Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 53

1884 September 13 [20 u. 27]

Die Nation Nr. 50 ─ 52 Karl Schrader: Die Stellung der politischen Parteien zur Sozialreform und zu der Arbeiterfrage

Druck

Grundlegende Kritik der sozialpolitischen Vorstellungen des Zentrums, der Sozialdemokraten, der Konservativen, der Nationalliberalen sowie der Reichsregierung aus linksliberaler Sicht; Kritik des entmündigenden „Staatssozialismus“; Plädoyer für liberale Selbsthilfepolitik und Konsumentenbegünstigung durch Freihandel

I.

Als mit der Unfallversicherungsvorlage des Jahres 1881 der erste Schritt zur Lösung der sozialen Frage von Reichs wegen getan wurde, dachte man nur an solche Gesetze, welche die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen bezweckten. In Ergänzung zu den Maßregeln gegen die Sozialdemokratie sollten die Arbeiter durch positive, auf die Verbesserung ihrer Lage abzielende Einrichtungen des Staates für denselben gewonnen werden. Auf diesem Standpunkt befand sich auch noch die [ Druckseite 230 ] Kaiserliche Botschaft vom November 18811, die allerdings schon korporative Genossenschaften erwähnt, aber in einer Verbindung, welche deutlich ersehen läßt, daß es sich auch hier nur um die Arbeiter handeln soll.

Sehr schnell hat sich aber aus diesem Anfang der Gedanke einer völligen Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung entwickelt, eigentlich im Gegensatz zu dem Sozialistengesetz, welches diese zu erhalten dienen sollte.

Die Konservativen und die Zentrumspartei sind freilich schon lange mit den bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Zuständen unzufrieden gewesen, aber sie konnten nicht daran denken, daß ihnen der Staat seine starke Hand zu Verwirklichung ihrer Wünsche bieten würde. Als nun der Fürst Bismarck ihrer Hilfe zur Durchsetzung seiner Pläne bedurfte, da haben beide Parteien verstanden, ein gutes Teil ihrer Ideen mit denselben zu verbinden. Sozialistische Gedanken waren ohnehin nicht mehr fremd, und sehr schnell gewöhnte man sich erst an eine sozialistische Phraseologie und dann ganz unmerklich daran, die einzelnen Maßnahmen der Gesetzgebung als Teile eines neuen Systems der Gesellschaftsrettung zu betrachten. Bald waren weite Kreise mit dem Gedanken vertraut geworden, daß nichts leichter sei, als die bestehende Gesellschaftsordnung so oder so, wie man gerade für gut halten mochte, auf dem einfachen Weg des Erlasses einer Anzahl von Gesetzen von Grund aus umzuschaffen. Jetzt sind schon sonst ganz bedächtige Männer soweit gekommen, daß sie es für eine selbstverständliche nicht nur, sondern geradezu für die erste Aufgabe des Staates halten, die Gesellschaft nach gewissen Prinzipien zu gestalten.

Damit sind Weltverbesserungspläne, welche man noch vor kurzem einfach als Utopien bezeichnet haben würde, ernsthafte Vorschläge geworden, deren Verwirklichung durch die Gesetzgebung ─ soweit deren Macht reicht ─ durchaus innerhalb der Möglichkeit liegt.

Die konservative, die ultramontane und die sozialistische Partei haben eine gewisse Richtung der Sozialreform, d. h. eine gewisse Umgestaltung der Gesellschaftsordnung von Staats wegen geradezu in ihr politisches Programm aufgenommen; die eigentliche Arbeiterfrage ist davon nur ein Teil, ja bei Konservativen und Zentrum nur ein untergeordneter.

Selbst die Reichsregierung hat sich zu dem Gedanken bekehrt, daß sie eine neue Gesellschaftsordnung schaffen müsse. So erklärte z. B. im Mai 1883 der Staatsminister Scholz2, der damals als Vertreter des Reichskanzlers fungierte: „Die Regierung hat erkannt, daß das Volk nicht bloß auseinandergezogen ist in einzelne Kreise oder Gruppen, nein, daß es zerrissen ist in Atome und daß es darauf ankommt, zur Rettung der Gesellschaft die korporative Gruppierung, die Zusammenfügung der einzelnen, die Auseinanderreißung des Urbreies wieder in die Hand zu nehmen, mit dem die Gesetzgebung zum Teil schon das Volk beglückt hat.“3 Die Reichsregierung geht auch ganz ernsthaft in solchem Sinn vor, die Innungen wie auch die Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung sind schon als die ersten Anfänge einer neuen Gesellschaftsorganisation gedacht, welche im wesentlichen wohl dem konservativen Ideal entsprechen würde.

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Die Gesellschaft soll nach diesem gebildet werden aus festen Berufsständen, die wieder in sich stufenweise gegliedert sind, und zwar so, daß von einer Stufe zur andern ein Übergang in der Regel nicht stattfindet und daß die Vertretung der Interessen jedes Standes der obersten Stufe, z. B. beim Grundbesitz dem Großgrundbesitz, anheimfällt. Der Regierung ist dabei eine in alles eingreifende, alles beaufsichtigende und ordnende Stellung zugedacht, in der Annahme, daß die Leitung des Staates bei einer solchen Gesellschaftsordnung in die Hände der oberen Klassen und namentlich der Aristokratie kommen werde; der Staat wird als ein streng monarchischer, mit möglichst geringer politischer Beteiligung des Volkes gedacht, in der Voraussetzung, daß der Monarch sich vorzugsweise als Vertreter der oberen Klassen fühlen und handeln werde.

Die konservative Sozialreform soll die Interessen der höheren Klassen zu den herrschenden machen; in der strengen preußisch konservativen Auffassung ist darunter nur die eigentliche Aristokratie verstanden, vielleicht fände aber auch der nichtadlige Großgrundbesitzer und Großindustrielle gnädige Aufnahme.

Die Ideale des Zentrums sind andere. Allerdings geht auch dieses auf eine Neugliederung der Gesellschaft in feste Stände und Stufen mit möglichst scharfer Abgrenzung aus; aber nicht sowohl im Interesse herrschender Klassen als vielmehr im Interesse der Kirche soll diese Gestaltung stattfinden, und das bedingt eine weit weniger bedeutende Stellung des Staates. Zwar hat das Zentrum in denjenigen Teilen der Sozialreform, welche bisher praktisch geworden sind, den Konservativen viel in bezug auf den Einfluß des Staates nachgegeben, aber nur mit Widerstreben, und es hat kein Hehl daraus gemacht, daß ihm die zu große Stärkung der Staatsgewalt keineswegs genehm ist. Die katholische Kirche hat es auch verstanden, eine Anzahl von mächtigen sozialen Organisationen unter kirchlicher oder von der Kirche stark beeinflußter Leitung zu schaffen, welche nötigenfalls ein schweres Gegengewicht gegen die staatlichen Organisationen geben können, und auf der Katholikenversammlung in Amberg ist gar nicht verheimlicht, daß das Ziel aller katholischen Bestrebungen die Stärkung des Einflusses der Kirche auf sozialem Gebiet sein müsse.4 Das läßt eine so bedeutende Stellung, wie die Konservativen dem Staat geben wollen, gar nicht zu, vielmehr müssen die zu schaffenden Organisationen so frei sein, daß sie ungehindert dem kirchlichen Einfluß folgen können. Ist dieser wirklich der maßgebende, so kommt es auf die Staatsform wenig an; die katholische Kirche weiß sich mit jeder abzufinden.

Das Ideal des Zentrums liegt, wie offen ausgesprochen wird, in einer den heutigen Verhältnissen einigermaßen angepaßten Wiederherstellung mittelalterlicher Zustände, das der Konservativen in einer Wiederbelebung des Polizeistaats des 17. und 18. Jahrhunderts.

Natürlich treten diese Grundgedanken nicht in jedem einzelnen Fall mit voller Schärfe hervor, auch ist der Unterschied zwischen den klerikalen und konservativen Zielen in der Praxis nicht so groß wie in der Theorie, schon deshalb, weil konservative und klerikale Interessen sich vielfach kreuzen; aber die letzten Ziele sind durchaus verschieden.

