Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 46

1884 [Juni 24]

Die Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart1

Druck

Der sittliche Wert jedes Menschen und das Sittengesetz müssen in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung zur Geltung kommen, dabei haben die Arbeitgeber eine besondere Aufgabe und Verantwortung, die Innere Mission befürwortet daher Arbeitervereine und Arbeiterschutzgesetze, die allein aber keine „Lösung der sozialen Frage“ bringen können, hierzu bedarf es vielmehr noch der allgemeinen Durchsetzung mit christlicher Weltanschauung

I.

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfe der Gegenwart, welche in der sozialdemokratischen Bewegung und deren Bekämpfung ihren schärfsten Ausdruck [ Druckseite 186 ] finden, stellen an die Kirche und deren innere Mission die Aufforderung, ihrer Aufgabe, Z2wie das ganze irdische LebenZ2, A1so insbesondere auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Seite desselben mit dem Sauerteig des Evangeliums zu durchdringen, eine erhöhte Aufmerksamkeit und Tätigkeit zuzuwenden.A1

II.

Diese Aufgabe können Kirche und innere Mission nur dadurch erfüllen, daß sie die unchristlichen und widerchristlichen Mächte, welche sich in der modernen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung auswirken, aufdecken und ihnen gegenüber die religiös-sittlichen Grundsätze des Christentums in ihrer besonderen Anwendung auf die heutige Gestalt des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens bezeugen und zur tatsächlichen Geltung zu bringen suchen.

III.

1. Die falsche sittliche Grundauffassung, welche A2seit Jahrzehnten den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung wesentlich bestimmt hatA2 und Z2noch jetztZ2 unbewußt oder bewußt sowohl die grundsätzlichen Anhänger der herrschenden Gesellschaftsordnung als auch ihre radikale Gegnerin, die Sozialdemokratie, beherrscht, ist ein feinerer oder gröberer Materialismus, welcher, von der ausschließlichen Diesseitigkeit der menschlichen Bestimmung ausgehend, den Zweck des Lebens in der möglichst hohen Befriedigung der irdischen Bedürfnisse erblickt.

2. Das Z2wirksamsteZ2 Mittel zur Z2möglichst allgemeinenZ2 Erreichung dieses Zweckes sucht die Z2einseitigeZ2 individualistische Richtung, wie sie ihre Ausbildung in dem ökonomischen Liberalismus gefunden, unter Verkennung der Macht der Sünde in dem freien Kampf der natürlichen Kräfte und Interessen, in welchem jeder einzelne in freier Selbstbestimmung und mit voller Selbstverantwortlichkeit ohne jede andere als die in dem gleichen Recht für alle gegebene Schranke ein möglichst hohes Maß irdischer Güter für sich zu erwerben trachtet.

Auch die wirtschaftlichen Gemeinschaften und Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen untereinander stehen nach dieser Auffassung lediglich unter der Herrschaft des von höheren sittlichen Gesichtspunkten unabhängigen Interesses, welches naturgemäß dahin führt, daß sich die Beteiligten, einer den andern, Z2überwiegend nurZ2 als Mittel für ihre wirtschaftlichen Zwecke behandeln.

Ein Ausfluß dieser Auffassung ist es, wenn die große Mehrzahl derjenigen, welche aufgrund ihres Besitzes die herrschende Stellung in den wirtschaftlichen Verhältnissen einnehmen (die Arbeitgeber), die Besitzlosen (die Arbeiter) nicht als sittliche Persönlichkeiten, für deren Los sie kraft ihres Herrschaftsverhältnisses eine Verantwortlichkeit tragen, sondern lediglich als die für die Vermehrung des Erwerbes möglichst hoch auszunutzende Arbeitskraft ansehen, und wenn andererseits die Arbeiter Z2immer mehrZ2 in dem Arbeitsverhältnis nicht einen sittlichen Dienst, sondern nur das Mittel zu ihrem ohne Rücksicht auf die Interessen des Arbeitgebers möglichst hochzubringenden Erwerb sehen.

3. Demgegenüber will die sozialistische Richtung, wie sie sich in der Sozialdemokratie ausgestaltet hat, in der Erkenntnis, daß das freie Spiel der natürlichen Kräfte und Interessen notwendig zur Herrschaft des Stärkeren, d. h. auf wirtschaftlichem Gebiet des Besitzenden, und zur Unterdrückung des Schwächeren, d. h. des Besitzlosen, führen muß, und von dem Grundsatz der abstrakten Rechtsgleichheit in konsequenter Ausbildung der materialistischen Grundanschauung zu dem des gleichen Anspruchs aller auf irdische Befriedigung fortschreitend, durch eine radikale [ Druckseite 187 ] Umwälzung der wirtschaftlichen Ordnung die Herrschaft des Besitzes beseitigen und eine neue, in allen ihren Lebensäußerungen von dem bewußten Willen der Gesamtheit beherrschte Ordnung des wirtschaftlichen Lebens aufrichten, in welcher die Arbeit zum allein entscheidenden Faktor für die Verteilung des Genusses der irdischen Güter gemacht wird. In diesem Bestreben wendet sie sich zugleich gegen die bestehende Staatsordnung, in welcher sie das Mittel der herrschenden Klassen zur äußeren Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft, und gegen Christentum und Kirche, in welchen sie nur das Mittel, der bestehenden Gesellschaftsordnung eine religiöse Grundlage in den Gemütern zu geben, erblickt. Z2Erscheint diese Richtung demnach einerseits als eine natürliche Gegenströmung gegen den Optimismus und die nackte Selbstsucht des individualistischen Liberalismus, so kann sie andrerseits in ihrer sittlichen Grundlage und in ihren Zielen nur als die äußerste Konsequenz der von den höheren Klassen zu den breiten Schichten des Volkes durchgedrungenen materialistischen Strömung der Gegenwart erkannt werden. Zugleich enthält sie eine tatsächliche Verurteilung der Unterlassungssünden, welcher Staat und Kirche auf dem Gebiet des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens sich schuldig gemacht haben.Z2

IV.

