnisse als nichts ansehen zu wollen.

Wir sind der Meinung, daß die heutige soziale Gesetzgebung die Dinge am verkehrten Ende anfaßt, freilich nicht ohne die Absicht, die Arbeiter in Abhängigkeit zu bringen. Wichtiger als das Unfallgesetz, nach welchem 95 % der Unglücksfälle den Krankenkassen der Arbeiter zur Last fallen, wäre es gewesen, einen durchgreifenden Schutz der Arbeiter vor Verunglückung im Betrieb einzuführen, denn gesunde Glieder sind wertvoller als gut entschädigte zerschlagene. Das Verbot der Frauenarbeit und Kinderarbeit würde sozial vorteilhafter sein als das Verbot der Einfuhr amerikanischer Schweineprodukte.20 Wir haben nichts gegen ein „soziales Königtum“ einzuwenden, aber wir meinen, daß dasselbe das Brot und die notwendigsten Verbrauchsgegenstände durch Zölle dem Volk nicht verteuern darf.

Registerinformationen

Regionen

  • England
  • Preußen

Personen

  • Gladstone, William Ewart (1809–1898) , britischer Premierminister
  • Hardenberg, Karl August Fürst von (1750–1822), preußischer Staatsmann
  • Kamin, Hugo (1840–1910) , Formergeselle, Redakteur des „Regulators“ in Berlin
  • Peel, Robert (1788–1850) , britischer Staatsmann
  • Stein, Karl Freiherr vom und zum (1757–1831) , preußischer Staatsmann

Sachindex

  • Arbeiterschutz
  • Fabrik
  • Fabrikinspektoren
  • Frauenarbeit
  • Freizügigkeit
  • Gefahrenschutz
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz, betreffend die Beschlagnahme des Arbeits- und Dienstlohnes (21.6.1869)
  • Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (15.6.1883)
  • Gesetz über die Aufhebung der Schuldhaft (29.5.1868)
  • Gesetz über die Freizügigkeit (1.11.1867)
  • Gesetz über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (4.7.1868)
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Unfallversicherungsgesetz(6.7.1884)
  • Gesetz über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (27.3.1867)
  • Gewerbefreiheit
  • Gewerkvereine
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kinderarbeit
  • Koalitionsfreiheit
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Landwirtschaft
  • Presse
  • Presse – Der Regulator
  • Presse – Reichs- und Preußischer Staatsanzeiger
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1884
  • Schuldhaft
  • Selbstverwaltung
  • Soziale Frage
  • Sozialreform
  • Trucksystem
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Zölle
  • 1Gemeint ist das „Literarische Büro“ des preußischen Staatsministeriums, dessen Aufgabe in der Beobachtung und Beeinflussung der Presse bestand. Direktor war seit 1877 der Publizist und Geheime Regierungsrat Dr. Konstantin Rößler. »
  • 2Dr. Ludwig Hahn (1820─1888), 1855 bis 1882 (mit Unterbrechung) im preußischen Innenministerium tätig; vgl. zu dessen früheren Ansichten die Erinnerungen Theodor Fontanes, zitiert in der Einleitung zu Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 3Die Wahl zum 6. Reichstag war für den 28.10.1884 angesetzt. »
  • 4Ludwig Hahn, Das Sociale Königthum. Ein Ausspruch Lassalle’s und die sociale Praxis Kaiser Wilhelms. Eine Schrift zu den Wahlen, Berlin 1884. »
  • 5Die Idee eines „sozialen Königtums“ bzw. „Königtums der sozialen Reform“ geht auf Lorenz v. Stein zurück; vgl. Dirk Blasius, Lorenz von Steins Lehre vom Königtum der sozialen Reform und ihre verfassungspolitischen Grundlagen, in: Der Staat 10 (1971), S. 33─ 51. »
  • 6Hahn bezieht sich auf einen Brief Ferdinand Lassalles an Viktor Aimé Huber vom 24.2.1864: Von Kindesbeinen an bin ich Republikaner. Und trotzdem, oder vielleicht gerade dadurch, bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß nichts eine größere Zukunft und eine segensreichere Rolle haben könne als das Königtum, wenn es sich nur eben entschließen könnte, soziales Königtum zu werden. Mit Leidenschaft würde ich dann sein Banner tragen, und die konstitutionellen Theorien würden schnell genug in die Rumpelkammer geworfen werden. Aber wo gäbe es ein Königtum, das den Mut und die Einsicht hat, sich zum sozialen Königtum herzugeben? Sie werden selbst zugeben, daß sich dasselbe kaum finden dürfte. Und somit que faire? (Abgedruckt bei Rudolf Elvers, Victor Aimé Huber, 2 Bde., Bremen 1872/74, Bd. 2, S. 358). Hahn zitierte den Brief Lassalles in seiner Schrift (ohne Angabe der Quelle) jedoch nur bis in die Rumpelkammer geworfen werden. »
  • 7Robert Peel (1788─1850), konservativer britischer Staatsmann. »
  • 8William Ewart Gladstone (1809─1898), seit 1880 (wieder) britischer Premierminister. »
  • 9Vgl. Bd. 3 Anhang 1 und 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 10Gesetz, betreffend die Beschlagnahme des Arbeits- und Dienstlohnes, vom 21.6.1869 (BGBl, S. 242); vgl. Nr. 13 Bd. 4 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 11Gesetz über die Aufhebung der Schuldhaft vom 29.5.1868 (BGBl, S. 237). »
  • 12Gemeint ist die Auslöhnung von Arbeitern in Waren statt in Bargeld, was in Preußen zuerst in der Novelle zur Gewerbeordnung vom 9.2.1849 (PrGS, S. 93) untersagt wurde. Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21.6.1869 verbot das Trucksystem in den §§ 134─139 (BGBl, S. 245). »
  • 13Vgl. Bd. 3 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 14Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21.6.1869 hob in § 152 bestehende Einschränkungen der Koalitionsfreiheit auf. »
  • 15Gemeint ist das preußische „Gesetz über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ vom 27.3.1867 (PrGS, S. 501), das mit einigen Abänderungen am 4.7.1868 im Norddeutschen Bund bzw. dann im Reich eingeführt wurde (BGBl, S. 415). »
  • 16Vgl. Nr. 13 Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 17Gesetz über die Freizügigkeit vom 1.11.1867 (BGBl, S. 55); vgl. Nr. 8 Bd. 7 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 18Die Gewerbefreiheit war im Abschnitt I der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund garantiert. »
  • 19Gemeint ist das Gesetz über das Paßwesen vom 12.10.1867 (BGBl, S. 33), das innerhalb des Bundesgebiets Reisen ohne spezielle Reisepapiere gestattete. »
  • 20Gemeint ist die Verordnung, betreffend das Verbot der Einfuhr von Schweinen, Schweinefleisch und Würsten amerikanischen Ursprungs, vom 6.3.1883 (RGBl, S. 31). Entsprechende Einfuhrverbote aus europäischen Staaten folgten. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 55, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0055

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