Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 32

1882 Juli 15

Die Tribüne1 Nr. 354 Die socialpolitische Reform

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Maßnahmen zur Milderung der Folgen der Risiken des Arbeitslebens sind notwendig; Zwangsversicherung ist kein geeignetes Mittel

Den Plänen, welche der Reichskanzler auf sozialpolitischem Gebiet verfolgt, stehen wir keineswegs feindlich, sondern nur kritisch gegenüber. Wir verstehen sehr wohl das Ziel, welchem derselbe zustrebt, und sind mit dem Herzen völlig dabei; wir haben aber nicht die Überzeugung gewinnen können, daß es auf dem betretenen Weg wirklich zu erreichen ist. Das Ziel geht dahin, den Arbeiter wirtschaftlich so weit zu kräftigen, daß er gewissen Schicksalsschlägen widerstehen kann, die häufig genug vorkommen, um jeden zu mahnen, sich auf dieselben vorzubereiten, und die dennoch von vielen nicht mit dem erforderlichen Ernst in das Auge gefaßt werden. Diese Schicksalsschläge sind nach der Reihe, in welcher sie in das Auge gefaßt werden müssen: Krankheit, Unfall, Erlöschen der Arbeitsfähigkeit infolge höheren Alters, vorzeitiger Tod unter Hinterlassung hilfsbedürftiger Witwen und Waisen.

Kein Zweifel, wenn jedermann für diese Gefahren in ausreichender Weise vorgesorgt hat, wird er viel besser in dieser Welt stehen. Auch der Mittelstand kann durch alle diese Gefahren schwer betroffen werden; Krankheit, vorzeitiger Tod des Ernährers, Erlöschen seiner Arbeitskraft können viele Familien in Not bringen, die einst bessere Tage gesehen. Doch handelt es sich bei ihnen der Regel nach nur darum, daß ihre Lebenshaltung hinuntergedrückt werden muß unter dasjenige Maß, auf welchem sie sich bis dahin gehalten hat, innerhalb der enger gezogenen Schranken aber doch eine wohlgeordnete bleiben kann. Bei denjenigen aber, deren Lebenshaltung sich schon von vornherein auf einem niedrigen Standpunkt gehalten, führt ein solcher Schicksalsschlag häufig dahin, daß sie in die Klasse der Hilfsbedürftigen fallen, der öffentlichen Mildtätigkeit in einer oder der anderen Form eine Last werden. Ob jemand mit vielem haushalten kann oder mit wenigem auskommen muß, macht für ihn gewiß einen empfindlichen Unterschied, aber der Unterschied ist doch nur ein quantitativer. Ob dagegen jemand überhaupt noch mit eigenen Mitteln wirtschaften kann oder aus der öffentlichen Kasse oder auch durch private Almosen unterstützt werden muß, das begründet einen qualitativen Unterschied, einen Unterschied, der nicht allein die Vermögenslage, sondern auch Sittlichkeit und Ehre betrifft. Durch rechtzeitig ergriffene Maßregeln vorbeugen, daß jemand infolge berechenbarer Schicksalsschläge nicht der öffentlichen Unterstützung anheimfalle, gereicht daher auch stets dem gemeinen Wohl zur Förderung.

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Die Mittel, um die Menge der Menschen gegen solche Schicksalsschläge sicherzustellen, müssen gefunden werden können. Schließlich läßt man niemanden, der krank, arbeitsunfähig oder verwaist ist, verhungern. Man gibt ihm neben der Nahrung auch Kleidung und Unterstand, man gibt ihm, solange er unmündig ist, Unterricht und Erziehung. Das alles erfordert ungeheure Mittel, und wenn man diese Mittel so fassen könnte, daß sie nicht den Umweg durch die Armenkasse machen, so wird man sie zweckmäßiger verwenden können; man wird sparsamer mit denselben wirtschaften, man wird Beeinträchtigungen des Selbstgefühls vermeiden können, und dieser moralische Erfolg kommt auch dem materiellen Erfolg zugute.

Das Mittel nun, durch welches man die Armenpflege durch eine wirksamere Weise der Fürsorge ablösen kann, heißt Versicherung. Bis hierher sind wir mit dem Reichskanzler völlig einig. Von hier ab trennen sich unsere Wege. Der Reichskanzler will durchgängig die Zwangsversicherung, während wir uns im allgemeinen von der Versicherung nur einen Nutzen versprechen, wenn sie eine freie sittliche Tat bleibt. Der Reichskanzler will mit einem Schlag den bisherigen Mißständen so abhelfen, daß der Not auch nicht ein einziger Zugang bleibt; wir wollen allmähliche Verbesserung der jetzt herrschenden Zustände durch Belehrung, Anregung, Beispiel. Wir glauben, jedes Jahr und jede Generation hat das ihrige geleistet, wenn an den bestehenden Zuständen etwas gebessert ist; der Kanzler hält jede Besserung für nutzlos, wenn das Übel nicht mit der Wurzel ausgerottet ist.

Nun, schließlich hat sich doch auch der Reichskanzler entschließen müssen, in kleinerem Maßstab anzufangen. Die bisher vorliegenden Entwürfe beschränken sich auf die Versicherung gegen Krankheiten und Unfälle.2 Jedermann wird zugeben, daß die Aufgabe, die hier zu lösen ist, verschwindend klein ist gegen die andere Aufgabe, eine allgemeine Alters-, Witwen- und Waisenversorgung zu schaffen. Und dennoch, wie gewaltig haben sich die Schwierigkeiten herausgestellt, die auch der Lösung dieser kleineren Aufgabe entgegenstehen. Diese Schwierigkeiten haben den Reichskanzler schon einmal bewogen, eine von ihm empfohlene, vom Reichstag schon angenommene Idee wieder fallenzulassen. Sobald man sich aber an die Lösung der größeren Aufgabe macht, werden die Schwierigkeiten sich als unüberwindlich erwiesen.