1. Im Gegensatz zu jener Z2herrschendenZ2 Grundauffassung und ihren verschiedenen Ausgestaltungen bezeugt die Kirche aufgrund des göttlichen Wortes, daß das wirtschaftliche Leben des einzelnen wie der Gesamtheit seinen Zweck nicht in sich selber hat, vielmehr seine wahre Bedeutung nur als Unterlage und Mittel für die Erreichung der höheren und ewigen Bestimmung des Menschen und der Menschheit gewinnt.

Das Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung erblickt sie daher nicht in der gleichen, möglichst hohen Befriedigung der irdischen Bedürfnisse aller, aber ebensowenig in der möglichsten Vermehrung des Reichtums ohne Rücksicht auf das Los der einzelnen, sondern in einer Gestaltung des Erwerbslebens, welche, ohne das verschiedene Maß des Besitzes und die Unterschiede der wirtschaftlichen Klassen mit ihren A3besonderenA3 Kulturaufgaben und dadurch bedingten Kulturbedürfnissen zu beseitigen, auch den untersten Klassen die Erreichung desjenigen Maßes irdischen Gutes ermöglicht, welches nach dem jeweiligen Stand der Kultur die Voraussetzung der Bewahrung vor wirtschaftlicher Not und der Erhaltung und Pflege der sittlichen Lebensordnungen bildet.

2. Die Bedingung der fortschreitenden Verwirklichung dieses Zieles erkennt die Kirche nicht in der Durchführung irgendeines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems, sondern in der immer allgemeineren Anerkennung und Befolgung des Sittengesetzes auch im wirtschaftlichen Leben, Z2ohne welche alle im Verlauf der Kulturentwicklung eines Volkes auftretenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen durch den Kampf der in ihr sich ausbildenden Gegensätze dem Zerfall entgegengeführt werden.Z2

3. Nach christlicher Auffassung ist jeder irdische Besitz, in welcher Form des geschichtlichen Rechts er auch erscheinen mag, und ebenso die Arbeitskraft in allen ihren Maßen und Formen eine Gabe Gottes, für deren Verwaltung und Verwertung im Dienst der irdischen und ewigen Bestimmung seiner selbst und der ihn umschließenden Gemeinschaft ihr Inhaber vor Gott verantwortlich ist.

Wo die auf Vermehrung der irdischen Güter gerichtete Tätigkeit unter Nichtachtung des Sittengesetzes und ohne Rücksicht auf die sittlichen Güter nur den Zweck [ Druckseite 188 ] der möglichst hohen Befriedigung der irdischen Bedürfnisse verfolgt, da wird sie, einerlei, ob sie durch Verwertung des Besitzes (Kapitals) oder der Arbeitskraft erfolgt, zum Mammonsdienst, welcher für die sittliche und darum auch für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eines Volkes um so verderblicher werden muß, je mehr der Reichtum an irdischen Gütern in demselben wächst.

4. Auch die wirtschaftlichen Gemeinschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse müssen auf ihrer natürlichen und rechtlichen Grundlage durch die Z2Betätigung derZ2 Bruderliebe zu sittlichen Verhältnissen gestaltet werden.

Jedem Arbeitgeber erwächst daher aus dem Arbeitsverhältnis, soweit der Einfluß desselben auf das Los der von ihm beschäftigten Arbeiter reicht, eine über die Rechtspflicht hinausgehende besondere Verantwortlichkeit nicht nur für das leibliche, sondern auch für das geistige und sittliche Wohl derselben. Jeder Arbeiter übernimmt mit dem Eingehen eines Arbeitsverhältnisses die besondere sittliche Verpflichtung, in dem Bereich dieses Verhältnisses seinem Arbeitgeber auch über die Grenze der Rechtspflicht hinaus zu dienen.

Nach dem Grundsatz: „Welchem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern“ trifft den Arbeitgeber die größere Verantwortung, und zwar in um so höherem Maße, je mehr durch die A4OrdnungA4 des Erwerbslebens die Selbstbestimmung des einzelnen Arbeiters beschränkt und die Gestaltung seines persönlichen, wirtschaftlichen und Familienlebens von dem gegebenen Arbeitsverhältnis beherrscht wird.

5. Wo die herrschende A5WirtschaftsordnungA5 auch den Arbeitgeber in seiner wirtschaftlichen Selbstbestimmung soweit beschränkt, daß ihm die Möglichkeit A6entzogen wirdA6, das Arbeitsverhältnis in seinem Betrieb ohne Gefährdung der Existenzbedingungen des letzteren, seiner sittlichen Aufgabe entsprechend zu regeln, da tritt an den Staat die Aufgabe heran, soweit möglich, durch allgemeine gesetzliche Bestimmungen die Regelung des Arbeitsverhältnisses der Willkür der einzelnen insoweit zu entziehen, als es erforderlich ist, um auch dem besitzlosen Arbeiter die unerläßlichen Bedingungen für die Erfüllung seiner sittlichen Aufgabe zu wahren.

V.

Die Mittel, ihrer Auffassung zur Anerkennung und Wirksamkeit zu verhelfen, finden die Kirche und ihre innere Mission in der Verkündigung des göttlichen Wortes und in der dienenden Liebe.