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Diesen beiden Anschauungen steht nun die sozialdemokratische vollständig entgegen, welche nicht im Interesse kleiner bevorzugter Klassen oder einer bevorzugten Institution, sondern im Interesse der Arbeiter, also der Mehrheit der Nation, die Gesellschaftsordnung umgestalten will, so, daß überhaupt jeder Unterschied, jede Gruppierung beseitigt wird und alle Menschen zu Arbeitern gemacht werden. Diese vollständige Beseitigung jeder inneren Gliederung macht bei der sozialdemokratischen Gesellschaftsordnung ein noch viel stärkeres Regieren durch den Staat als bei der konservativen notwendig, da dieser der einzige über den einzelnen stehende Faktor ist. Ja, eigentlich kennt die Sozialdemokratie gar keine Gesellschaft neben dem Staat mehr; dieser ist die einzige Form der Vereinigung; in ihm gibt es nur einzelne Menschen, ja, in der äußersten Konsequenz nicht einmal mehr Familien. Der Zwang ist in dem sozialdemokratischen Staat weitaus der stärkste und am direktesten fühlbare, aber er wird von der Partei für erträglich gehalten, weil das Volk selbst ihn übt, ihn deshalb, wie man annimmt, auch nur im wirklichen Interesse der Gesamtheit anwenden wird. In der klerikalen Gesellschaftsordnung tritt an die Stelle des gesetzlichen Zwangs der viel wirksamere und schließlich die Freiheit noch mehr beschränkende geistliche Einfluß, der freilich, sobald er im Staat maßgebend geworden ist, auch dessen Machtmittel sich trefflich dienstbar zu machen weiß.

In allen diesen drei Gesellschaftsordnungen kommen die Arbeiter schlecht weg. In der konservativen und klerikalen sind sie nichts als die Basis, auf welcher das Gebäude ruht, und haben dessen ganze Last zu tragen. Die Erschwerung des Übergangs von einer Stufe zur andern und der freien Bewegung und Entwicklung überhaupt, trifft natürlich die Arbeiter am härtesten. In dem sozialdemokratischen Staat haben die Arbeiter nur den Trost, daß es allen gleich schlecht geht.

Auf die Stellung der Arbeiter kommen wir später noch besonders zurück.

Eine seltsame Rolle spielen gegenüber der Sozialreform die Nationalliberalen. Daß sie in ihrer früheren Gestalt für eine Neuschaffung der Gesellschaftsordnung im Sinne der Klerikalen und der Konservativen keinerlei Neigung hatten, ist wohl zweifellos. Wenn auch einige von ihnen gelegentlich betonten, daß sie ein Eingreifen des Staates in die soziale Entwicklung und namentlich zum Besten der arbeitenden Klassen keineswegs ablehnen würden, so haben sie dabei doch wohl nur an einzelne Maßregeln, nicht an eine umfassende Sozialreform gedacht. Die Nationalliberalen vertreten ja auch vorzugsweise die gebildeten Mittelklassen, welche gerade das meiste Interesse an der Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung haben. Bis in die letzte Zeit haben sie sich auch gegenüber allen sozialreformatorischen Vorlagen, mit Ausnahme der Krankenversicherung, sehr kühl und gegenüber denjenigen, welche eine Einschränkung der Freiheit des Wirtschaftslebens bezweckten, ablehnend verhalten. In dem Bestreben, regierungsfreundlich zu werden und eine einigermaßen brauchbare Wahlparole zu finden, haben sie letzthin in ihren Programmen und auf ihren Parteitagen unbestimmte Versprechungen für ihre Teilnahme an den sozialreformatorischen Bestrebungen des Fürsten Bismarck gegeben5 und sich im Grunde genommen verpflichtet, auf diesem Gebiet das zu tun, was er will, mit dem üblichen Vorbehalt sachlicher Prüfung, d. h. praktisch betrachtet mit dem Vorbehalt, einige kleine bescheidene Änderungen vorschlagen zu dürfen, die ihnen dann auch wohl, ähnlich wie beim Unfallversicherungsgesetz geschehen ist, zugestanden werden [ Druckseite 233 ] mögen. Wie die nationalliberale Partei demnächst aussehen wird, ist schwer zu sagen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie hauptsächlich großindustrielle Interessen vertreten wird. Damit würde eine konservative Sozialreform schwer zu vereinigen sein. Die ganze jetzige Entwicklung der nationalliberalen Partei ist aber derartig, daß dieselbe Widerstandskraft gegen den Willen des Kanzlers nur in sehr geringem Maß haben wird.

Die deutsch-freisinnige Partei steht einer Sozialreform, so, wie dieselbe jetzt verstanden wird, durchaus ablehnend gegenüber. Sie hat in ihr Programm ausdrücklich aufgenommen: „Förderung der Volkswohlfahrt aufgrund der bestehenden Gesellschaftsordnung“, volle Wahrung der Gleichberechtigung, der Selbsttätigkeit und des freien Vereinigungswesens der arbeitenden Klassen, die Bekämpfung des Staatssozialismus und der auf Bevormundung und Fesselung des Erwerbs- und Verkehrslebens, der Gewerbefreiheit und Freizügigkeit gerichteten Maßregeln.6

Mit diesen Sätzen ist weder eine konservative noch eine klerikale noch auch eine sozialdemokratische Reform der Gesellschaftsordnung vereinbar. Ebenso bestimmt aber spricht das Programm die Bereitwilligkeit aus, für alle auf Hebung der arbeitenden Klassen abzielenden Bestrebungen einzutreten.

Es ist noch nicht lange her, daß man überhaupt alle solche Pläne, wie die, welche man jetzt mit dem Namen „Sozialreform“ belegt, in das Gebiet der Utopien verwies. Das eine haben sie alle miteinander gemein, daß sie voraussetzen, es könne durch gesetzliche Maßregeln binnen kurzer Zeit der Zustand der menschlichen Gesellschaft von Grund aus umgestaltet werden. Bisher hielt man das überhaupt nicht für möglich, weil man annahm, daß die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft durch ganz andere und sehr viel mächtigere Einflüsse bestimmt werde als diejenigen, welche der Gesetzgebung zu Gebote stehen. Von der früher verbreiteten Meinung, daß durch eine Verfassung der politische Zustand eines Landes schleunigst umgestaltet, aus einem despotisch regierten ein konstitutionell verwaltetes gemacht und dem Volk wirkliche Freiheit, wirkliche Teilnahme an der Leitung seiner Angelegenheiten gegeben werden könne, ist man schon lange zurückgekommen. Die Erfahrung hat bewiesen und beweist täglich wieder, daß Verfassungen nur insoweit einen Wert haben, wie sie der Ausdruck wirklicher, realer Kräfte des Volkes sind, und nur solange und insoweit bestehen und wirken, wie sie durch diese Kräfte getragen werden.

In noch viel höherem Maß muß dies aber von dem gesamten sozialen und wirtschaftlichen Leben eines Volkes gelten. Fortschritt der Bildung und Wohlhabenheit, Erfindungen und Entdeckungen, Verbesserung der Verkehrsmittel, das sind die Einflüsse, welche von jeher die Entwicklung des Volkslebens maßgebend beeinflußt haben. Die Gesetzgebung hat nur in beschränktem Maß eingegriffen, und wo sie wirksam gewesen ist, da war sie es meistens dadurch, daß sie, weil sie Hindernisse beseitigte. So hat die deutsche Gesetzgebung ungemein viel geleistet durch die Beseitigung von Schranken, die in früheren Zeiten dem Erwerbs- und Wirtschaftsleben aufgelegt waren, durch die Gewährung der Gleichberechtigung aller Bürger, durch freiere Staatseinrichtungen und Fürsorge für Volksbildung. Dadurch sind zugleich Hindernisse aus dem Weg geschafft und neue Kräfte in Bewegung gesetzt; beides zusammen hat den gewaltigen Fortschritt unseres Jahrhunderts zuwege gebracht.

