Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 54

1884 [Oktober]

[Friedrich Oldenberg], 26. Bericht1 des Centralausschusses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche

Druck, Teildruck

Die Denkschrift zur sozialen Frage wird knapp referiert, sie soll einen Damm gegenüber den Irrtümern der Zeit bilden und möglichst weit verbreitet werden

[...]

Eine Denkschrift zur sozialen Frage. Im Blick auf die sozialen Bewegungen der Gegenwart hält der Zentralausschuß es für ein dringendes Bedürfnis, daß sich in der evangelischen Kirche und in den Kreisen der inneren Mission über die Anwendung der christlichen Glaubensgrundsätze auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen der Zeit eine möglichst bestimmte, zu gleichartigem Handeln führende und den Irrtümern der Zeit einen festen Damm entgegensetzende Überzeugung herausbilde. Er stellte sich darum die Aufgabe, die Befriedigung dieses Bedürfnisses an seinem Teil durch Herstellung einer Schrift zu versuchen, welche jene Grundsätze und die Gesichtspunkte für ihre Anwendung auf die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse darzulegen hätte.

Indem er an diese Aufgabe Hand anlegte, hat er die Größe und Schwierigkeit derselben aufs tiefste empfunden und die Fragen, um die es sich vorzugsweise handelt, in seiner Mitte aufs ernstlichste durcharbeiten müssen. Das Resultat dieser Arbeit ist die von einem seiner Mitglieder verfaßte Denkschrift, mit welcher er im Juni d. J. in die Öffentlichkeit getreten ist. Sie führt den Titel: „Die Aufgaben der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart.“2 Davon ausgehend, daß diese Kämpfe, welche in der sozialdemokratischen Bewegung und deren Bekämpfung ihren schärfsten Ausdruck finden, die Kirche und ihre innere Mission aufs dringendste an ihre Aufgabe mahnen, auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Seite des Lebens mit dem Sauerteig des Evangeliums zu durchdringen, kennzeichnet die Denkschrift den Materialismus als die Grundauffassung, welche seit Jahrzehnten den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt hat und ebenso die Sozialdemokratie beherrscht. Sie weist darauf hin, daß die Feindschaft der letzteren gegen Christentum und Kirche eine Verurteilung der Unterlassungssünden enthält, deren Staat und Kirche auf jenem sozialen Gebiet sich schuldig gemacht. Sie erörtert den Zweck des wirtschaftlichen Lebens für den einzelnen wie für die Gesamtheit im Licht des Evangeliums, bestimmt in diesem Licht die auch für die untersten Klassen zu lösenden sozialen Aufgaben, legt die christliche Bedeutung des irdischen Besitzes und die der Arbeitskraft dar und demgemäß die Pflichten der Arbeitgeber und Arbeiter gegeneinander, und charakterisiert die sozialen Aufgaben des Staates und seiner Gesetzgebung. Daran knüpft sie die Erörterung der Mittel und Kräfte, durch welche die Kirche und ihre innere Mission [ Druckseite 246 ] allen Klassen gegenüber der christlichen Lebensauffassung zur Wirksamkeit zu verhelfen hat. Weiter geht die Denkschrift auf den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital ein und kennzeichnet, in die konkreten Lebensverhältnisse eintretend, die Gesichtspunkte, nach welchen die Überwindung desselben im Geiste des Christentums zu erstreben ist. Sie bestimmt den Anteil, welcher hierin der Kirche und der inneren Mission zufällt, um schließlich die dargelegten Gedanken in dem einen zusammenzufassen, daß ein friedlicher Ausgang der gesellschaftlichen Kämpfe der Gegenwart nicht zu erhoffen ist, wenn es nicht gelingt, das Leben der großen Kulturvölker wieder kräftiger mit der Überzeugung, daß „die Sünde der Leute Verderben“ ist, und mit der christlichen, auf den Bau des göttlichen Reiches gerichteten Weltanschauung zu durchdringen. „Daß die Kirche“ ─ so schließt die Denkschrift ─ „wieder werde das Gewissen der Völker auch für ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben: Das ist das höchste Ziel ihrer inneren Mission.“