1. Wie die Kirche stets mit besonderem Nachdruck diejenigen Sünden zu bekämpfen hat, welche in gegebener Zeit und unter gegebenen Verhältnissen die herrschenden und dem Bau des Reichs Gottes vorzugsweise hinderlichen sind, so hat sie in gegenwärtiger Zeit und namentlich da, wo die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegensätze das Fühlen und Denken des Volkes immer mehr zu beherrschen drohen, die christliche Lehre von dem Gebrauch und Mißbrauch der irdischen Güter mit besonderem Ernst zu treiben und auf die verschiedenen wirtschaftlichen Verhältnisse anzuwenden.

2. Je mehr die steigende Entwicklung des Güterlebens und die darauf beruhende täglich wachsende Erweiterung des Kreises irdischer Bedürfnisse und ihrer Befriedigungsmittel der materialistischen Auffassung Vorschub leisten und auch diejenigen, welche ihr grundsätzlich nicht huldigen, der Versuchung aussetzen, den Wert der irdischen Güter zu überschätzen und einer gröberen oder feineren Genußsucht zu verfallen, desto eindringlicher sind durch Vorhaltung der Gefahren, welche nach der Schrift sowohl der Reichtum wie das Reichwerdenwollen für das Heil der Seelen in [ Druckseite 189 ] sich schließen, die Gewissen gegen jene Zeitsünden zu schärfen. Daneben muß bezeugt werden, wie auch das irdische Glück durch den Besitz vieler Güter nicht gesichert, durch den Mangel derselben nicht ausgeschlossen wird und daß Reiche und Arme auch in diesem Leben wahre Befriedigung nur in der Pflege der sittlichen Güter, durch das „Trachten nach dem Reich Gottes“2 finden können.

3. Je mehr das Rennen und Jagen nach Gewinn, der Kampf aller gegen alle und das unvermittelte Nebeneinander von maßlosem Reichtum und wirtschaftlicher Not durch die Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens auf der Grundlage der unbeschränkten Konkurrenz befördert werden und zu rücksichtsloser Selbstgenügsamkeit, kalter Überhebung und übermütiger Härte auf der einen Seite, zu bitterem Groll und verzehrendem Neid auf der andren führen, desto eindringlicher ist die Lehre der Schrift, daß alle Menschen vor Gott gleich und untereinander Brüder sind, zu bezeugen und in ihrer versöhnenden und heilenden Bedeutung für das wirtschaftliche Leben darzustellen.

Den höheren Klassen muß es ins Gewissen geschoben werden, daß kein Unterschied des Standes, des Besitzes und der Bildung eine Verschiedenheit in dem sittlichen Wert des Menschen begründet, daß jeder Vorzug auf diesem Gebiet, er mag auf Ererbung oder Erarbeitung beruhen, nur das Maß der Verantwortlichkeit des Bevorzugten erhöht und zu einem unter Gottes Gericht fallenden Raub wird, wenn er statt im Dienst der Brüder in selbstsüchtigem Interesse ausgenutzt wird.

Ebenso ist den niederen Klassen vorzuhalten, daß die verschiedene Verteilung der irdischen Gaben und Güter eine der wesentlichen Gleichheit der Menschen nicht widerstreitende Ordnung Gottes ist, daß das geringere Maß des Vermögens und der Kräfte ebensowenig von der Möglichkeit ihrer Verwendung im Dienst der Gemeinschaft wie von der Verantwortlichkeit dafür ausschließt und daß neidisches Begehren der irdischen Güter unter das gleiche A7GerichtA7 fällt wie selbstsüchtiger Mißbrauch derselben.

Z24. Je mehr der selbstsüchtige und materialistisch gerichtete Individualismus einer Auffassung Vorschub leistet, welche alle Gemeinschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse ihres sittlichen Inhalts entkleidet und überwiegend nach ihren wirtschaftlichen Ergebnissen für den einzelnen würdigt, desto sorgsamer ist vor allem in der Familie, als der ursprünglichen, auf der gottgegebenen Naturordnung beruhenden wirtschaftlichen Gemeinschaft, das Bewußtsein zu wecken, daß in ihr alle Glieder, und zwar auch diejenigen, welche nur vorübergehend und dienend ihrem Kreis angehören, nicht nur die Quelle ihrer leiblichen Versorgung, sondern auch die Pflegestätte ihrer wirtschaftlichen und sittlichen Ausbildung finden sollen.

Demgemäß muß den Dienstherrschaften in Stadt und Land ihre Verantwortlichkeit dafür eingeschärft werden, daß sie als treue Haushalter ihren Dienstboten nicht bloß ihren Lohn und ihre leibliche Versorgung unverkürzt gewähren, sondern sie auch des Segens eines geordneten Familienlebens teilhaftig machen und in dem Dienstverhältnis die Fortsetzung der elterlichen Erziehung sowie eine Vorschule für ihren künftigen Beruf als Hausväter und Hausmütter finden lassen.

Ebenso muß bei Meistern und Lehrherrn das Bewußtsein lebendig gemacht werden, daß sie in ihren Gesellen und Lehrlingen nicht lediglich die unentbehrlichen Hilfskräfte für den erfolgreichen Betrieb ihres Gewerbes sehen dürfen, vielmehr die [ Druckseite 190 ] Verantwortlichkeit dafür tragen, daß dieselben durch ernste und wohlwollende Zucht sowie durch sorgfältige technische und wirtschaftliche Anleitung für die künftige selbständige Ausübung ihres Berufs ausgebildet werden.

Auf der anderen Seite muß die lernende und dienende Jugend durch Einschärfung des vierten Gebots3 wieder mehr zu pietätvoller Achtung der Autorität erzogen und zur Erkenntnis des Segens und der Ehre des Dienens angeleitet werden.

