Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 52

1884 September 5

Bericht1 des Landrats Karl Schreiber2 über eine Rede des Schuhmachers Friedrich Brühne3 auf einer Versammlung der Zentralkrankenkasse der Schuhmacher4 in Marburg/Lahn

Abschrift

Die Gesetzgebung zur Sozialversicherung wird grundsätzlich begrüßt; Kritik am eingeschränkten persönlichen Geltungsbereich; Notwendigkeit eines Normalarbeitstags; Betonung des Werts von Zentralkrankenkassen

Beim Erlaß des Sozialistengesetzes erklärte die Reichsregierung, daß es nicht dabei sein Bewenden haben könne und dürfe, die Sozialdemokraten durch Polizeimacht [ Druckseite 227 ] niederzuhalten, daß vielmehr die Regierung darauf Bedacht nehmen müsse, Institutionen zum Besten der Arbeiter zu beschaffen und für das Wohl der Arbeiter zu sorgen.5 Von diesen damals in Aussicht genommenen Gesetzen sind bis jetzt zwei erlassen, nämlich das Krankenkassengesetz und das Unfallversicherungsgesetz. Das erstere bezweckt, dafür zu sorgen, daß alle Arbeiter gegen Krankheit versichert werden; daß dies geschieht, ist eine Notwendigkeit und reichen dazu die bestehenden Zentralkrankenkassen und eine freiwillige Krankenkasse überhaupt nicht aus, weil zu diesen Kassen nicht allen Arbeitern Zutritt gewährt wird, es schließen z. B. die Zentralkrankenkassen Arbeiter über 45 Jahre aus, und weil nicht für alle Berufsarten besondere Kassen bestehen. Das Krankenkassengesetz ist daher mit Freuden zu begrüßen und ist nur zu bedauern, daß es nicht allgemein auf alle Arbeiter, nicht auch auf die an der Land- und Forstwirtschaft beschäftigten Arbeiter ausgedehnt ist. Die Behauptung, im Kreis der landwirtschaftlichen Arbeiter sei kein Verständnis und kein Sinn für diese Frage vorhanden, ist eine irrtümliche.

Weiter ist zu bedauern, daß dies Gesetz nicht auch den Kleinhandwerksmeistern den Beitritt zu den nach ihm zu gründenden Kassen gestattet. Grade die Lage der Kleinhandwerksmeister in den großen wie auch in den kleinen Städten ist eine überaus trübe. Ihnen fällt es besonders schwer, sich und die Seinen durchzubringen und ihnen wäre es vor allen zu wünschen, daß ihnen aus einer Krankenkasse die für Krankheitsfälle notwendige Unterstützung gewährt würde. Weiter ist es zu bedauern, daß im Gesetz die Innungskassen aufrechterhalten,6 da die Innungen sich überlebt haben und die auf ihnen basierten Kassen nicht segensreich wirken werden und daß Fabrikkrankenkassen bestehenbleiben, die stets zu Reibereien zwischen den Fabrikherren und den Arbeitern führen. Ich hoffe, daß diese Mängel des Krankenversicherungsgesetzes recht bald beseitigt werden und daß namentlich ein Zwang zum Beitritt zu einer Krankenkasse bald auf den Kleinhandwerksmeister ausgeübt wird.

Das Unfallversicherungsgesetz enthält gleichfalls viel Gutes. Es ist notwendig, daß für die Arbeiter, welche zu Schaden kommen, von Staats wegen gesorgt wird. Die bestehenden Privatunfallversicherungsgesellschaften entsprechen in keiner Weise dem, was man mit Recht von einer Versicherung erwarten kann. Sie haben Millionen aufgespart und große Dividenden gezahlt, während die Arbeiter, wenn sie verunglückt, meist zur Erlangung ihrer Versicherungssumme weitläufige Prozesse anstellen müssen. Daß hier die Reichsregierung und der Reichstag durch dies Gesetz eingegriffen hat, ist mit Freuden zu begrüßen und nur zu bedauern, daß man sich auch hier wieder mit einem Stückwerk begnügt hat, die in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigten Arbeiter nicht unter dies Gesetz einbegriffen und nicht alle im Handwerk und der Industrie beschäftigten Arbeiter versichern will, sondern nur die, welche mit 8─10 Arbeitern zusammen in größeren Werkstätten arbeiten.