Selbstverständlich konnte und wollte die Denkschrift nur Umrisse zeichnen, die der Ausführung bedürfen. Zum Teil fordert sie auch, damit ihr eine allgemeinere Wirksamkeit gesichert werde, die Übertragung in mehr populäre Formen. In diesen Beziehungen stellt sie Aufgaben, die einer weiteren Arbeit bedürftig und wert sind. Sie möchte in möglichst zahlreichen Kreisen erwogen, in freien Versammlungen, auch in Pastoralkonferenzen, erörtert und mit ihrem Inhalt in die Gemeinden getragen werden. Insbesondere ist es unser Wunsch, daß Arbeitgeber in Stadt und Land von ihr Kenntnis nehmen und daß die kirchliche wie die politische Presse durch sie zu erneuter Prüfung des Gegenstandes veranlaßt werde. Der Zentralausschuß hat daher nichts unterlassen, um sie auch über den Kreis seiner Agenten und der ihm verbundenen Vereine hinaus möglichst weit zu verbreiten, sie auch den Redaktionen der bedeutendsten kirchlichen und politischen Zeitschriften mit der Bitte um ihre Mitwirkung übersandt. Ferner hielt er es für seine Pflicht, sie den zuständigen Staatsbehörden, den Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten, den höchsten Kirchenbehörden der evangelischen Landeskirchen Deutschlands, den Generalsuperintendenten und Konsistorien und andern einflußreichen Stellen zu überreichen. Hierauf sind dem Zentralausschuß zahlreiche Erwiderungen zugegangen, die ihn in der Zuversicht bestärken, daß seine Denkschrift mit Zustimmung aufgenommen und zur rechten Stunde gekommen ist. Mehrere Behörden haben ihre Absicht kundgetan, sie in den ihnen unterstellten Kreisen in größerer Zahl zu verbreiten. Nicht minder erfreulich ist es, daß auch die Presse verschiedener Richtungen auf die Bedeutung der Denkschrift hingewiesen hat.3

Um die Verbreitung derselben zu befördern, erbietet sich der Zentralausschuß, denjenigen, die sich direkt an ihn wenden (Adresse Berlin W[est], Genthinerstraße 38), dieselbe bei Entnahme einer größeren Zahl von Exemplaren, bis zu 100, für den Preis von 10 Pf. pro Exemplar, bei größeren Bestellungen für 5 Pf. pro Exemplar zu liefern.

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Registerinformationen

Personen

  • Hahn, Dr. Ludwig (1820–1888) , Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat , im preußischen Innenministerium, Redakteur der „Provinzial-Correspondenz“ in Berlin
  • Huber, Dr. Viktor Aimé (1800–1869) , sozialpolitischer Schriftsteller
  • Lassalle, Ferdinand (1825–1864) , Schriftsteller, Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
  • Rößler, Dr. Konstantin (1820–1896) , Geheimer Regierungsrat in Berlin; Leiter des „Literarischen Büros“ des preußischen Staatsministeriums
  • Stein, Dr. Lorenz von (1815–1890) , Professor für politische Ökonomie in Wien

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeitgeber
  • Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (15.6.1883)
  • Unfallversicherungsgesetz(6.7.1884)
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Presse
  • Presse – Der Gewerkverein
  • Soziales Königtum
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • 126. Bericht des Centralausschusses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, Oktober 1883 bis Oktober 1884, Berlin 1884, S. 12─14. »
  • 2Vgl. Nr. 46. »
  • 3Vgl. hierzu Renate Zitt, Zwischen Innerer Mission und staatlicher Sozialpolitik, Heidelberg 1997, S. 313 ff. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 54, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0054

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