Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 39

1883 Oktober 22

Brief1 des Reichstagsabgeordneten Dr. Ludwig Windthorst2 an den Theologieprofessor Peter Alexander Reuß3

Ausfertigung

Der sozialpolitische Kurs der „Haider Thesen“ soll nicht weiter verfolgt werden; zuerst muß der Kulturkampf beendet werden

Höchst vertraulich!

Die diesjährige Katholikenversammlung in Düsseldorf, vom 9. bis 13. Sept[ember], ist vielleicht die wichtigste von den 30 Versammlungen, welche bisher stattgehabt haben.4 Das Resultat derselben ist äußerlich betrachtet ein überaus günstiges gewesen. Die in allen Fragen gewonnene Einmütigkeit hat auf die Gegner einen um so größeren Eindruck gemacht, als dieselben sich in ihren Hoffnungen getäuscht fanden. Sowohl in Regierungskreisen als in der liberalen Presse hatten sich die Hoffnungen auf einen ernsten Zwiespalt unter den Katholiken ausgesprochen, und ganz unbegründet waren diese Hoffnungen nicht. Denn in der Tat lagen in den stattgehabten Erörterungen über die sozialen und agrarischen Fragen die Keime für einen solchen Zwiespalt vor. Für dieses Mal ist es der Mäßigung aller Teile gelungen, [ Druckseite 151 ] diesen Zwiespalt nicht zur äußern Erscheinung gelangen zu lassen. Die in sozialer und agrarischer Beziehung in Düsseldorf gefaßten Beschlüsse sind einstimmig gefaßt.5 Aber innerlich betrachtet ist das Resultat keineswegs so erfreulich, wie es äußerlich erscheint. Auf dem sozialen und agrarischen Gebiet sind bei dem Widerstreit der materiellen Interessen Differenzpunkte vorhanden, welche von den Gegnern, wenn geschickt benutzt, gebraucht werden können, die Einheit der Katholiken zu sprengen. Daneben wurde auf der Generalversammlung bemerklich, daß es unter den Katholiken Elemente, wenn auch zur Zeit noch wenige gibt, welchen die leitende Stellung des Zentrums unbequem ist, und welche nicht begreifen, daß in dem großen kirchenpolitischen Kampf, der Deutschland bewegt, eine einheitliche Zentralleitung notwendig und daß diese Leitung naturgemäß nur den vereinten Vertretern der Parlamente, zu welchen das ganze Volk gewählt hat, zufallen muß und daß jede Nebenleitung, welche nicht im engsten Kontakt und im vollsten Einverständnis mit der Zentralleitung handelt, die Gefahr einer Zersplitterung und des Zwiespalts in sich birgt.

Auf der vorigjährigen Katholikenversammlung in Frankfurt a[m] M[ain] war beschlossen, daß der Fürst v. Löwenstein6 ein Komitee berufen solle zur weiteren Erörterung der sozialen Frage. Der Fürst hat ein solches Komitee auf sein Schloß Haid in Böhmen berufen.7 Nach meinem Dafürhalten hat der Fürst bei der Auswahl, ohne freilich es zu wollen, etwas einseitig verfahren. Insbesondere ist es ein Fehler gewesen, eine so große Zahl von Österreichern zuzuziehen, welche in ihrem Land vielfach andere Verhältnisse vorfinden, als sie in Deutschland sind, und welche jedenfalls den kirchenpolitischen Kampf, welcher in Deutschland wütet, nicht genügend kennen und deshalb nicht übersehen, in welcher Weise alle anderen politischen und sozialpolitischen Fragen behandelt werden müssen, wenn nicht das Hauptziel, in dem kirchenpolitischen Kampf die Freiheit der Kirche voll und ganz zu erringen, beeinträchtigt werden soll. Das so zusammenberufene Komitee hat in Haid eine Reihe von Thesen aufgestellt, welche das soziale Gebiet betreffen. Demnächst wurde in Salzburg eine Reihe von Thesen, welche sich auf das agrarische Gebiet beziehen, formuliert.8 Diese Thesen, welche ich als bekannt voraussetze, welche evtl. aber nachgeschickt werden können, haben, wie der Fürst Löwenstein ausgesprochen, keinen autoritativen Charakter in Anspruch nehmen wollen, wurden aber schon ihrer Fassung nach als autoritative Aussprüche aufgefaßt und haben in der katholischen und in der gegnerischen Presse recht viel Unfug angerichtet. Dieselben wurden von der offiziösen Presse in gewissem Sinn patronisiert. Es war das auch ganz begreiflich, da sie sehr stark auf die Seite der Staatsomnipotenz sich neigen und viel zu sehr die

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Bedeutung der Kirche auf dem sozialpolitischen Gebiet ignorieren, wenigstens den Einfluß derselben auf das soziale Gebiet ausreichend nicht zum Ausdruck bringen.