Ein Gesetz, welches den Arbeitern Invaliden- und Altersversorgung sichern soll, steht in Aussicht.7 Wie es werden wird, kann man noch nicht sagen, daß es zustande komt, ist eine Notwendigkeit. Der Arbeiter muß ebenso wie der Beamte und Offizier [ Druckseite 228 ] einen Anspruch auf Pension bekommen, und wie sich die Mittel finden, für den Offizier oft schon in jungen Jahren die Pension zu schaffen, werden sich die Mittel auch schaffen lassen, um dem Arbeiter, der sein Leben in der Werkstatt und in der Fabrik verbracht hat, eine Pension zu verschaffen und dafür zu sorgen, daß er im Alter nicht der Armenpflege zur Last fällt und damit sein Wahlrecht verliert. Beide, der Offizier und der Arbeiter, haben ihr Leben und ihre Kraft zum Besten des Vaterlands hergegeben und verwendet. Eine weitere berechtigte Forderung der Arbeiter richtet sich auf den Normalarbeitstag. Man sagt oft, derselbe könne für Deutschland nicht eingeführt werden. Allein, es geht sicher und muß gehen. Vor nicht langen Jahren nannten viele Leute die Pläne und Ziele, welche jetzt in Krankenkassen, Arbeiterunfallversicherungsgesetz verwirklicht sind und mit dem in Aussicht stehenden Arbeiterinvalidengesetz weiterer Verwirklichung entgegensehen, unerreichbare Zukunftspläne, Träumereien usw. und leugneten das Vorhandensein einer sozialen Frage.

Wie diese Pläne jetzt Wirklichkeit geworden sind und Gestalt gewonnen haben, so wird auch unser Hoffen auf den Normalarbeitstag in sichere Erfüllung gehen. Es wird damit für die Arbeiter nicht nur ein höherer Lohn erreicht werden, sondern es wird auch eine sittliche Hebung des ganzen Standes damit herbeigeführt werden. Die leidige Frauenarbeit, die die Frau aus dem Haus treibt und sie der Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten entzieht, und die Kinderarbeit wird damit verschwinden. Wenn die Frau, wie jetzt, genötigt ist, des Erwerbs wegen zugleich mit dem Mann auf Arbeit auszugehen, kann sie nicht für die Pflege und Wartung der Kinder sorgen und sind dann Unglücksfälle der Kinder, von denen uns die Zeitungen oft berichten, unvermeidlich.

Der Zeitungsschreiber, der aber dann, wenn z. B. eines Arbeiters Kind aus dem Fenster gefallen ist, hervorhebt, die Eltern müßten bestraft werden, die so schlechte Aufsicht hielten und die Kinder allein zu Hause ließen, sage ich, er kennt die Arbeiterverhältnisse und Arbeiternot nicht, er weiß nicht, mit wie schwerem Herzen manche Mutter sich morgens von ihren kleinen Kindern trennt, wenn sie des Erwerbs willen fortgehen muß.

Bekommen wir den Normalarbeitstag, dann wird damit die Stellung der Arbeiter ganz wesentlich gebessert. Auf die Realisierung dieser Hoffnung können wir sicher hoffen, wir haben auf denselben ebenso Anspruch wie auf Arbeit selbst. Und der Fürst Bismarck hat im Reichstag es schon anerkannt, daß wir ein Recht auf Arbeit haben,8 und dieses Recht auf Arbeit muß erfüllt werden.

Bei der eigentlichen Besprechung der durch das Krankenkassengesetz verlangten Ortskrankenkassen und der Krankenversicherung gegenüber den Zentralkrankenkassen bemerkt Redner, der über dieses, sein eigentliches Thema im ganzen flüchtig hinwegging, dann unter andern, daß die Beiträge, welche mit dem Gesetz der Arbeitgeber zu den Kassen zahlen müßte, wenn es auch im Gesetz verboten sei, doch von den Arbeitern wieder eingezogen würden, wenn auch nur durch Verringerung des Lohns.

Wenn es auch einzelne ordentliche arbeiterfreundliche Arbeiter [recte: Arbeitgeber] gebe, die Fabrikanten hielten im ganzen nur ihr Interesse im Auge und das bedinge die Wiedereinziehung des Beitrags.

Im übrigen sprach er sich wohlwollend aus über die nach dem Gesetz zu gründenden Kassen, verwirft die zu Reibereien zwischen Arbeiter und Arbeitgeber Anlaß [ Druckseite 229 ] bietenden Fabrikkrankenkassen, empfiehlt die Zentralkrankenkassen und bedauert, daß dieselben [recte: denselben] durch das neue Gesetz die Ansammlung eines zu hohen Reservefonds auferlegt sei,9 hoffte aber, daß dennoch die Kasse[n] recht lebensfähig sein und bleiben und eine Konkurrenz mit den nach dem Gesetz zu errichtenden Kassen recht wohl ausfüllen würden.

