Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

Eine chronologische Auflistung der Quellen über alle Bände hinweg ist als PDF verfügbar.

Abteilung II, 1. Band

Nr. 22

1881 November 24

Rede1 des Abgeordneten Eugen Richter2 im Reichstag

Druck, Teildruck

Grundsatzkritik der Kaiserlichen Botschaft aus linksliberaler Sicht

[...] Erste Beratung des in der Kaiserlichen Botschaft angekündigten Reichshaushaltsetats und einer Reichsanleihe, die der Staatssekretär des Reichsschatzamts Adolf Scholz3 begründete.

Abgeordneter Richter (Hagen): Meine Herren, es wird im Publikum vielfach die Meinung zu verbreiten gesucht, als ob in der Form der Botschaft, durch welche diese Session des Reichstags eröffnet worden ist, der Wille des Monarchen, seine Ansicht, losgelöst von den politischen Ansichten des Kanzlers, selbständiger und feierlicher hervortrete. Meine Herren, umgekehrt, gerade dadurch, daß die Botschaft die Unterschrift [ Druckseite 89 ] des Kanzlers trägt, tritt die Form der Verantwortlichkeit des Kanzlers für den Inhalt hier äußerlich noch mehr erkennbar hervor, als das bei den sonstigen Eröffnungsformen des Reichstags der Fall ist. Gleichgültig, ob der Kanzler im Auftrag des Kaisers den Reichstag eröffnet oder ob der Kaiser selbst durch eine Rede diese Eröffnung vollzieht oder ob, wie hier, eine Mittelform gewählt wird und der Kanzler eine Botschaft des Kaisers verliest, es sind alles nur verschiedene Formen derselben Sache. Es ist die Darlegung des Regierungsprogramms unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers bei Beginn eines neuen Abschnitts der Gesetzgebung, und so willkürlich es ist, zwischen diesen Formen der Eröffnung einen Unterschied zu machen, ebenso willkürlich ist es, zwischen den einzelnen Sätzen und Wendungen solcher Eröffnungsreden zu unterscheiden und in der einen mehr, in der anderen weniger die Ansichten des Kaisers oder die persönlichen Ansichten des Reichskanzlers herauszulesen.

Meine Herren, in dieser Botschaft spricht die Krone, beraten vom Kanzler. Unsere Aufgabe ist es nun, als Rat der Krone diese Information der Krone zu vervollständigen. Indem die Krone die bestmöglichen Informationen erhält, wird sie in den Stand gesetzt, das für das Land Richtige zu treffen. Aus den geringeren oder größeren Informationen der Krone erklärt es sich auch, daß die Thronreden selbst ihrem Inhalt nach oft miteinander in Widerspruch stehen, daß z. B. Thronreden der letzten Sessionen sich diametral unterscheiden in der Beurteilung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse und in den Vorschlägen in bezug auf die Handelspolitik, daß Gegensätze der Anschauung bei demselben Monarchen und demselben Kanzler hervortreten, die verschiedenen Thronreden gegeneinander gehalten, wie sie schärfer gar nicht gedacht werden können. Meine Herren, so sehr wir überzeugt sind, daß der Kanzler selbst seinen Rat der Krone erteilt hat nach Maßgabe seiner eigenen selbständigen Überzeugung, ebenso ist es Aufgabe des Reichstags, nun seinerseits dieses Regierungsprogramm der Botschaft nach seiner selbständigen Überzeugung zu beurteilen. (Bravo! links)

Ich sage dies nicht für die Mitglieder dieses Hauses und für den Reichstag, sondern ich sage dies, was hier unter uns selbstverständlich ist, um von vornherein allen Versuchen zu begegnen, die sich draußen erheben möchten, die Krone selbst in den Parteikampf hineinzuziehen. (Bravo! links)

[...]