Daneben ist den täglich sich steigernden Versuchungen zu einem zuchtlosen, der Familiengemeinschaft entfremdenden Genußleben durch die Mahnung an den Ernst der Vorbereitungszeit für den künftigen Beruf, durch Darbietung von Veranstaltungen zu allgemeiner und fachlicher Ausbildung, durch Weckung des Sinnes für die Freuden eines gesunden Familienlebens und Förderung von Vereinigungen zu einer veredelten Geselligkeit entgegenzuwirken.Z2

VI.

Angesichts der entscheidenden Bedeutung, welche der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung gewonnen hat, A8muß bezeugt werden, daß die Überwindung dieses Gegensatzes nicht von einer wirtschaftlichen Umwälzung erwartet werden darf, durch welche die Herrschaft des Kapitals durch diejenige der Arbeit ersetzt werden soll, sondern nur von der Erfüllung der sittlichen Anforderungen, welche in dem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis jener beiden Faktoren des Erwerbslebens begründet sind.A8

1. Diese Anforderungen ergeben sich aus der Natur des „Unternehmens“ als derjenigen Form des Erwerbslebens, welche immer ausschließlicher zur Herrschaft gelangt, und in welcher jener Gegensatz hauptsächlich wirksam ist. Ihr Wesen besteht in A9der Zusammenfassung von Kapital und Arbeitskraft zu einer auf Erwerbszwecke gerichteten wirtschaftlichen Einheit, durch welche die natürliche, das wirtschaftliche Leben ihrer Glieder bestimmende Einheit der Familie als solche aufgehoben und die letztere in der Erfüllung ihrer wirtschaftlichen und folgeweise auch ihrer sittlichen Aufgabe unter den bestimmenden Einfluß einer Gemeinschaft gestellt wird,A9 welche als reine Erwerbsgemeinschaft nicht Familien, sondern nur einzelne Personen als Träger von Z2Kapital undZ2 Arbeitskraft umschließt und deshalb ihrer Natur nach gegen die sittliche Ordnung der Familie gleichgültig ist.

Dieser innere Widerspruch zwischen der Form des wirtschaftlichen Lebens und der höheren Aufgabe des letzteren, der sittlichen Entwicklung als Unterlage zu dienen, kann nur dadurch überwunden werden, daß die in dem Unternehmen vereinigten Personen sich ihrer sittlichen Pflicht bewußt werden, die Aufgabe des Unternehmens in der Herstellung der wirtschaftlichen Bedingungen für die sittliche Entwicklung aller von demselben abhängigen Familien zu erkennen und zur Erreichung dieser Aufgabe, der Gestaltung des Unternehmens zu einer erweiterten Familie, jeder an seinem Teil mitzuwirken.

2. Der größere Teil der Verantwortlichkeit für die Erreichung dieses Zieles fällt naturgemäß dem Herrn und Leiter des Unternehmens zu, welcher als solcher die Ordnung des letzteren und die Verwendung seines Ertrages zunächst bestimmt und dadurch über alle in demselben Beschäftigten eine weit über den nächsten Kreis der gemeinsamen wirtschaftlichen Tätigkeit hinausgreifende Herrschaft ausübt.

[ Druckseite 191 ]

3. Der Aufgabe, diese Herrschaft als einen Dienst zur Verwirklichung der höheren Bestimmung des Unternehmens auszuüben, muß zunächst der Unternehmer gerecht werden in der Ordnung und Leitung des Unternehmens. Das wirtschaftlich berechtigte Bestreben, das Unternehmen so zu ordnen und zu leiten, daß es den möglichst höchsten Ertrag erzielt, muß seine Grenze und seine Regelung in den Anforderungen finden, welche sich aus der Rücksicht auf das leibliche und sittliche Wohl der Arbeiter ergeben.

Art und Dauer der Arbeit muß demnach unter Berücksichtigung der verschiedenen Klassen der Arbeiter (erwachsene und jugendliche, männliche und weibliche) so geregelt werden, daß sie weder die Ausbildung und Erhaltung der Arbeitskraft noch die Möglichkeit der Familiengemeinschaft beeinträchtigen.

Die mit jeder auf Arbeitsteilung und Vereinigung beruhenden gemeinsamen Tätigkeit und namentlich mit jedem Massen- und technischen Betrieb verbundenen besonderen Gefahren für Leben und Gesundheit müssen durch sorgfältige Regelung der ineinandergreifenden Tätigkeiten sowie durch Herstellung der möglichen Schutzvorrichtungen abgewandt werden.

Ebenso muß den besonderen sittlichen Gefahren, welche mit jeder, ohne Rücksicht auf den Familienzusammenhang hergestellten Vereinigung von Arbeitern verbunden sind, durch richtige Verteilung der Arbeiter (Trennung der Geschlechter, der jugendlichen und erwachsenen Arbeiter) sowie durch Handhabung einer von sittlichem Ernst getragenen Aufsicht entgegengetreten werden.

Die durch die letzteren Anforderungen bedingte Ordnung und Disziplin muß bei strenger Aufrechterhaltung der Autorität mit sorgsamer Achtung vor der persönlichen Ehre des Arbeiters wahrgenommen werden. Soweit möglich, muß bei der Handhabung derselben eine Mitbeteiligung der Arbeiter stattfinden, Z2welche diese zur Selbsterziehung erhebtZ2 und ihnen einen Ersatz für den durch das Unternehmen bedingten Verlust an Selbständigkeit bietet.

4. In derselben Weise wie die Ordnung und Leitung, soll auch die Verwendung der Erträge der höheren Bestimmung des Unternehmens gerecht werden. Dadurch ist zunächst A10jede Herabdrückung des Lohns der Arbeiter ausgeschlossen, welche lediglich auf die Vermehrung des eigenen Erwerbes des Unternehmers abzielt.A10 Die Höhe des Lohns soll dieser nicht aufgrund der durch seine wirtschaftliche Überlegenheit und die Abhängigkeit der Arbeiter in seine Hand gelegten Macht, sondern nach dem wirtschaftlichen Bedürfnis der Arbeiter einerseits und der Leistungsfähigkeit des Unternehmens andererseits bemessen.