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Zivilisierte, hochentwickelte Nationen aber wieder in längst abgestreifte Bande schlagen zu wollen, ist ein ganz vergebliches Bemühen. In unserer Zeit zumal ist die freie Entwicklung eine so mächtige geworden, daß alle Versuche, sie zu hemmen, wirkungslos bleiben. Man braucht nur zurückzudenken an alle die gewerblichen Beschränkungen, welche früher auf Deutschland lasteten, und welche schon, ehe die Gesetzgebung sie beseitigte, an allen Punkten durchbrochen waren, so daß in der Tat die Gewerbefreiheit nicht mehr lebenskräftige Institutionen, sondern nur Ruinen beseitigte. Und was in den letzten Jahren von solchen Beschränkungen neu eingeführt wurde, ist ohne Einfluß auf das gewerbliche Leben im ganzen geblieben. In einzelnen Fällen mögen sie hemmend wirken, im großen und ganzen weiß der Verkehr sich über sie hinwegzusetzen. Nur solche Maßregeln können überhaupt sozialreformatorisch wirken, welche in dem Zug der Zeit liegen. Jeder Versuch, etwas ganz Neues, ihm Entgegenlaufendes zu schaffen, ist von vornherein als erfolglos zu bezeichnen und als um so erfolgloser, je größer die Änderungen sind, welche herbeizuführen er sich anmaßt.

Daß alle drei Richtungen, die konservative, die klerikale und die sozialdemokratische, durchaus der eigentlichen auf die freie Entwicklung des einzelnen gerichteten Tendenz der heutigen Zivilisation entgegen sind, bedarf keines Nachweises. Alle übrigen zivilisierten Länder zeigen uns, daß in der möglichsten Befreiung des Individuums von beschränkenden Fesseln eine wesentliche Bedingung der Zivilisation liegt. Was speziell das Erwerbsleben anbetrifft, so ist es heute so vielgestaltig, so schnell wechselnd, so stark beeinflußt von immer neu und immer schneller sich einbürgernden und ausgestaltenden Erfindungen und von der Verbesserung der Verkehrsbeziehungen, daß Vorschriften über die Gruppierung des Gewerbes, über Vorbereitung oder Befähigungsnachweis der Gewerbetreibenden, Einengung in staatlich geordnete Korporationen u. dgl. völlig unhaltbar sind. Wenn die Landwirtschaft in die jetzigen wirtschaftlichen Verhältnisse sich schwer findet, so ist dies zu einem nicht geringen Teil die Folge davon, daß sie durch gesetzliche Beschränkungen und Gewohnheit in der Freiheit ihrer Bewegung behindert ist.

Die Sozialreformer haben einen ganz richtigen Gedanken ergriffen, aber sie haben ihn nicht im Sinne unserer Zeit, sondern nach ihren auf Wiederherstellung früherer Zustände gerichteten Wünschen verstanden.

Es ist ganz richtig, daß, nachdem eine Zeitlang das Bestreben der Welt vorzugsweise auf Befreiung und Entwicklung des Individuums gerichtet war, jetzt ein zweites Prinzip wirksam geworden ist, das der Vergesellschaftung in den verschiedensten Formen und auf allen Lebensgebieten. Gerade die hohe Entwicklung des heutigen Lebens fordert immer mehr den Zusammenschluß der einzelnen zu gemeinsamem Handeln, zur Abwehr und zum Kampf, aber beide Tendenzen widersprechen sich gar nicht, die zweite ist vielmehr nur eine weitere Ausgestaltung der ersten und fordert nicht deren Einschränkung.

Durch Zwang können lebensfähige genossenschaftliche Bildungen noch weniger geschaffen als erhalten werden. Alle jene großen, weitverbreiteten Vereinigungen früherer Zeit sind entstanden aus freiem Antrieb; sie haben nur geblüht, solange sie in freier Weiterbildung sich den wechselnden Zeitverhältnissen anpassen konnten, und sind zugrunde gegangen, als man sie durch Gesetz und staatliche Aufsicht daran hinderte. Weniger als je früher ist heute möglich, eine zivilisierte Nation willkürlich in Gruppen zu vereinigen, diese zu formieren und gar von oben in ihrem Leben zu leiten, wie es alle Sozialreformpläne wollen.

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Die Entwicklung, welche jetzt im Gange ist, kann recht wohl neue Gruppierungen in der Gesellschaft schaffen, aber das ist keine Frage, daß sie nie wieder zu einer festen Einteilung der Bevölkerung führen wird, wie sie in früheren Zeiten bestand und wie sie Konservative und Klerikale wollen. Die freie Bewegung, die Möglichkeit, heute so und morgen anders seine Kräfte anzuwenden, ist eine so notwendige Bedingung der Existenz des modernen Menschen, daß sie nie wieder aufgegeben werden kann.

Es ist auch gar nicht nötig, die auf Vergesellschaftung gerichtete Tendenz von Staats wegen zu stärken; sie ist allenthalben in kräftigster Wirkung, das Genossenschafts- und Vereinswesen blüht in allen Formen und auf allen Gebieten des Lebens und ist in einer reichen Entwicklung begriffen. In diese einzugreifen, wie es durch Zwangsgenossenschaften geschieht, ist der größte Fehler. Die Verhältnisse sind weitaus zu vielgestaltig, als daß mit einiger Sicherheit auch nur das für den Augenblick Richtige getroffen werden könnte. Die Durchführung der Krankenversicherung zeigt schon jetzt, daß man sich in der Beurteilung der tatsächlichsten Verhältnisse nicht wenig geirrt hat und daß etwas ganz anderes schließlich daraus werden wird, als gedacht wurde, und noch in viel höherem Grad wird diese Erfahrung bei der Unfallversicherung gemacht werden.

Eine umfassende, durch Gesetz zu bewirkende Sozialreform, wie man sie jetzt versteht, liegt nicht in der Macht des Staates, und ernstlichen Versuchen solcher Art muß man schon deshalb widerstreben, weil sie nur nutzlos Kraft vergeuden, die anders besser angewandt werden könnte. Der Sozialreform in diesem Sinn entgegen sein, heißt aber keineswegs den Beruf des Staates abstreiten, für die weitere Entwicklung der menschlichen Gesellschaft mit den seinem Wesen entsprechenden Mitteln mitzuwirken. Gerade der moderne Staat kann hier viel tun; nichts wäre törichter, als auf seine Hilfe zu verzichten, und niemals hat das eine deutsche liberale Partei getan. Der Streit ist auch in der Tat nur über Art und Maß dieser Mitwirkung.

II. 7

Das Mittel, welches unsere Sozialreformer fast ausschließlich zur Anwendung bringen, ist der direkte Staatszwang: Gewisse Einrichtungen werden im Interesse der Gesamtheit für notwendig erklärt, eingerichtet und unter Staatsaufsicht gestellt.

Man muß anerkennen, daß der Weg zwangsweiser Einrichtung der allein mögliche ist, wenn eine sofortige weitgreifende Umänderung bestehender Zustände stattfinden soll und wenn man sicher sein will, daß diese Neugestaltung in einer ganz bestimmten Richtung erfolge.

Diese Art des Vorgehens liegt auch ganz in der Tendenz der beabsichtigten Sozialreform, welche weit weniger den Zweck hat, das Los der einzelnen zu bessern, als das Interesse der Gesamtheit zu fördern.