Es kann nicht die Absicht sein, diese Thesen hier im einzelnen näher zu erörtern. Dazu würde nahezu ein Lehrbuch der sozialen Wissenschaften erforderlich werden. Es genügt, darauf aufmerksam zu machen, daß die Aufstellung von Thesen, welche fast das ganze Gebiet der sozialen Verhältnisse berühren, an sich unzweckmäßig erscheinen muß, da auf diesem Gebiet noch zu wenig Einverständnis herrscht und auch von keiner Seite bisher die Aufstellung so weitreichender Thesen versucht worden ist. Daneben muß noch hervorgehoben werden, daß es im höchsten Grad unpolitisch erscheint, wenn die Katholiken in dem Kampf, den sie auf kirchenpolitischem Gebiet gegen den Fürsten Bismarck zu führen haben, ihrerseits ein sie bindendes Programm auf sozialem und agrarischem Boden aufstellten und sich so gleichsam die Aktionsfreiheit nehmen wollten, während Fürst Bismarck sorgfältig vermeidet, sein Programm vollständig darzulegen, entweder weil er keins hat oder weil er sich die Aktionsfreiheit auch nach der liberalen Seite offenhalten will. Außerdem mag noch darauf hingewiesen werden, wie durch Aufstellung solcher Programme die verschiedensten Interessentengruppen mit Hoffnungen erfüllt werden, die unter allen Umständen nur teilweise befriedigt werden könnten. Es werden in solcher Weise Geister wachgerufen, die demnächst nicht so leicht wieder zu bannen sind, und die in Haid versammelt gewesenen Herren würden in große Verlegenheit geraten, wenn die von ihnen bereits wachgerufenen Interessengruppen die Durchführung der Thesen in den gesetzgebenden Körpern von ihnen verlangten. Die große Mehrzahl dieser Herren ist freilich vor einer solchen Anforderung gesichert, da sie den maßgebenden gesetzgeberischen Körpern nicht angehören und sollten deshalb billig einsehen, daß ohne maßgebenden Einfluß derer, welche in den gesetzgeberischen Körpern die Arbeit zu übernehmen haben, Thesen dieser Art nicht in die Welt geschleudert werden dürfen.

Die bedenklichen Bewegungen unter den Handwerkern9 beweisen die Richtigkeit dieser meiner Behauptungen. Endlich liegt die Gefahr nahe, daß, wenn sich ein größeres Komitee von Katholiken so vorwiegend mit den sozialen und agrarischen Fragen beschäftigt, daraus eine neue Partei auf Grundlage eines sozial-agrarischen Programms neben dem Zentrum sich herausbildet, welches den kirchenpolitischen Kampf zu seiner Hauptaufgabe macht und machen muß, ohne übrigens die sozialen und agrarischen Fragen zu vernachlässigen. Wenn das geschähe, so leuchtet ein, daß gar leicht ein Gegensatz zwischen einer solchen neuen Partei und dem Zentrum entstehen könnte, wie sich dieses beispielsweise schon dadurch zeigt, daß der Chefredakteur des „Wiener Vaterland“, Freiherr v. Vogelsang, bei den Haider Thesen wesentlich beteiligt, schon jetzt behaupten soll, die Zentrumsfraktion stelle die sozialen und agrarischen Fragen aus taktischen Gründen mit Rücksicht auf die kirchenpolitische Frage zu sehr zurück. Ob daher auch die Abneigung entstammt, welche sich im Wiener Vaterland gegen das deutsche Zentrum verschiedentlich gezeigt hat, will ich hier unerörtert lassen. Unter allen Umständen will mir scheinen, daß die österreichischen Herren sich enthalten sollten, die ohnehin so schweren Verhältnisse in [ Druckseite 153 ] Deutschland durch ein derartiges Hervordrängen der sozialen und agrarischen Fragen zu erschweren. Soll in Deutschland die Einigkeit unter den Katholiken erhalten werden, dann kann dies nur geschehen, wenn die kirchenpolitische Frage die Hauptaufgabe bleibt und die sozialen und agrarischen Fragen daneben von Fall zu Fall behandelt werden und sogar, wenn eine Einigkeit bei der Verschiedenartigkeit der Interessen auf sozialem und agrarischem Gebiet nicht zu erreichen, zeitweilig und bis dahin zurückgesetzt werden, daß die Hauptschlacht um die Freiheit der Kirche gewonnen ist.

Wir wollen zunächst die durch die Lahmlegung der Kirche verlegten Wege zum Himmel wieder frei machen und dann, wenn dies erreicht, zu den Interessen der Erde zurückkehren.