Meine Herren, nach unserer Auffassung würde die Botschaft, parlamentarisch richtig, eine Adresse dieses Hauses als Antwort erheischen. Wir sind nicht eine Mehrheitspartei dieses Hauses. Wenn die Mehrheit, die in der Präsidentenwahl ihren Ausdruck gefunden hat, eine solche Adresse beantragte, so würde sie kundgeben, daß sie sich nicht nur über Personen zu formalen Geschäften, sondern auch in der Sache zu einigen wüßte. Wir als Minderheitspartei sind nicht in der Lage, eine solche Adresse zu beantragen. Wir könnten nur unseren Standpunkt gegenüber einer Adresse, die von einer Mehrheitsfraktion ausginge, durch Amendements zur Geltung bringen. Wir müssen uns daher darauf beschränken, bei dieser Debatte zur Erwiderung jener Botschaft dasjenige zu bemerken, was wir für nötig halten.

Meine Herren, es heißt in der Botschaft, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression, sondern gleichmäßig auch in dem der positiven Förderung der Arbeiter zu suchen sei; das sei schon im Februar dieses Jahres dem Reichstag ans Herz gelegt worden. Gewiß, meine Herren, daß die sozialen Schäden durch positive Maßregeln zu heilen sind, diese Überzeugung datiert [ Druckseite 90 ] nicht von dieser Botschaft, nicht von der Thronrede im Februar4, nicht vom Erlaß des Sozialistengesetzes, auch nicht vom Entstehen der sozialdemokratischen Partei ─ nein, meine Herren, diese Überzeugung erfüllt längst weite Volkskreise und alle diejenigen, die Herz und Sinn haben für das Wohl ihrer weniger günstig gestellten Mitbürger. (Sehr richtig! links)

Aber, meine Herren, wie unser Freund Schulze-Delitzsch5 schon im Jahre 1865 bei einer Debatte über die Koalitionsfreiheit bemerkte: Die soziale Frage ist keine spezifische Frage, und man kann sie nicht wie eine spezifische Frage etwa durch die Wunderpillen irgendeines Quacksalbers heilen, die soziale Frage ist nicht eine einzelne Frage.6 So wichtig auch die Frage der Unfallversicherung, so wichtig die Frage der Altersversorgung durch Rentenzahlung ist, es sind doch nur vereinzelte Fragen in der Gesamtheit der Fragen, deren Lösung gleichbedeutend ist mit dem Kulturfortschritt der Gesamtheit. (Sehr wahr! links)

An diesem Kulturfortschritt, an dieser Lösung der Fragen zu arbeiten, ist die Aufgabe jedes Individuums, ist die Aufgabe der Gesellschaft, ist die Pflicht jeder Organisation in der Gesellschaft, der Kirchen sowohl wie aller jener freien Vereinigungen, die sich, die eine in dieser, die andere in jener Richtung, das zur Aufgabe stellen. Meine Herren, wo man irgend darangeht, eine solche Frage praktisch zu lösen, überall werden sie die Liberalen mit in erster Reihe sehen, daran Hand anzulegen. (Sehr wahr! links)

Uns dürfen Sie es wahrlich nicht verübeln, wenn meine Freunde stolz darauf sind, als einen Mitbegründer und einen Führer unserer Partei denjenigen Mann zu besitzen, der in der Form der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft auf Selbsthilfe für seinen Teil gezeigt hat, was man zur Lösung dieser Frage in einer bestimmten Richtung leisten kann. (Bravo! links)

Er hat Wege gewiesen, welche allerdings keine Steuern auf Lebensmittel zur Erfüllung notwendig machen. (Bravo! links)

Er kann am Abend seines Lebens das Bewußtsein haben, daß er sein redlich Teil für die Lösung dieser Aufgabe mit beigetragen hat, daß er auf die Wichtigkeit solcher positiven Maßnahmen hingewiesen hat, als die sozialistische Partei noch in ihren Anfängen war und der Reichskanzler sich mit Ferdinand Lassalle7 wie mit einem interessanten Gutsnachbar über dergleichen Dinge unterhielt.8