So ist für die Gestaltung der Kranken- und Unfallversicherung das öffentliche Interesse maßgebend gewesen, es galt zu verhindern, daß kranke und durch Unfall beschädigte Arbeiter der Gesamtheit zur Last fallen, und ähnliche Rücksichten werden bei den andern geplanten sozialreformatorischen Einrichtungen, bei den obligatorischen Innungen, der Alters- und Invalidenversorgung, dem Recht auf Arbeit usw. zur Geltung kommen. Der öffentlich-rechtliche Gesichtspunkt, wie man es jetzt [ Druckseite 236 ] auszudrücken pflegt, ist entscheidend geworden. Darum wird nicht auf privatrechtlichem Boden weitergebaut; man erweitert z. B. nicht das Recht des Arbeiters auf Entschädigung gegen seinen Arbeitgeber im Fall einer Beschädigung im Betrieb, sondern man schafft öffentlich-rechtliche Institutionen für die Unfallentschädigung. Man fördert nicht das Krankenversicherungswesen, sondern man schafft eine neue staatlich geordnete Kassenorganisation. Zur Zeit ist die bevorzugte Form die korporative Genossenschaft, natürlich unter strengster Staatskontrolle; denn die großen Organisationen müssen, eben weil sie öffentlich-rechtlicher Natur und mit entsprechenden Rechten ausgestattet sind, notwendigerweise beschränkt werden durch eine in allen wichtigen Punkten maßgebende Einwirkung des Staates, und zwar vorzugsweise der Exekutive. Das führt weiter zur Bildung neuer Staatsbehörden und zu einer sehr komplizierten Gesetzgebung, die wieder durch zahlreiche Verordnungen, Anweisungen u. dgl. ergänzt werden muß. Neben der jetzigen schon großen wird eine noch größere und noch kompliziertere Staatsmaschinerie geschaffen, und das Wohl und Wehe des einzelnen würde, je mehr die Sozialreform vorschritte, in desto höherem Maß in die Hand des Staates gelegt werden.

Ganz klar tritt dies schon jetzt da zutage, wo die Pläne etwas festere Gestalt angenommen haben, also auf dem Gebiet der Fürsorge für die arbeitenden Klassen. Wenn die Kranken- und Unfallversicherung allgemein geworden ist und wenn an sie, in ähnlicher Weise eingerichtet, sich eine Versicherung gegen Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit anschließt, so verfügt in der Tat der Staat direkt oder indirekt nicht nur sehr weitgehend über die Person, sondern auch über einen sehr großen Teil des über den notwendigen Lebensunterhalt hinausgehenden Einkommens der Arbeiter.

Eine fernere Folge des öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkts ist, daß an die Stelle der bei Privatrechtsverhältnissen die Regel bildenden Verständigung zwischen Berechtigten und Verpflichteten in allen Fällen eine amtliche oder quasi amtliche Festsetzung gesetzt wird. Dies und die in die Verwaltung eingreifende staatliche Beaufsichtigung bedingt eine schablonenmäßige Gestalt der sozialen Einrichtungen; sonst würden die zur Ordnung der einzelnen Fälle berufenen Organe und Behörden mit einer außerordentlich großen Last belegt werden.

Darum können die Zwangskrankenkassen nicht die Versicherung eines beliebigen Krankengeldes zulassen, und die Unfallversicherung normiert feste Entschädigungssätze, um dem Ermessen der festsetzenden Stellen einen möglichst geringen Spielraum zu lassen und ihnen die Entscheidung möglichst zu erleichtern. Daß dabei der einzelne sehr schwer geschädigt werden kann, wird wenig in Betracht gezogen; wenn im großen Durchschnitt die Ordnung der Sache als vorteilhaft angesehen werden kann, so erscheint das völlig ausreichend.

Sozialreform im jetzt gebräuchlichen Sinn würde in der Tat Umgestaltung des Staates in sozialistischem Sinn sein. Sie ist unmöglich, aber schon jeder Versuch ist gefährlich. Jeder Schritt auf diesem Weg erregt neue Erwartungen von der Allmacht des Staates und gibt neuen Anreiz, mehr zu fordern, und je leichter es scheint, auf dem Wege der Gesetzgebung große Vorteile zu erreichen, desto mehr werden die Massen darauf drängen. Warum sollen z. B. bei den Zwangskrankenkassen die Arbeitgeber 1/3 und nicht 2/3 zahlen, warum muß bei der Unfallversicherung als Maximum der Entschädigung 2/3 des Lohns und nicht ein höherer Satz angenommen werden? Ganz gleiche Fragen würden sich ergeben bei Alters- und Invalidenversorgung. Die staatliche Festsetzung und die öffentlich-rechtliche Organisation solcher Einrichtungen führt ganz naturgemäß zu dem Gedanken, wenigstens bei der großen [ Druckseite 237 ] Menge, daß es zur Verbesserung ihrer Lage nur erforderlich sei, die Macht des Staates in die Hand zu bekommen. Darum sehen auch die sozialdemokratischen Führer mit wahrer Schadenfreude den sozialreformatorischen Bestrebungen der Konservativen und Klerikalen zu und richten ihre Absicht nicht sowohl darauf, sie zu hindern, als vielmehr zu zeigen, einerseits, daß die sozialdemokratischen Ideale als richtig anerkannt werden, andererseits aber, daß das, was geschehen, doch höchstens klägliche Abzahlungen auf die berechtigten Forderungen der Arbeiter seien. Sie wissen, daß jedes Stück dieser Sozialrefom die Sozialdemokratie ihrem Ziel näherbringt.

Natürlich will das keiner der jetzigen eifrigen Sozialreformer, sie trösten sich, wenn man sie auf die Gefahren ihres Vorgehens hinweist, damit, daß man jederzeit da anhalten könne, wo die weitere Ausführung bedenklich werden könnte. Dieser Gedanke ist es offenbar, der die Nationalliberalen bestimmt, für eine Sozialreform einzutreten, welche eigentlich den von ihnen am meisten vertretenen wirtschaftlichen Interessen zuwider ist. Ähnlich mag die Reichsregierung selbst zur Sache stehen; auch sie mag denken, daß es ja nur auf sie ankomme, der Entwicklung Halt zu gebieten. Die Konservativen würden versuchen, da stillzuhalten, wo die aristokratischen Interessen in Gefahr kommen, die Klerikalen, den Punkt zu finden, an welchem sie den Einfluß der Kirche zum geltenden machen könnten. Aber dabei wird eins vergessen, nämlich daß die menschliche Gesellschaft nicht aus Maschinen, sondern aus lebenden, denkenden und fühlenden Menschen besteht, in deren Geist man gewisse Ideen nicht hineinwerfen kann, ohne daß sie weiterwachsen und sich in einer vielleicht höchst unerwarteten Weise entwickeln. Wenn der Gedanke, daß es in der Macht des Staates liege, die menschliche Gesellschaft in einer bestimmten Weise zu gestalten, einmal in die Köpfe der großen Menge gebracht ist, so arbeitet er in denselben weiter, und er wird dabei eine ganz andere Gestalt annehmen und ganz anders wirken als die gebildeten Klassen, die anderen geistigen Einflüssen unterliegen, sich klarmachen können. Den tollsten und maßlosesten Plänen wird die Bahn eröffnet. Dazu kommt noch, daß in der letzten Zeit die ausschließliche Berechtigung einer Interessenpolitik für alle einzelnen und Klassen so oft und von so angesehener Seite verkündet ist, daß es ein Wunder sein würde, wenn die Lehre nicht in den weitesten Kreisen Glauben gefunden hätte. Liegt darin nicht die stärkste Aufforderung, an den Staat ungemessene Ansprüche zu stellen, und machen die besitzenden Klassen davon nicht schon sehr ungescheuten Gebrauch? Die unteren Klassen werden nicht vergessen, sich das zu merken und gelegentlich auch ihre Rechnung vorlegen.

Eine geistige Bewegung, welche einmal in Gang gesetzt ist, anzuhalten, ist ungemein viel schwerer, als man sich meist denkt; diese zugleich sozialistische und auf Befriedigung von Sonderinteressen zielende Strömung wieder in die richtige Bahn zu bringen, wird von Jahr zu Jahr schwerer werden und vielleicht nur mit sehr schweren Opfern erreichbar sein.