Daneben ist der Unternehmer in erster Linie auch dafür verantwortlich, A11daß die äußere Gemeinschaft, zu welcher das Unternehmen alle in demselben Beschäftigten verbindet, durch Nutzbarmachung der vereinten Kräfte und eines Teils des gemeinsamen Erwerbes für Aufgaben, denen die vereinzelten Kräfte nicht gewachsen sind, zu einer Quelle der wirtschaftlichen und sittlichen Förderung aller einzelnen werde.A11

Dahin gehört vor allem: die Sorge für ausreichende Wohnung als der ersten Voraussetzung einer geordneten Hauswirtschaft und eines veredelten Familienlebens; die Einrichtungen zur billigen Beschaffung der täglichen Lebensbedürfnisse, zur Sicherung des Unterhalts für Zeiten vorübergehender oder dauernder Erwerbsunfähigkeit, zur Förderung der Ansammlung eines Besitzes durch Ersparnisse, zur Entwicklung und Steigerung der Erwerbsfähigkeit, namentlich der heranwachsenden Jugend; Z2die Unterstützung der elterlichen Zucht bei der heranwachsenden und miterwerbenden, der Schulzucht und Hebung des Unterrichts bei der Schuljugend; [ Druckseite 192 ] die Mitwirkung zur Sicherung ausreichender religiöser Pflege der Erwachsenen durch regelmäßige Gottesdienste und Seelsorge;Z2 endlich die Förderung der sittlichen Beziehungen unter allen Gliedern der Gemeinschaft durch Pflege einer veredelten Geselligkeit.

Fällt für alle diese Aufgaben dem Unternehmer vermöge seiner herrschenden Stellung, seiner höheren Intelligenz und größeren wirtschaftlichen Kraft die Anregung und Leitung zu, so wird das Ziel, das Unternehmen auf seiner wirtschaftlichen Grundlage zu einer sittlichen Gemeinschaft zu gestalten, doch nur erreicht werden, wenn an der Tätigkeit für diese gemeinsamen Aufgaben und an der Verwaltung der gemeinsamen Einrichtungen auch alle einzelnen, je nach ihren Gaben und Kräften, mittelbar oder unmittelbar beteiligt werden, und auf diese Weise anstelle des niederdrückenden Gefühls unbedingter Abhängigkeit das befriedigende Bewußtsein tritt, einer jedes Glied in seiner Menschenwürde achtenden Gemeinschaft anzugehören.

Z2Bei diesen Aufgaben des Arbeitgebers wird auch der Beruf der Frau, Gehilfin des Mannes zu sein, auf seinem ursprünglichen Gebiet, der wirtschaftlichen Tätigkeit, wieder zu seinem Recht kommen, indem durch den fürsorgenden Dienst der Frau an den Familien der Arbeiter am leichtesten und wirksamsten die rein menschlichen Beziehungen angeknüpft und gepflegt werden, welche der Tätigkeit des Unternehmers für die Gesamtheit seiner Arbeiter erst zu voller Wirksamkeit verhelfen können.Z2

5. Selbstverständlich entsprechen diesen hohen sittlichen Anforderungen an den Unternehmer auch solche an den Arbeiter. Auch er soll in seinem Verhältnis zu dem Unternehmen nicht lediglich eine Erwerbsquelle, sondern einen Beruf erkennen, welcher ihn verpflichtet, an dem Gedeihen des Ganzen nach Kräften mitzuwirken. Durch Achtung vor der Autorität des Unternehmers und seiner Vertreter und durch treue Beobachtung der Arbeitsordnung soll er die Ordnung des Betriebs aufrechterhalten helfen, durch Fleiß und sorgfältige Ausführung jeder einzelnen Arbeitsleistung den Erfolg desselben fördern und namentlich auch schwierige Zeiten durch Enthaltung von überspannten Lohnforderungen überwinden helfen.

Ebenso soll er die gemeinsamen, auf die wirtschaftliche und sittliche Förderung der Gesamtheit der Arbeiter abzielenden Einrichtungen durch vertrauensvolles Eingehen auf die Absichten des Arbeitgebers, durch bereitwillige Übernahme der dafür zu bringenden Opfer und durch tätige Teilnahme an der dazu erforderlichen Arbeit an seinem Teil zu fördern suchen.

Z1〈schrift1〉6. Wenn auch die Verschiedenheit der Unternehmungen nach Art (gewerbliche, landwirtschaftliche, Verkehrs- und Handelsuntemehmungen), Umfang und Dauer in dem Maß der Erfüllung der einzelnen Aufgaben und in den Mitteln, mit welchen dieselbe zu erstreben ist, mannigfache Unterschiede begründet, so bleibt die Aufgabe, das Unternehmen zu einer sittlichen Gemeinschaft zu gestalten, doch unter allen Umständen grundsätzlich dieselbe. Soweit es sich dabei um die Ordnung und Leitung des Betriebs und um die Bemessung des Lohnes handelt, begründet jene Verschiedenheit keinen Unterschied in den zu stellenden Anforderungen. Soweit aber Umfang und Kraft des Unternehmens zur Erfüllung der weiteren Aufgaben nicht ausreichen, oder soweit die letztere nach den bestehenden Verhältnissen durch ein gleichmäßiges Vorgehen mehrerer Unternehmungen bedingt ist, muß die Vereinigung gleichartiger Unternehmungen zu gemeinsamem Handeln erstrebt werden.