Er fürchtet auch nicht, daß die Regierung diese Zentralkassen wieder auflösen würde, wie sie beim Erlaß des Sozialistengesetzes die Kassen aufgelöst habe,10 wenn sich die Kassenmitglieder bei ihrer Kassenverwaltung nur im Rahmen des Gesetzes bewegen.

Die Regierung werde auch Bedenken tragen, bei der großen Verbreitung der Kassen, bei der übergroßen Anzahl Mitglieder durch ihre Auflösung die damit unvermeidliche Unruhe in die Arbeiterwelt zu werfen und sich diese Masse der Arbeiter zu verfeinden.

Daß die Zentralkassen, wenn sie organisiert, lebensfähig seien, hätten sie glänzend bewiesen. Es herrsche in ihrer Verwaltung eine musterhafte Ordnung und genaue Kontrolle und könne er einen jeden nur einladen, der Kasse beizutreten. Schließlich erwähnt er dann noch dazu, daß die einzelnen Zentralkassen sich nicht durch Jagen nach Mitgliedern aus andern Berufskassen verfeinden möchten.

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Schrader, Karl (1834–1913) , Eisenbahndirektor a. D. in Berlin, MdR (Freisinn)

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeitgeber
  • Armenpflege
  • Beamte
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Fabrik
  • Fabrik(kranken)kassen
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Freihandel
  • Gesetz, betreffend die Abänderung des Gesetzes über die eingeschriebenen Hilfskassen (1.6.1884)
  • Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (15.6.1883)
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Unfallversicherungsgesetz(6.7.1884)
  • Handwerk, Handwerker
  • Innungen
  • Innungskassen
  • Kinderarbeit
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Landarbeiter
  • Lohn
  • Normalarbeitstag
  • Parteien
  • Parteien – Fortschritt, Freisinn
  • Parteien – Konservative
  • Parteien – Nationalliberale
  • Parteien – Zentrum
  • Presse
  • Presse – Die Nation
  • Recht auf Arbeit
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Selbsthilfe
  • Soldaten
  • Soziale Frage
  • Staatssozialismus
  • Stadt, Großstadt
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Versicherungswesen, privates
  • Versicherungszwang
  • 1GStA Berlin I. HA Rep. 77 Tit. 343 a Nr. 152 adh. 39 Bd. 2, fol. 103─108 Rs.Der wohl aufgrund einer stenographischen Mitschrift entstandene Bericht wurde von der Regierung Kassel mit Begleitbrief vom 23.9.1884 an den preußischen Innenminister weitergeleitet (fol. 102─102 Rs.). »
  • 2Karl Schreiber (1834─1910), seit 1878 Landrat in Marburg/Lahn, seit 1879 MdPrAbgH (konservativ). »
  • 3Friedrich Brünne (1855─1928), Schuhmacher in Frankfurt/M., Sozialdemokrat. »
  • 4Zentral-Kranken- und Sterbekasse der Gewerkschaft der Schuhmacher und verwandten Gewerbe, gegründet am 26.8.1877; vgl. Nr. 185 Bd. 5 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 5Gemeint ist die Reichstagsrede Bismarcks bei der zweiten Lesung des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ am 9.10.1878. Bismarck erklärte damals, positive Vorschläge, um das Schicksal der Arbeiter zu verbessern, wolle er wohlwollend prüfen (8. Sitzung vom 9.10.1878; Sten.Ber. RT 4. LP I. Session 1878, S. 125). »
  • 6Vgl. Nr. 40 Anm. 13. »
  • 7Vgl. Nr. 36. »
  • 8Am 9.5.1884, vgl. Nr. 166 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 9Das Gesetz, betreffend die Abänderung des Gesetzes über die eingeschriebenen Hilfskassen, vom 1.6.1884 (RGBl, S. 54) schrieb in § 25 für eingeschriebene Hilfskassen vor, einen Reservefonds im Mindestbetrag der durchschnittlichen Jahresausgabe der letzten fünf Rechnungsjahre anzusammeln. »
  • 10Vgl. Nr. 186, Nr. 188, Nr. 190─194, Nr. 196 u. Nr. 197 Bd. 5 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 52, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0052

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