Meine Herren! Gewiß auch der Staat hat dabei mitzuwirken, der Staat hat durch Gründung des verfassungsmäßigen Rechtsstaates auf der Basis der politischen und wirtschaftlichen Freiheit wesentlich mit die Voraussetzungen zu schaffen, auf denen es den Humanitätsbestrebungen jeder Art erst möglich wird, solche positiven Aufgaben ihrer Lösung entgegenzubringen. Wir verkennen unsererseits durchaus nicht die [ Druckseite 91 ] Aufgaben und die Pflichten einer politischen Partei in dieser Richtung. Unser Programm von 18789 ─ das erwidere ich denen, die nach einer positiven Haltung der Fortschrittspartei fragen ─, es sagt ausdrücklich, daß wir den weiteren Ausbau der wirtschaftlichen Gesetzgebung erstreben, insbesondere zum Schutz für Leben und Gesundheit der Arbeiter, der Frauen und der Kinder, Erweiterung der Haftpflicht, gewerbliche Schiedsgerichte, gesetzliche Anerkennung der auf Selbsthilfe gegründeten Vereinigungen, die Pensionskassen, Arbeitgeberverbände, Gewerkvereine, Einigungsämter, Förderung der allgemeinen und technischen Bildung der arbeitenden Klassen erstreben.

Meine Herren, von liberaler Seite ist im Jahre 1871 die erste Anregung zum Haftpflichtgesetz gekommen.10 Wir wollten damals in der Normierung der Ersatzpflicht weiter gehen, als die Mehrheit des Reichstag es getan hat, und als sich dann, wie wir voraussahen, immer deutlicher die Mängel des Haftpflichtgesetzes herausstellten, da war es ein Antrag unserer Fraktion im Jahre 1878, der den Reichskanzler aufforderte, die Haftpflicht zu erweitern, die Schäden der Gesetzgebung zu bessern.11 Ich muß anerkennen, daß man von allen Seiten des Hauses, nachdem diese Initiative einmal ergriffen war, dasselbe Bestreben zeigte, nur die Reichsregierung zeigte sich zögernd, verhielt sich zurückhaltend, und erst im letzten Jahr wurde von seiten der Reichsregierung diese Frage aufgegriffen, allerdings nun in einer ganz anderen Richtung, als diejenige war, in der sich bisher alle Parteien des Reichstags übereinstimmend zusammen befunden. Meine Herren, ich kann das konstatieren, wir waren einig und sind wohl einig darin, daß wir die Haftpflicht, die Ersatzpflicht erweitert wissen wollen auf Unfälle aller Art, mag der Betrieb selbst, der Betriebsleiter sie veranlaßt haben, höhere Gewalt oder selbst ein unglücklicher Zufall durch den Arbeiter. Meine Herren, wir waren einig darin, daß diese erweiterte Last zu übernehmen sei von dem Arbeitgeber, wie die Arbeitgeber dies freiwillig schon in großem Umfang getan haben. Wir unsererseits haben unsere Anschauungen positiv formuliert in jenem Entwurf zu einer Änderung des Haftpflichtgesetzes, der dem vorigen Reichstag vorlag.

Meine Herren, die Botschaft sagt mit Recht: Die richtigen Mittel und Wege, soziale Schäden zu heilen, zu finden, sei sehr schwierig. Je richtiger dies ist, um so mehr sollte man sich hüten, zweifelhafte Wege einzuschlagen, (Sehr wahr! links) um so mehr sollte man aber auch bestrebt sein, diejenigen Wege vorerst zu verfolgen, über die die Parteien einverstanden sind. Meine Herren, wenn die Regierung wollte auf den Boden des reformierten Haftpflichtgesetzes treten, wie wir es in der vorigen Session vorgeschlagen haben, wir würden imstande sein, einer Hauptbeschwerde der Arbeiter schon in dieser, wenn auch noch so kurzen Session abzuhelfen, (Sehr wahr! links) wir würden imstande sein, ein Gesetz zu schaffen, das in Wahrheit ein besseres Weihnachtsangebinde für die Arbeiter sein würde als jener bekannte Dezemberbrief [ Druckseite 92 ] des Kanzlers12, der 1878 die Ära der Lebensmittelzölle eingeleitet hat: Den Arbeitern würde gegeben sein, worauf es in der Hauptsache ankommt, nämlich die Tragung alles Schadenersatzes durch die Arbeitgeber.