Gesetzt nun aber, es gelänge wirklich, solche staatliche Einrichtungen, wie die Sozialreformer sich vorstellen, auf gesetzlichem Wege zu schaffen, so würde damit ein Zwang auf das menschliche Leben gelegt werden, welcher die individuelle Entwicklung der Selbständigkeit geradezu töten würde. Je mehr die Allgemeinheit für den einzelnen sorgt, desto mehr verhindert sie ihn, für sich selbst zu sorgen, je mehr sie seine Kräfte in einer Richtung in Anspruch nimmt, desto mehr hindert sie die Betätigung derselben in anderen, je mehr die Selbsttätigkeit beschränkt wird, desto mehr wird auch die Kraft des Individuums geschwächt und desto notwendiger ist [ Druckseite 238 ] eine immer weitergehende Fürsorge des Allgemeinen für den einzelnen. Die letzte Folge muß, da die Gesamtheit nichts weiter ist als die Zusammenfassung der einzelnen und ihr keine andere Kraft innewohnt als die ihrer einzelnen Mitglieder, die sein, daß sie selbst schwach wird und aufhört imstande zu sein, ihre Aufgaben, welche immer mehr wachsen, zu erfüllen. Der ganze Staatssozialismus beruht im letzten Grund auf dem Gedanken, daß von der Kraft und Entwicklungsfähigkeit des einzelnen Menschen wenig erwartet werden dürfe. Daher die Unterschätzung des Segens, welchen die freie Entwicklung gebracht hat, und die Überschätzung der sie notwendig begleitenden unangenehmen Erscheinungen, daher die Geringschätzung aller derjenigen Maßregeln, welche die Entwicklung zu befördern imstande sind.

Zwischen solchen Anschauungen und dem Liberalismus liegt in der Tat eine nicht zu überbrückende Kluft, denn dieser steht fest auf der Annahme, daß durch freie Entwicklung des Individuums dieses selbst und der Staat am meisten gefördert werden. Allerdings ist dieser Satz eine Zeitlang extrem angewendet. Man hat nicht genügend beachtet, einerseits, daß nur in einem regen und vielfachen Gemeinschaftsleben das Individuum seine volle Entwicklung finden, und andererseits, daß insbesondere die am meisten ausgebildete Form der menschlichen Gesellschaft, der Staat, ungemein viel für deren Förderung tun kann und soll. Jetzt aber ist längst allgemein und ganz besonders auch von liberaler Seite theoretisch und praktisch dieser Beruf des Staates anerkannt worden.

Der Liberalismus wird immer die zwangsweise Herbeiführung und Festhaltung einer bestimmten Gesellschaftsordnung durch den Staat ablehnen müssen wegen der damit verbundenen besonders drückenden Beschränkung der Freiheit und weil dadurch die Weiterentwicklung gehemmt wird, wohl aber muß er sogar fordern, daß der Staat alle diejenigen Mittel seinerseits bereitstellt, welche derselben dienen können. Dahin gehört die Gewährung von Schutz, die Beschaffung von Bildungsmitteln im weitesten Umfang, von Mitteln zur Erkennung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände, und es wird dem Staat auch keineswegs Recht und Pflicht bestritten, Unternehmungen, welche die Kräfte Privater übersteigen, zu unterstützen oder selbst zu machen, ja unter Umständen auch direkt in private Beziehungen einzugreifen. Alle jene großen, befreienden Maßregeln zum Besten des Bauernstandes, Ablösung der Lehen, Gemeinheitsteilungen, Zusammenlegungen etc. sind nie von liberaler Seite als unzulässig bezeichnet, und die Herrschaft des Liberalismus in England hat die einschneidendsten Gesetze bezüglich der Beziehungen zwischen Grundbesitzern und Pächtern gebracht und wird deren noch mehr bringen. Aber die Tendenz solcher Eingriffe muß dahin gehen, zu befreien, namentlich die wirtschaftlich schwächeren Klassen zu stärken gegenüber den begünstigteren. Die heutige Sozialreform will umgekehrt die Freiheit beschränken und insbesondere die arbeitenden Klassen wieder in eine größere Abhängigkeit bringen.

Jede neue Beschränkung der Freiheit wird von liberaler Seite mit Mißtrauen betrachtet und nur im äußersten Notfall zugegeben werden können, denn die ganze menschliche Entwicklung geht eben dahin, an die Stelle des äußeren Zwanges die freie Einordnung in die Gesamtheit zu setzen.

Soweit der Staat mit seinen Mitteln in soziale Verhältnisse eingreift, muß er immer einen gewissermaßen erziehlichen Zweck verfolgen; was er tut, muß darauf abzielen, sittlich zu kräftigen, denn nur dadurch werden dauernde Erfolge erreicht. Deshalb liegt auch die wichtigste soziale Aufgabe für den Staat auf dem Gebiet, auf welchem am meisten noch für die Hebung des Kulturstandes geschehen muß, bei [ Druckseite 239 ] den unteren Klassen. Die bessergestellten Klassen können direkter Förderung ihres Wohles durch den Staat schon ziemlich entraten, sie helfen sich selbst und könnten dies in Deutschland schon sehr viel mehr, als sie sich selbst zutrauen; die Arbeiter aber bedürfen noch in mancher Beziehung einer besonderen Fürsorge des Staates.

III.8

Wenn die Sozialreform nichts anders ist als eine zwangsweise Gruppierung der menschlichen Gesellschaft in Berufsstände, so steht der Arbeiter auf der untersten Stufe. Dafür soll er nun entschädigt werden durch Beseitigung gewisser Notstände, welche allerdings, je tiefer die Vermögensstufe ist, desto mehr drücken. Der Arbeiter soll gesichert werden gegen die ökonomischen Folgen von Krankheit, Betriebsunfällen, Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit. Der Staat soll durch Gesetz und durch die Wirksamkeit seiner Behörden dafür sorgen, daß der Arbeiter in allen solchen Fällen die genügende Hilfe findet, und zwar nicht aus Mildtätigkeit, sondern von Rechts wegen. Dem Arbeiter soll dadurch eine leidliche Existenz gesichert, er soll dadurch mit dem Umstand, daß er auf der untersten Stufe der Gesellschaftsordnung steht, versöhnt werden.

Aber er wird gerade durch diese Mittel auch auf der untersten Stufe festgehalten.

Eine etwas nähere Betrachtung der Wirkung dieser Zwangsversicherung wird das leicht zeigen.

Bei der Krankenversicherung bezahlt der Arbeiter den größten Teil und bei den freien Hilfskassen sogar das Ganze der zur Unterhaltung der Kasse nötigen Gelder selbst.

Bei der Unfallversicherung trägt er allerdings nur einen geringeren Teil direkt, nämlich durch die Karenzzeit, den anderen größeren Teil hat der Arbeitgeber zu übernehmen; unter Umständen wird er ihn ganz oder teilweise auf den Arbeiter abwälzen, d. h. den Arbeitslohn entsprechend ermäßigen.

Die bei weitem größte Belastung würde aber dem Arbeiter die Versicherung gegen Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit bringen. Diese erfordert sehr große Summen.

Wie man auch die Form ihrer Aufbringung wählen mag, sei es also, daß wie bei den Zwangskrankenkassen eine Teilung der Beiträge zwischen Arbeitern und Arbeitgebern stattfindet, sei es, daß erstere oder letztere allein oder mit Unterstützung des Staates sie aufbringen, in allen Fällen wird dieser Beitrag in der Hauptsache aus der Tasche des Arbeiters selbst kommen. Der Arbeitgeber wird seinen Beitrag, wenn er einigermaßen beträchtlich ist, bei den Produktionskosten zu betrachten haben und wird, wenn diese nicht entsprechend höhere sein dürfen, versuchen, den Lohn entsprechend zu kürzen, und wenn der Staat erhebliche Zuschüsse zahlt, so muß er sie durch Steuern aufbringen, welche wieder zum größten Teil auf den arbeitenden Klassen liegen werden.

Ist es nun richtig, dem Arbeiter in solcher Weise eine erhebliche Summe von seinem Einkommen wegzunehmen?

Man wird freilich erwidern, daß dem Arbeiter gar nicht neue Ausgaben aufgelegt würden, weil Krankheit, Alter etc. ja unvermeidlich und in ihren ökonomischen Folgen unter allen Umständen von ihm zu tragende Ereignisse seien; im Grunde würden die Ausgaben nur auf eine längere Reihe von Jahren gleichmäßig verteilt.