Ist nun in Düsseldorf erreicht, daß dort eine Differenz wegen der sozialen und agrarischen Fragen nicht zum Durchbruch gekommen, so ist dringend zu wünschen, daß die in Haid versammelt gewesenen Herren auf dem von ihnen eingeschlagenen Weg nicht weitergehen und die begonnene Arbeit sistieren bis der kirchenpolitische Kampf in Deutschland beendet ist. Dadurch wird die wissenschaftliche Untersuchung und Erörterung einzelner sozialer und agrarischer Fragen keineswegs ausgeschlossen. Jeder, der auf die Realisierung des bezeichneten Wunsches hinwirken kann, wird wohltun, dieses nicht zu unterlassen und dürfte es sich namentlich auch empfehlen, daß außer der Münchener Nuntiatur auch die in Wien von der Sachlage vertraulich verständigt würde. Diese Nuntiaturen haben in ihrem Wirkungskreis ohne Zweifel vielfache Gelegenheit, in der bezeichneten vermittelnden Weise dahin zu wirken, daß die in Haid versammelten Herren auf dem betretenen Weg nicht weiter gehen und daß nicht neuer Stoff zu Meinungsverschiedenheit und Zwiespalt gesammelt werde.

Registerinformationen

Regionen

  • Böhmen
  • Österreich

Orte

  • Düsseldorf
  • Frankfurt/M.
  • Hagen
  • Haid (Böhmen)
  • Hannover
  • Magdeburg
  • München
  • Salzburg
  • Wien

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Butz, Gustav (1847–1918) , Verleger der „Hagener Zeitung“
  • Feilhauer, Colmar , Wirt in Hagen
  • Hirsch, Dr. Max (1832–1905) , Schriftsteller in Berlin, liberaler Gewerkschaftsführer, MdR (Fortschritt)
  • Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, Karl Fürst , zu (1834–1921) , Standesherr in Haid (Böhmen), Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Kommissar der Katholikentage
  • Vogelsang, Karl Freiherr von (1818–1890) , kath. österreichischer Sozialreformer,Publizist in Wien

Sachindex

  • Alkoholismus
  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Arbeitsbuch
  • Gefängnis, Gefängnisarbeit
  • Gewerkvereine
  • Handwerkerkammern
  • Hilfskassen
  • Innungen
  • Katholikentage
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kulturkampf
  • Parteien
  • Parteien – Fortschritt, Freisinn
  • Parteien – Liberale
  • Parteien – Zentrum
  • Presse
  • Presse – Hagener Zeitung
  • Presse – Das Vaterland (Wien)
  • Sonntagsruhe
  • Soziale Frage
  • Versicherungszwang
  • 1Bistumsarchiv Trier, Abt. 105 Nr. 1512 IV, fol. 364─369. Der Brief ist auch abdruckt bei Hans-Georg Aschoff (Bearb.), Ludwig Windthorst Briefe 1881─1891. Um einen Nachtrag mit Briefen von 1834 bis 1889 ergänzt, Paderborn/München/Wien/Zürich 2002, S. 231─ 234. Der Brief war zur Weiterleitung an den Vatikan bestimmt; vgl. ebenda, S. XLIV. »
  • 2Dr. Ludwig Windthorst (1812─1891), ehem. hannoverscher Staatsminister und Kronoberanwalt, seit 1867 MdR, führender Zentrumspolitiker. »
  • 3Peter Alexander Reuß (1844─1912), katholischer Priester, seit 1870 Professor der Kirchengeschichte und des Kirchenrechts am Priesterseminar in Trier. »
  • 4Vgl. Verhandlungen der XXX. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Düsseldorf, am 10., 11., 12. und 13. September 1883, Düsseldorf 1883. »
  • 5Die sozialpolitischen Beschlüsse bezogen sich u. a. auf die Errichtung von Behinderteneinrichtungen, Bekämpfung des Alkoholismus, Schutz der Sonntagsruhe, Errichtung von Gefangenenfürsorgevereinen und Unterstützung der Bestrebung von Handwerkern nach Errichtung von „gewerblichen Körperschaften“ (vgl. Verhandlungen der XXX. General-Versammlung, S. 288─299). »
  • 6Karl Fürst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (1834─1921), Standesherr in Haid (Böhmen), seit 1862 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, seit 1872 Kommissar der Katholikentage. »
  • 7Vgl. 38. »
  • 8Zur Beratung der Agrarfrage tagte das Komitee vom 15. bis 18. Juli in Salzburg. Die 19 Beschlußpunkte über eine anzustrebende Reform des bäuerlichen Grundbesitzes wurden zuerst veröffentlicht: Eine sozialpolitische Debatte II, in: (Österreichische) Monatsschrift für christliche Social-Reform 5 (1883), S. 393─409. »
  • 9Windthorst bezieht sich hier auf Handwerkerforderungen nach Schaffung von obligatorischen Innungen und Handwerkskammern, Einführung des Befähigungsnachweises und Einführung von Arbeitsbüchern für Gesellen und Gehilfen. Hierzu fanden am 31.5.1882 in Magdeburg (Allgemeine deutsche Handwerkerversammlung) bzw. am 20./23.5.1883 in Hannover (Allgemeiner deutscher Handwerkertag) Versammlungen statt. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 39, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0039

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