Insonderheit darf sich auch der kleine Unternehmer (Handwerk, Kleingewerbe, landwirtschaftlicher Kleinbetrieb) der sittlichen Pflicht, sein Unternehmen zu einer erweiterten Familie zu gestalten, desto weniger entziehen, je mehr er durch die geringe Zahl der in demselben beschäftigten Arbeiter in den Stand gesetzt wird, diejenigen unter ihnen, welche nicht in einem Familienverband stehen oder für die Dauer der Beschäftigung demselben entzogen werden, in die eigene Familie aufzunehmen.〈/schrift1〉

[ Druckseite 193 ]

〈schrift1〉Der Erfüllung der sittlichen Aufgaben des Unternehmers dürfen sich auch die Gemeinschaften aller Art〈/schrift1〉 Z2(Gesellschaften, Korporationen, Gemeinden, Staat)Z2, 〈schrift1〉welche wirtschaftliche Betriebe zu verwalten haben, nicht entziehen. Namentlich liegt dem Staat als dem weitaus größten Arbeitgeber die Verpflichtung ob, darin mit gutem Beispiel voranzugehen.〈/schrift1〉Z1

VII.

1. Wenn die organisierte Kirche in ihrer amtlichen Wirksamkeit der Regel nach darauf beschränkt sein wird, der sittlichen Grundanschauung, aus welcher die im einzelnen dargelegten Anforderungen erwachsen, durch die Predigt von Gesetz und Evangelium Eingang in den Gemütern zu verschaffen, und wenn sie auch mit dieser Wirksamkeit unter den gegenwärtigen Verhältnissen große und Z2oftZ2 gerade die entscheidenden Kreise unseres Volkslebens nicht wird erreichen können, so wird um so mehr die innere Mission alle ihr zu Gebote stehenden Mittel und Wege benutzen müssen, diese Auffassung in allen ihren einzelnen Konsequenzen darzulegen und zu vertreten, sie auch in die Kreise zu tragen, welche dem kirchlichen Leben entfremdet sind, und sie mehr und mehr zum Inhalt der herrschenden öffentlichen Meinung zu machen, welche auch die innerlich nicht Überzeugten und Widerwilligen zwingt, ihr praktisches Handeln danach einzurichten.

2. Neben stets zu erneuernder Besprechung in der Presse und in öffentlichen Versammlungen von Arbeitgebern und Arbeitern, Z2wobei auf die bereits vielfach vorhandenen Beispiele praktischer Betätigung dieser Auffassung seitens wohlwollender Arbeitgeber und die dadurch erzielten Erfolge hinzuweisen ist,Z2 muß besonders die Bildung von Vereinigungen von Arbeitgebern angestrebt werden, welche sich die Verbreitung und praktische Betätigung dieser Grundsätze zur Aufgabe machen.

Daneben hat die innere Mission allen praktischen Bestrebungen wohlwollender Arbeitgeber im einzelnen mit Rat und Tat an die Hand zu gehen, und wo die persönlichen Kräfte zur Lösung der verschiedenen Aufgaben nicht vorhanden sind, solche nach Möglichkeit zur Verfügung zu stellen.

Z1〈schrift1〉Gleiche Förderung hat sie, wo bei mangelndem Zusammenwirken der Arbeitgeber mit ihren Arbeitern einzelne auf die wirtschaftliche und sittliche Hebung der letzteren abzielende Bestrebungen von freien Arbeitervereinigungen in die Hand genommen werden, auch diesen zuzuwenden,〈/schrift1〉Z1 Z2dabei aber zugleich dem Betreten falscher, zu einer Verschärfung des Gegensatzes zwischen Arbeitgebern und Arbeitern führender Bahnen entgegenzuwirken.Z2

3. Endlich hat sie da, wo die Arbeitgeber ihre sittliche Aufgabe noch nicht erkannt haben, einstweilen selbsttätig einzutreten und die christliche Liebestätigkeit aufzurufen, durch ihren Dienst den arbeitenden Klassen dasjenige einstweilen möglichst zu ersetzen, woran es die Arbeitgeber noch fehlen lassen. Namentlich hat sich diese Tätigkeit der Pflege eines geordneten Familienlebens, der Erziehung und sittlichen Bewahrung der Jugend, der Förderung ihrer Erwerbsfähigkeit und der Veredelung der Geselligkeit der Erwachsenen zuzuwenden und durch ihre Bestrebungen den Arbeitgebern einen strafenden und mahnenden Spiegel vorzuhalten, in die verbitterten Kreise der Arbeiter aber die versöhnende Kraft der Liebe hineinzutragen.

VIII.

1. Bei allem Ernst, mit welchem Kirche und innere Mission die sittlichen Anforderungen geltend zu machen haben, welche sich für die verschiedenen Kreise aus unseren sozialen Notständen und Kämpfen ergeben, dürfen doch auch sie die Tatsache nicht übersehen, daß die moderne wirtschaftliche Entwicklung Zustände geschaffen [ Druckseite 194 ] hat, welche die Freiheit des einzelnen auf dem Gebiet seines wirtschaftlichen Handelns in hohem Maß beschränken und namentlich dem Unternehmer nur zu oft die Möglichkeit entziehen, Art und Maß der Ausnutzung der Arbeitskraft sowie den Anteil der Arbeiter an dem Ertrag des Unternehmens den von ihm selbst als berechtigt anerkannten Anforderungen entsprechend zu bemessen. Sobald der Konkurrenzkampf der Unternehmungen auch nur erst an einer Stelle dahin geführt hat, daß, um die Produktionskosten zu vermindern und dadurch die zur Behauptung des Marktes erforderliche Herabsetzung des Preises der Erzeugnisse zu ermöglichen, der Lohn der Arbeiter herabgedrückt, die Arbeitszeit verlängert, die männlichen und erwachsenen Arbeiter durch weibliche und jugendliche Kräfte ersetzt werden, so steht auch der wohlwollende und gewissenhafte Arbeitgeber nur zu oft vor der Wahl, entweder auf diesem Weg zu folgen oder das Unternehmen aufzugeben und damit die wirtschaftliche Existenzgrundlage aller von demselben Abhängigen völlig zu vernichten.