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Dies ist aber falsch. Die Versicherung leistet erheblich mehr, als in den betreffenden Hinsichten bisher geschehen ist. Die Folge der allgemeinen Krankenversicherung wird sein, daß im ganzen für erkrankte Arbeiter besser gesorgt wird als bisher, denn eine große Anzahl derselben hat bisher in Krankheiten wenig Fürsorge und gar kein Krankengeld gehabt oder ist der Mildtätigkeit anheimgefallen. Ein weit größerer Teil des Einkommens der arbeitenden Klassen als bisher wird nach Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes auf Fürsorge in Krankheiten verwendet werden müssen, selbst wenn man den Zuschuß der Arbeitgeber berücksichtigt.

Bei Alters-, Invaliditäts- und Arbeitslosigkeitsversicherung würde dieses in noch viel höherem Maß der Fall sein, da in dieser Beziehung jetzt noch weit weniger als bezüglich der Krankheit Vorsorge getroffen ist.

Nun muß es ja Wunsch und Ziel sein, daß in allen diesen Beziehungen die Arbeiter bessergestellt werden; aber kann es mit einem Mal durch gesetzlichen Zwang bewerkstelligt werden? Nimmt man nicht dem Arbeiter einen zu großen Teil seines Einkommens ─ auf eine oder andere Weise? Ist dieses groß genug, um so erhebliche Abzüge tragen zu können?

Man wird sich gegenwärtig halten müssen, was es bei einem Einkommen, welches bestenfalls nicht weit über die gewöhnliche Lebenshaltung hinausreicht, heißt, auch nur einen, absolut betrachtet, geringen Betrag wegzunehmen. Dadurch wird nur oft dem Arbeiter gerade das entzogen, was ihm das Leben noch einigermaßen erträglich macht; diese Entziehung kann ihn auch noch weit schwerer treffen, d. h. geradezu seine Lebenshaltung auf ein niedrigeres Niveau herabdrücken.

Aber abgesehen von den direkten wirtschaftlichen Folgen für die Arbeiter würden noch andere bedenkliche Konsequenzen eintreten. Die nächste ist, daß dem Arbeiter in allen Fällen erschwert und wahrscheinlich in einer großen Anzahl von Fällen unmöglich gemacht werden würde, noch einen Teil seines Einkommens zu andern Zwecken als zu der gewöhnlichen Lebenshaltung zu verwenden, weil die etwaigen Überschüsse für die Versicherungen verwendet werden müssen. Die Ansammlung von Kapital durch Hinterlegung in Sparkassen, Erwerb eines eigenen Hauses oder Ackerstückes, Verbesserung der Wohnungseinrichtung, Anschaffung von besseren Arbeitsgeräten, größere Aufwendung für Bildungszwecke ─ das alles wird dadurch in sehr hohem Maß verhindert werden. Dadurch würde aber dem Vorwärtskommen ein sehr starker Damm gesetzt werden; der Arbeiter würde in der Situation, in welcher er sich befindet, allerdings gesichert, aber auch mehr als früher festgehalten werden. Wirtschaftlich wie moralisch wäre das höchst bedenklich.

Ferner aber bieten die Organisationen, welche mit der Durchführung eines solchen, auf alle Lebensverhältnisse sich erstreckenden Versicherungszwangs verbunden sein müssen, eine schlimme Beschränkung für den Arbeiter.

Keinem anderen Stand wird vorgeschrieben, wie er sein Einkommen für sich selbst verwenden soll; von allen übrigen Ständen begnügt der Staat sich, Beiträge zu fordern zu allgemeinen Staatszwecken. Es ist in der Tat eine große Zurücksetzung des Arbeiters, daß von Staats wegen über einen nicht unerheblichen Teil seiner Einnahme ohne weiteres verfügt wird. Die dadurch geübte Bevormundung wird um so mehr gefühlt werden, je mehr sie zur praktischen Wirksamkeit gelangt, je mehr in einzelnen Fällen der Arbeiter einsieht, daß er das, was er auf die Versicherung zu verwenden gezwungen ist, in einer für ihn sehr viel nützlicheren Weise hätte anlegen können. Ist es nicht in der Tat für sehr viele Arbeiter weitaus zweckmäßiger, einen Teil ihres Einkommens auszugeben zur Verbesserung ihrer Bildung und sich damit [ Druckseite 241 ] für die Zukunft ein wesentlich höheres Einkommen zu verschaffen? Ist es nicht für den jüngeren Arbeiter die nützlichste Verwendung seiner Ersparnisse, wenn er sich seinen künftigen Hausstand davon einrichtet, oder für den ländlichen Arbeiter, wenn er eine eigenes Ackerstück erwirbt?

Hier waltet wieder der jetzt so weitverbreitete Irrtum, daß eine an sich nützliche und im Interesse des Ganzen möglichst zu verallgemeinernde Einrichtung von Staats wegen erzwungen werden müßte.

Die Versicherung ist gewiß ein geeignetes Mittel des Schutzes gegen die wirtschaftlichen Nachteile von Krankheit etc., aber es ist nicht das einzige, nicht einmal das unter allen Umständen beste. Ja, in vielen Fällen ist es selbst besser, überhaupt keinen Schutz gegen solche Gefahren zu haben, wenn dieser nur erreicht werden kann unter Verzicht auf andere größere Vorteile. Die zwangsweise Einführung der Versicherung lenkt aber die Gedanken und die Mittel ausschließlich nach dieser Seite hin und verhindert dadurch auch da, wo sie an sich die besseren sein würden, die Einschlagung anderer Wege.

Nun ist aber auch nicht einmal in Abrede zu stellen, daß die Versicherung, wenn auch das den nächsten Zweck am direktesten erreichende, so doch keineswegs, wenn man die ganze Entwicklung des Arbeiterstandes im Auge hat, immer das beste Mittel ist. Auch der bestversicherte Arbeiter bleibt doch für seinen Lebensunterhalt, ja auch für Fortführung seiner Versicherung ausschließlich auf seinen täglichen Erwerb angewiesen. Wenn er aber aus den Ersparnissen, welcher er für die Versicherung verwenden muß, sich Kapital in irgendeiner Form, in zinstragenden Papieren, in einem eigenen Haus geschafft hat, dann hat er nicht bloß einen Fonds für schlechte Zeiten, sondern er ist auch ein anderer Mensch geworden; er hat den Trieb, auf demselben Weg weiterzugehen, er fühlt sich nicht mehr abgeschieden von den übrigen Ständen, er hat nun dasselbe Interesse wie sie, einzutreten für die Erhaltung geordneter wirtschaftlicher Zustände, für Wahrung und Schutz des Eigentums, er wird nicht mehr geneigt sein, sich sozialistischen Bestrebungen hinzugeben. Die Kluft zwischen dem Arbeiterstand und anderen Ständen wird dadurch überbrückt.

Die ausschließliche Richtung der Staatsfürsorge für die Arbeiter auf das Versicherungswesen führt nun schon deshalb, weil die Tätigkeit aller staatlichen Organe auf diesem Gebiet in Anspruch genommen wird, dazu, andere Mittel zurückzustellen. Weit weniger denkt man an Maßregeln für Sicherung des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter im Fabrikbetrieb, und man zögert gar nicht, eine Zollpolitik zu betreiben, welche gerade die ärmsten Klassen am härtesten trifft. Ganz in den Gedankengang, aus welchem die Zwangsversicherung entsprungen, paßt, daß man in den Unfallberufsgenossenschaften unbedenklich große Assoziationen der Arbeitgeber schafft, welche deren Macht gegenüber den Arbeitern wesentlich verstärkt, gleichzeitig aber nicht nur jede Organisation der Arbeiter für sich, sowohl im Krankenkassenwesen als auch bei der Unfallversicherung nach Möglichkeit hindert; daß man ferner ihr Interesse bei der Innungsgesetzgebung vernachlässigt, daß man sie unter den Zwang der Arbeitsbücher stellen möchte u. dgl. m.