Man kann durch das Gesetz einen Zwang aussprechen, daß jemand Versicherungsbeiträge leiste zu Kassen aller Art, zu Kassen, die gegen Krankheit, Unfälle, Invalidität Sicherheit gewähren, die sich der Witwen und Waisen annehmen. Man kann bis auf einen gewissen Grad diesen Zwang auch wirklich durchführen. Man kann jemandem Abzüge machen, solange er Einnahmen hat, und Einnahmen haben diejenigen Kategorien von Personen, um welche es sich hier handelt, nur, solange sie Arbeit haben, weil ihr ganzes Einkommen aus der Arbeit fließt. Was aber soll werden, wenn die Arbeit aufhört und mit ihr auch die Einnahmen wegfallen?

Gesetzt, jemand, der gegen alle diese Schicksalsschläge versichert ist, wird krank und hört infolgedessen auf, Arbeitslohn zu verdienen. Er wird in diesem Fall Krankenbeiträge beziehen und von denselben leben. Will man ihn zwingen, aus diesen [ Druckseite 124 ] Krankengeldern auch die Beiträge für die Altersversorgungskasse weiterzubezahlen? In diesem Augenblick, wo alles darauf ankommt, ihm Gesundheit und Körperkraft wiederzugeben, sollen Teile seines ohnehin geschmälerten Einkommens für eine ferne Zukunft verwendet werden, wo die Gegenwart ihr Recht gebieterisch geltend macht?

Oder er verliert infolge der wirtschaftlichen Konjunktur die Arbeit und hat vorderhand keine ausreichenden oder vielleicht gar keine Einnahmen. Wie will man in diesem Fall den Zwang durchführen, alle Versicherungsprämien zu bezahlen? Man wird diesen Zwang nicht durchführen können; man wird ihm gestatten müssen, aus seinen Versicherungsverhältnissen auszuscheiden. Nun sind die Beiträge, die er zur Krankenkasse zahlt, nichts als laufende Ausgaben; scheidet er aus der Krankenkasse aus, so hat er in Zukunft nicht mehr die Sicherheit, deren er sich bisher erfreute, aber er büßt auch nichts von seinem Vermögen ein. Muß er aus der Unfallskasse scheiden, so hat er wenigstens den Ersatz, daß, wenn er in seinem gefährlichen Gewerbe nicht mehr arbeitet, er auch in diesem gefährlichen Gewerbe nicht verunglücken kann. Er wird also den Mangel einer Unfallversicherung weniger fühlen. In der Altersversorgungskasse aber und in der Pensionskasse für Witwen und Waisen liegen seine Ersparnisse, und dieser Ersparnisse geht er verlustig, wenn er seinen Versicherungsvertrag nicht erfüllen kann. Wie liegt nun die Sache? Man hat ihn gezwungen, eine Police zu lösen, man hat ihn gezwungen, seine Ersparnisse in einer Versicherungsanstalt anzulegen, und nun, wo er außerstand ist, diese Anlegung fortzusetzen, wo er in Not gerät, raubt man ihm die Verfügung über seine bisherigen Ersparnisse. Ist es möglich, daß dadurch nicht böses Blut gemacht wird? Die Zwangsversicherung hat kein Mittel, über diese Schwierigkeiten hinauszukommen; die freie Versicherung hat dieses Mittel wenigstens gesucht. Solange es vorkommen kann, daß die wirtschaftliche Konjunktur Leute außer Arbeit setzt, ist ein umfassendes System der Zwangsversicherung unmöglich.

Registerinformationen

Personen

  • Bueck, Henry Axel (1830–1916) , Geschäftsführer des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen in Düsseldorf, Geschäftsführer der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller
  • Haßler, Theodor (1828–1901) , Textilindustrieller in Augsburg, Präsidiumsmitglied des Zentralverbands Deutscher Industrieller
  • Richter, Karl (1829–1893) , Hüttendirektor in Berlin, Vorsitzender des Zentralverbands Deutscher Industrieller, Vorsitzender des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeitgeber
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Hunger
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1881
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Unterstützungswohnsitz
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Zentralverband Deutscher Industrieller
  • 1„Die Tribüne“, eine Berliner Tageszeitung, fungierte als Organ der „Liberalen Vereinigung“. Die Zeitung befand sich seit 1881 im Eigentum (sezessionistischer) liberaler Abgeordneter, Industrieller und Bankiers, die dieses in Form einer Aktiengesellschaft führten. Verleger war Bernhard Brigl. Hauptaktionäre waren u. a. der Direktor der Deutschen Bank Dr. Georg Siemens und der Reichstagsabgeordnete Dr. Ludwig Bamberger (Liberale Vereinigung). Verantwortlicher Redakteur war Dr. Franz Liepmann. »
  • 2Gemeint sind die Regierungsvorlagen zu dem Gesetz, betr. die Krankenversicherung der Arbeiter, vom 29.4.1882 (Sten.Ber. RT 5. LP II. Session 1882/1883, Drucksache Nr. 14) und dem Gesetz, betr. die Unfallversicherung der Arbeiter, vom 8.5.1882 (Sten.Ber. RT 5. LP II. Session 1882/1883, Drucksache Nr. 19 [vgl. Nr. 57 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung]). Im Mittelpunkt der politischen Diskussion während des Wahlkampfes im Sommer hatte die Alters- und Hinterbliebenenversorgung gestanden. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 32, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0032

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