An diesem Punkt kann die Freiheit des sittlichen Handelns dem einzelnen nur dadurch wiedergegeben werden, daß der Willkür aller durch allgemeine zwingende Vorschriften Schranken gesetzt werden.

2. Dahin zielen alle staatlichen Gesetze, welche zugunsten des Arbeiters, als des schwächeren Teils, die Freiheit des Arbeitsvertrages beschränken: die Beschränkungen der Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern; die Vorschriften zum Schutz der Arbeiter gegen die mit ihrer Beschäftigung verbundenen Gefahren für Leben und Gesundheit; das Verbot der Sonntagsarbeit; die Bestimmungen über Innehaltung einer Normal-(richtiger Maximal-)Arbeitszeit, endlich auch die Arbeiterversicherungsgesetze, sofern sie die Aufwendungen für die Sicherung des Arbeiters gegen die wirtschaftlichen Folgen vorübergehender oder dauernder Erwerbsunfähigkeit zu einem notwendigen Bestandteil des aus dem Unternehmen zu bestreitenden Arbeitslohns machen.

3. Kirche und innere Mission werden, um ihrer Aufgabe auf dem sozialen Gebiet gerecht zu werden, den hierauf gerichteten Bestrebungen, durch welche ihrer Arbeit vielfach erst wieder offene Bahn geschaffen werden muß, auch ihrerseits nicht teilnahmslos gegenüberstehen dürfen. Sie werden dieselben namentlich insoweit zu den ihrigen machen und zu fördern haben, als sie auf die Wiedergewinnung der Voraussetzungen eines geordneten, auch für die Pflege der sittlichen Güter wieder Raum bietenden Familienlebens gerichtet sind.

Die innere Mission hat demnach auch mit ihren Mitteln durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung und Unterstützung der zur Erreichung dieser Ziele sich bildenden Vereinigungen dahin zu wirken, daß

a) die Jugend gegen körperliche, geistige und sittliche Verkümmerung durch weitere Entwicklung der Gesetzgebung über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter geschützt werde,

b) daß der natürliche Beruf des Weibes für die Familie durch gesetzliche Regelung der Beschäftigung von Arbeiterinnen, unter besonderer Berücksichtigung der A12verheirateten FrauenA12, anerkannt werde,

c) daß die Sonntagsruhe durch gesetzliches Verbot der Beschäftigung mit gewerblicher Arbeit, soweit diese nicht ihrer Natur nach keine Unterbrechung gestattet oder durch besondere Notlage geboten ist, hergestellt werde,

4. daß auch die erwachsenen männlichen Arbeiter gegen eine die Erhaltung der Arbeitskraft gefährdende Überanstrengung und gegen eine die Teilnahme am Familienleben ausschließende Ausdehnung der Arbeitszeit durch gesetzliche Feststellung [ Druckseite 195 ] eines ─ unter Berücksichtigung der Besonderheiten der verschiedenen Zweige produktiver Tätigkeit zu bemessenden ─ Maximalarbeitstags geschützt werden,

Z15. 〈schrift1〉daß, sofern und solange eine internationale Regelung dieser Verhältnisse nicht zu ermöglichen ist, die Gefahr, welche den solchen Beschränkungen unterworfenen Unternehmen aus der Konkurrenz ausländischer, den gleichen Beschränkungen nicht unterworfener Unternehmer erwächst, durch geeignete Mittel möglichst abgewandt werde.〈/schrift1〉Z1

Z2IX.

Angesichts der weitverbreiteten Neigung, die „Lösung der sozialen Frage“ vorzugsweise von äußeren Maßregeln und Organisationen zu erwarten, dürfen Kirche und innere Mission nicht müde werden, zu bezeugen, daß „die Sünde der Leute Verderben“ ist und daß demnach jene äußeren Mittel, so notwendig und heilsam sie sein mögen, ihr Ziel nicht erreichen werden und einen friedlichen Ausgang der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfe der Gegenwart nicht erhoffen lassen, wenn es nicht gelingt, das Leben der großen Kulturvölker wieder kräftiger mit der christlichen Weltanschauung zu durchdringen, welche das Ziel aller Kulturentwicklung in dem Bau des Reiches Gottes auf Erden erblickt.

Nur das Christentum, als Träger und Pfleger dieser Idee, vermag die Grundlage zu bieten, auf welcher eine innere und nachhaltige Versöhnung der die heutige Gesellschaft in ihren Grundlagen erschütternden Gegensätze möglich ist. Nur das Christentum vermag den auf die Ausgleichung und Überwindung dieser Gegensätze gerichteten Bestrebungen des Staats, der verschiedenen Gesellschaftskreise und der einzelnen, die durch keine andere Macht zu ersetzende Kraft zu verleihen, welche in dem durch den religiösen Glauben gebundenen Gewissen beruht. Nur im Christentum ist die internationale Macht gegeben, welche eine gleichartige reformatorische Arbeit der verschiedenen Völker auf dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gebiet anzubahnen und dadurch diejenige Gemeinsamkeit herzustellen vermag, durch welche bei der wachsenden Abhängigkeit aller Kulturvölker voneinander, bei der weit fortgeschrittenen Entwicklung der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft auch für jedes einzelne Volk der Erfolg seiner Reformtätigkeit bedingt ist.