Der Staat soll praktisches Christentum9 üben, das soll eines der Ziele der Sozialreform sein, aber christliche Liebe kann nur von Mensch zu Mensch geübt werden, weil sie die Invalidität des Falles berücksichtigen muß, und der Staat kann nicht [ Druckseite 242 ] anders, als nach allgemeinen ─ in sehr vielen Fällen harten ─ Regeln verfahren. Und was das Bedenklichste ist, je mehr der Staat die Fürsorge für Not und Elend auf sich nimmt, desto mehr nimmt er dem einzelnen die Gelegenheit zur Übung christlicher Liebe, desto mehr erleichtert er, die christlichen Pflichten auf den Staat abzuwälzen. Diese Wirkung wird die Zwangsversicherung speziell auf das Verhältnis üben, in welchem die Betätigung christlicher Liebe am notwendigsten ist, nämlich auf das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern. Die staatliche Organisation der Arbeiterfürsorge bewirkt, daß dieselbe immer mehr einen rein geschäftlichen Charakter erhält. Jede Fürsorge auf denjenigen Gebieten, welche von der Versicherung betroffen werden, wird dem einzelnen Arbeitgeber aus der Hand genommen. Der Arbeiter wird unabhängig von seinem Dienstherrn, dafür aber um so abhängiger von der organisierten Gesamtheit der Arbeitgeber. Dem einzelnen Arbeitgeber bleibt kaum noch die Möglichkeit, auf den von der Versicherung betroffenen Gebieten für seine Leute zu sorgen, der Antrieb dazu wird jedenfalls sehr gemindert. Je mehr von Gesetzes wegen die Fürsorge für die Arbeiter in die Hand genommen wird, desto mehr tritt auch die freie Tätigkeit der einzelnen und der Vereine zurück. Das praktische Christentum der einzelnen wird so sehr erheblich zurückgedrängt.

Eine in solchen Richtungen sich bewegende Beeinflussung der Arbeitsverhältnisse muß durchaus einer jeden liberalen Partei entgegen sein. Eine liberale Politik muß im Gegenteil den Gegensatz zwischen Arbeitern und den übrigen Berufen möglichst dadurch zu beseitigen suchen, daß sie die wirtschaftlichen Verhältnisse der ersteren denjenigen der übrigen Klassen näherbringt und das Aufsteigen zu anderen Berufen möglichst erleichtert.

Unerläßliche Vorbedingung für eine wirkliche Besserung der Arbeitsverhältnisse ist freilich die Gestaltung der Wirtschaftspolitik in arbeiterfreundlichem Sinn. Mit allen Künsten der Dialektik ist nicht wegzuleugnen, daß eine Schutzzollpolitik die Preise erhöht und daß speziell eine Besteuerung der notwendigen Lebensbedürfnisse diese verteuert. Mit der Erhöhung der Preise durch den Zoll können allerdings gleichzeitig noch stärkere, auf eine Ermäßigung wirkende andere Ursachen eintreten, welche die Preise, mit früheren verglichen, ermäßigen, aber im Vergleich mit anderen freihändlerischen Ländern müssen die Preise in einem schutzzöllnerischen höher sein. Höhere Lebensmittelpreise insbesondere bedingen auf die Dauer höhere Löhne, also die Steigerung eines sehr wesentlichen Teiles der Produktionskosten, und vermindern dadurch die Absatzmöglichkeit nicht bloß im Inland, sondern namentlich auch gegenüber dem Ausland; sie müssen schließlich zu einer Beschränkung der Produktion oder zu einer schlechteren Lebenshaltung der Arbeiter führen.

Die hieraus folgende Schädigung kann aber durch Zwangsversicherungseinrichtungen nicht gemindert, muß durch solche vielmehr noch verstärkt werden, denn die Beiträge bleiben unverändert, welche für dieselben erfordert werden.

Alle zum Besten der arbeitenden Klassen bestimmte Maßregeln dürfen niemals die Selbständigkeit und Weiterentwicklung des Arbeiters dadurch hindern, daß sie ihm für solche Dinge die Fürsorge abnehmen, für welche er selbst sorgen kann; sie müssen im Gegenteil darauf abzielen, ihn zu größerer Selbständigkeit zu erheben. Das ist das eigentliche Grundprinzip für alle Schritte zum Besten der Arbeiter, ganz besonders aber für staatliche Einrichtungen zu diesem Behufe. Darum liegt dem Staat vorzugsweise ob, dem Arbeiter Schutz ─ im weitesten Sinn ─ für seine Entwicklung und seine Bestrebungen zu gewähren. An erster Stelle gehören dahin Maßregeln zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter im Betrieb und zum [ Druckseite 243 ] Schutz gegen Bedrückung durch die Arbeitgeber. Hier greift schon jetzt der Staat ein, und es fällt keiner politischen Partei ein, ihm diese Pflicht zu bestreiten. Gerade von liberaler Seite ist die Reichsregierung öfter, leider meist erfolglos, aufgefordert, von ihren Befugnissen mehr Gebrauch zu machen.10 Bezeichnend für die Richtung der jetzigen Arbeiterfreundlichkeit ist, daß das Unfallversicherungsgesetz die Initiative für den Erlaß von Sicherheitsvorschriften der Berufsgenossenschaft, d. h. den Arbeitgebern, überläßt.11

Dies Gebiet ist ein sehr weites, und es kann und muß auf demselben noch sehr viel geschehen; es gehört dahin namentlich auch die Frage der gesetzlichen Beschränkung der Arbeitszeit.

Ein zweites Feld ist die Förderung des Vereinswesen der Arbeiter. In dieser Beziehung ist nicht allein außer den Gesetzen über das Genossenschaftswesen und über die eingeschriebenen Hilfskassen12 nichts Positives in der letzten Zeit getan, sondern das jetzt herrschende System hat eine ganz entschiedene Abneigung gegen freie Vereine hervorgerufen, teils aus Furcht vor der Sozialdemokratie, teils, weil die Arbeitgeber annehmen, daß durch solche die Arbeiter ihre Position gegen sie stärken möchten. Wo das Gesetz selbst Arbeitervereinigungen angeordnet hat, also hauptsächlich in der Krankenversicherung, ist aus diesen Gründen die möglichste Beschränkung der Zwecke und eine möglichst scharfe Kontrolle durch Arbeitgeber und Behörden Prinzip gewesen.

Nichts aber ist unrichtiger, als diese Abneigung gegen das Vereinswesen der Arbeiter. Allerdings können sozialdemokratische Elemente von demselben nicht ferngehalten werden, aber sie würden von politischer Agitation ab, zu praktischer Arbeit geführt werden, und in solchen Vereinen würden nicht die besten Agitatoren, sondern die geschäftlich tüchtigsten Männer schließlich zur Herrschaft kommen. Freilich ohne manchen Irrtum und Fehlschlag würde es nicht abgehen, aber das ist in einer wirklichen Entwicklung überhaupt nicht zu vermeiden und das beste Lehrmittel.

Das Vereinswesen ist, wie die Erfahrung namentlich Englands gezeigt hat, für die Arbeiter die beste Erziehung, nicht bloß wirtschaftlich, sondern auch moralisch und politisch; es hat dort einen selbständigen, aber auch gesetzestreuen und die bestehenden Zustände achtenden Arbeiterstand geschaffen und das revolutionäre Element überwunden, weil es ein reiches Feld der Tätigkeit und die Möglichkeit großer Erfolge auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung bot. Heute sind die korporativen und Unterstützungsvereine, selbst die lange Zeit so bitter gehaßten Trade-Unions die besten Stützen der Ruhe und Ordnung und selbst feste Dämme gegen revolutionäre Ideen geworden.

Freilich darf der Staat gerade auf diesem Gebiet nicht mit seiner Zwangsgewalt eintreten; er muß im Gegenteil der freien Gestaltung nach lokalen und selbst persönlichen [ Druckseite 244 ] Verhältnissen möglichst freien Spielraum lassen; seine Aufgabe ist die Schaffung geeigneter Rechtsformen und die Beschaffung genügenden wissenschaftlichen und statistischen Materials und Rates für die Geschäftsgebarung der Vereine.