Daß die Kirche wieder werde das Gewissen der Völker, auch für ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben, das ist das höchste Ziel ihrer inneren Mission.Z2

Ursprüngliche Fassung

A1-A1 ihrer Aufgabe, auch das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben
A2-A2 sich in der moderneren wirtschaftlichen Entwicklung auswirkt
A3-A3 verschiedenen
A4-A4 herrschende Gestaltung
A5-A5 herrschende Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens
A6-A6 fehlt
A7-A7 Strafgericht
A8-A8 müssen die sittlichen Anforderungen, von deren Erfüllung die Überwindung dieses Gegensatzes abhängig ist, mit besonderem Ernst bezeugt und geltend gemacht werden
A9-A9 Bildung einer besonderen auf der Zusammenfassung von Kapital und Arbeitskraft zu Erwerbszwecken beruhenden Gemeinschaft, durch welche die Familie ihrer Bedeutung als natürlicher, das wirtschaftliche und aufgrund desselben auch das sittliche Leben
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ihrer Glieder bestimmenden Einheit entkleidet und in der Erfüllung ihrer wirtschaftlichen und sittlichen Aufgabe von einer Gemeinschaft abhängig gemacht wird
A10-A10 Vermehrung des eigenen Erwerbes des Unternehmers, welche durch Herabdrückung des Lohnes der Arbeit erzielt wird, ausgeschlossen
A11-A11 daß die auf dem Unternehmen beruhende Gemeinschaft der wirtschaftlichen und sittlichen Förderung aller einzelnen durch Nutzbarmachung der vereinten Kräfte und eines Teils des gemeinsamen Erwerbes für Aufgaben, denen die vereinzelten Kräfte nicht gewachsen sind, zugute komme
A12-A12 verheirateten Frauen, unter tunlichster Ausschließung der verheirateten Frauen von der außerhalb der Familie stattfindenden gewerblichen Arbeit

Registerinformationen

Personen

  • Schern, Johannes (1851–1940) , Schlosser in Nürnberg

Sachindex

  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Arbeitervertretung, Ältestenkollegien
  • Arbeitgeber
  • Arbeitslosenversicherung
  • Arbeitsordnung, siehe auch Fabrikordnung
  • Arbeitsvertrag
  • Arbeitszeit
  • Christentum
  • Dienstboten
  • Evangelium
  • Fabrikordnungen
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Gefahrenschutz
  • Gemeinden, Kommunen
  • Handel, siehe auch Freihandel
  • Handwerk, Handwerker
  • Heirat, Ehe
  • Innere Mission, siehe auch Vereine und Verbände, Zentralausschuß
  • Jugendliche Arbeiter
  • Korporationen
  • Kultur
  • Landwirtschaft
  • Lehrlinge
  • Liberalismus, siehe auch Parteien
  • Lohn
  • Normalarbeitstag
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Presse
  • Presse – Deutsche Metallarbeiter-Zeitung
  • Selbsthilfe
  • Sittlichkeit der Arbeiter
  • Sonntagsruhe
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Trennung der Geschlechter bei der Arbeit
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Versicherungswesen, privates
  • Wirtschaftsliberalismus
  • Wohlfahrtseinrichtungen, betriebliche
  • Wohnung, siehe auch Hausbesitz
  • 1Die Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart. Eine Denkschrift des Central-Ausschusses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, Berlin 1884; Entwurf (Druckfassung vom 27.5.1884): Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, BDW A 256/entw/x, n. fol. Weitere (Vor-)Fassungen der Denkschrift sind nicht überliefert, Abweichungen gegenüber der Fassung, die Lohmann am 27.5.1884 dem Zentralausschuß vorlegte, sind durch die Bearbeiter im Text gekennzeichnet, auf die Dokumentation rein sprachlicher Abänderungen wurde hierbei verzichtet.Zur Genese vgl. Nr. 42 und Nr. 45. Die Ausgangsthesen Stoeckers wurden nach Diskussion in der Zentralausschußsitzung vom 19.2.1884 zunächst an die Kommission (vgl. Nr. 42) zur Vorberatung überwiesen und dann von Stoecker umgearbeitet; anschließend wurden sie durch Lohmann erweitert und modifiziert. In der Sitzung vom 18.3.1884 wurden beide Fassungen der Thesen vorgetragen. Nachdem Stoecker sich mit den Thesen Lohmanns einverstanden erklärt hatte, übernahm Oldenberg nach Diskussion der Vorlage am 1.4.1884 eine ausgleichende Formulierung der Thesen. Am 27.5.1884 hielt Lohmann dann ein Referat über diese Thesen und übergab hierzu dem Vorsitzenden v. Meyeren nunmehr eine Denkschrift, die in der Sitzung verlesen wurde. Auf Grundlage der Ergebnisse der Diskussion im Zentralausschuß formulierte Lohmann die hier mit Z1-Z1 gekennzeichneten Zusätze in die Vorlage, die ─ so ergänzt (mit Hervorhebung durch Sperrung, hier durch veränderten Schrifttyp gekennzeichnet) ─ vorläufig sekret an die Mitglieder versandt werden sollte und auch versandt wurde (Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, BDW A 256/entw/x, n. fol.). Nach erneuter Beratung im Zentralausschuß am 24.6.1884 wurde die Denkschrift mit den ─ hier durch A-A und Z2-Z2 gekennzeichneten ─ vom Verfasser gewünschten Änderungen und Zusätzen durchberaten und zum Abschluß gebracht (vgl. die Sitzungsprotokolle: ebenda, ADW CA 94 1883─1887, n. fol.). Vgl. ausführlich zur Genese dieser Denkschrift aus den verschiedenen Fassungen der Thesen: Renate Zitt, Zwischen Innerer Mission und staatlicher Sozialpolitik. Der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann (1831─1905), Heidelberg 1997, S. 255 ff. »
  • 2Matthäus 6,33. »
  • 32. Mose 20,12. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 46, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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