Eine dritte und wohl die wichtigste Gruppe der staatsfürsorglichen Maßregeln für die Arbeiter liegt auf dem Gebiet der Erziehung. Hier ist noch ungemein viel zu tun.

Noch fehlt es an sehr vielen Orten an ausreichender Fürsorge für die zahlreichen schulpflichtigen und jüngeren Kinder, deren Eltern den Tag über außer dem Haus sind; die Elementarbildung bedarf einer Erweiterung nach der Seite der praktischen Ausbildung, bei Knaben in allerlei Handfertigkeit, bei Mädchen im Haushalten und weiblicher Handarbeit; allgemeine und technische Fortbildungsschulen sind weitaus in zu geringer Zahl da und leisten an vielen Orten noch zu wenig. Auch sonst ist noch sehr viel zu vervollständigen und zu bessern; z. B. ist für die Vorbildung älterer ─ der Lehrlingszeit entwachsener ─ Arbeiter noch viel zu wenig gesorgt. Dem intelligenten und strebsamen Arbeiter muß es möglichst leichtgemacht werden, auch in späteren Jahren sich allgemeine und speziell fachwissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben, durch welche er zu höheren Stufen emporsteigen kann; diesem Zweck müßten die Fortbildungsschulen besonders dienen, große öffentliche, leicht zugängliche Bibliotheken müßten dem Arbeiter das Material zum Selbststudium bieten.

Noch auf vielen anderen Gebieten, z. B. auf dem der Hygiene, findet sich sehr viel, was der Staat bzw. die Gemeinden und sonstige staatliche Korporationen im Interesse der arbeitenden Klasse zu tun haben und wobei sie des lebhaftesten Beifalls aller Liberalen sicher sind. Diese unterschätzen gewiß nicht die große Hilfe, welche der Staat den Arbeitern gewähren kann, aber ─ darin liegt der notwendige Gegensatz des Liberalismus zu der gegenwärtigen Art der Fürsorge für die Arbeiter ─ sie können nicht zugeben, daß diese Hilfe in einer Richtung angewendet wird, welche den Arbeiterstand unter einen besonderen Zwang und dadurch unter die übrigen Bürger stellt und seine Entwicklung hemmt.

Ebensowenig aber kann von liberaler Seite dem Staat der ausschließliche Beruf zugestanden werden, für das Beste der Arbeiter zu sorgen. Vielmehr ist immer gerade von dieser Seite ausgesprochen und praktisch betätigt, daß die gerade bessergestellten, geistig höhergebildeten Stände freiwillig und ohne Staatszwang für die höhere Entwicklung der Arbeiter wirken, ihre Geldmittel, ihre Bildung in deren Dienst stellen müssen. Solche wahre und uneigennützige Liebestätigkeit kann allein das erreichen, was vor allem nötig ist, nämlich den Arbeiterstand aus seiner Absonderung herauszuziehen und ihn eng mit den übrigen Kreisen zu verbinden.

Gelingt es nicht, auf diesem Wege ein wahres Vertrauensverhältnis herzustellen, werden durch eine falsche Richtung ─ staatssozialistische oder sozialdemokratische ─ die Arbeiter immer mehr dazu gebracht, sich als einen besonderen, in ihren Interessen allen anderen entgegengesetzten Stand zu fühlen, dann ist die unvermeidliche Wirkung der durch das Wachsen der Intelligenz sich schnell steigernden Macht der Arbeiter, daß sie ihre einseitigen Interessen an die Stelle der Gesamtwohlfahrt zu setzen suchen, daß sie energisch den Kampf gegen alle übrigen aufnehmen.

Die Versöhnung und Vereinigung der Interessen aller Klassen durch Beseitigung unnötigen Zwangs und Gewährung voller Rechts- und wirtschaftlichen Freiheit ist aber gerade das eigentliche Ziel der Liberalen, und dieses dürfen sie am wenigsten bei der Behandlung der Arbeiterfrage aus den Augen verlieren.

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Registerinformationen

Regionen

  • England
  • Preußen

Orte

  • Amberg

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Oldenberg, Friedrich Salomo (1829–1894) , Vereinsgeistlicher und geschäftsführender Sekretär des Zentralausschusses der Inneren Mission
  • Scholz, Dr. Adolf von (1833–1924) , Staatssekretär im Reichsschatzamt; später: preußischer Finanzminister

Sachindex

  • Agitation
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeitgeber
  • Arbeitsbuch
  • Arbeitslosenversicherung
  • Arbeitslosigkeit, siehe auch Arbeitslosenversicherung
  • Arbeitszeit
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Berufsgenossenschaften
  • Christentum
  • Etat, Reichsetat
  • Evangelium
  • Fabrik
  • Familie
  • Fortbildungsschulen
  • Freihandel
  • Freizügigkeit
  • Gefahrenschutz
  • Gemeinden, Kommunen
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz, betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (1.5.1889)
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Unfallversicherungsgesetz(6.7.1884)
  • Gewerbefreiheit
  • Großgrundbesitz
  • Haider Thesen
  • Hausbesitz
  • Hilfskassen
  • Hygiene
  • Innere Mission, siehe auch Vereine und Verbände, Zentralausschuß
  • Innungen
  • Katholikentage
  • Kirche
  • Kirche – evangelische, siehe auch Innere Mission
  • Korporationen
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Landarbeiter
  • Landwirtschaft
  • Liberalismus, siehe auch Parteien
  • Lohn
  • Maschinen
  • Mittelalter
  • Parteien
  • Parteien – Konservative
  • Parteien – Nationalliberale
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Parteien – Zentrum
  • Polizei
  • Recht auf Arbeit
  • Reichskanzler
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Revolution
  • Selbsthilfe
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Sozialreform
  • Sparen
  • Sparkassen
  • Staatssozialismus
  • Staatszuschuß
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Trade-Unions
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Utopie
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Zentralausschuß für die Innere Mission
  • Versicherungszwang
  • Wohnung, siehe auch Hausbesitz
  • Zinsen
  • Zölle
  • 1Vgl. Nr. 9. »
  • 2Adolf Scholz war seit 1882 preußischer Finanzminister; vgl. Nr. 36 Anm. 1. »
  • 3Die zitierte Äußerung erfolgte am 5.5.1883 im Rahmen der Etatdebatte (80. Sitzung vom 5.5.1883; Sten.Ber. RT 5. LP II. Session 1882/1883, S. 2337). »
  • 4Gemeint sind die auf dem 31. Katholikentag in Amberg vorgelegten „Haider Thesen“ (Verhandlungen der XXXI. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Amberg vom 31. August bis 4. September 1884, Amberg 1884, S. 42─52 u. S. 82─83), vgl. Nr. 38. »
  • 5Gemeint ist das sog. Heidelberger Programm vom 23.3.1884 (vgl. Nr. 49 Anm. 3). »
  • 6Etwas verkürzte Wiedergabe von Punkt 3 des Programms der Deutschen Freisinnigen Partei vom 5.3.1884; vgl. (Berliner) Volkszeitung Nr. 56 vom 6.3.1884. »
  • 7Ab hier Nr. 51 vom 20.9.1884. »
  • 8Ab hier Nr. 52 vom 27.9.1884. »
  • 9Vgl. Nr. 47 Anm. 6. »
  • 10Gemeint sind die wegen eines Einspruchs Bismarcks gescheiterten Bundesratsvorschriften zum betrieblichen Gefahrenschutz aufgrund von § 120 Abs. 3 Gewerbeordnung (vgl. Nr. 184─185, Nr. 187─196, Nr. 198─200 Bd. 3 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). Der Reichstag hatte am 12.1.1883 auf Initiative liberaler Abgeordneter den Erlaß derartiger Vorschriften gefordert (vgl. Nr. 24 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 11Zu den Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften vgl. Bd. 2, 2. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 12Vgl. Bd. 5 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 53, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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