Was bietet das Regierungsprogramm mehr? Es sagt, es könnte doch unsicher sein, ob der Ersatz des Schadens später wirklich von leistungsfähigen Personen oder leistungsfähigen Verbänden geleistet wird. Ich bestreite, daß in dieser Beziehung sich schon irgendein praktischer Mangel gezeigt hat; aber wäre es auch, müßten wir diese Frage noch ungelöst lassen, so wären wir doch imstande, den Hauptteil dieser Reform sofort zu erfüllen, während, wenn wir nach den Regierungsvorschlägen zugleich die Frage der Organisation des Versicherungswesens lösen sollen, wir eine durchaus zweifelhafte Maßregel verbinden mit jener Änderung der Gesetz[geb]ung, die von anerkannter Richtigkeit ist. Jene Wege, die uns die Regierung führen will, sie setzen zudem voraus eine Zerstörung bereits vorhandener Einrichtungen, eine Zerstörung von Erwerbsgesellschaften, die den Versicherungszweck erfüllen, und eine Zerstörung gerade lebensvoller Korporationen, die auf realen Volkskräften beruhen, wie die Botschaft sich ausdrückt; denn mag man eine große Reichsversicherungsanstalt monopolisiert hinstellen oder daneben noch auf Widerruf irgendwelche konzessionierte Vereine zulassen, die übermächtige Reichsanstalt wird diese konkurrierenden Gesellschaften alsbald erdrücken. Warum sollen wir das, was lebensvoll bereits geschaffen ist, in solchen Organisationen jetzt zerstören zugunsten von Anstalten, deren Wirksamkeit mehr als zweifelhaft ist? (Sehr richtig! links)

Gerade wer lebensvolle korporative Bildungen will, muß alles erhalten, was sich darin bereits entwickelt hat, der muß den korporativen freien Organisationen die Bahn freilassen zu ihrer Entwicklung, denn Korporationen schließen sich naturgemäß immer zuerst zusammen zum Zweck der Unterstützung der Hilfsbedürftigen unter den eigenen Berufsgenossen.

Meine Herren, was uns weiter trennt in dieser Frage von der Reichsregierung, ist die Frage des Staatszuschusses. Auch diese Forderung sehe ich zu meinem Bedauern in der Botschaft aufrechterhalten. Wir sind der Meinung, daß das, was der Staat an Zuschuß gibt, die Summe nicht aufwiegt, wodurch die Versicherung verteuert wird infolge der Einrichtung einer solchen Versicherungsanstalt, wie sie die Regierung beabsichtigt. Aber das ist nicht die Frage, auf die es hierbei ankommt; die Frage, die hierbei entscheidend ist, ist von niemand treffender gekennzeichnet worden als von dem Wortführer der deutsch-konservativen Partei bei der ersten Beratung dieses Gesetzes im vorigen Jahr, nämlich von Herrn von Marschall13. Er sagt bei dieser Stelle wörtlich:

[ Druckseite 93 ]

[„]Wenn schon dem [jugendlichen]14 Arbeiter, der sich im Vollbesitz seiner Arbeitskraft befindet, von der Gesetzgebung gesagt wird: Du bist nicht imstande, alles das mit Deiner Arbeitskraft zu verdienen, was Du bedarfst zu Deiner Lebenserhaltung ─ meine Herren, welche Wirkung wird das auf den Arbeiter ausüben? Keine andere Wirkung, als daß er sich von Jugend auf gewöhnt, daß nicht seine eigene Kraft es ist, auf die er sich zu verlassen hat, sondern daß hinter ihm der Staat steht, der dann, wenn er nichts mehr leisten kann oder vielleicht auch nichts mehr leisten will, eintritt und der für unsere ganze Volkswirtschaft so unendlich wertvolle Trieb, der jedermann soll innewohnen, daß er alles anwendet, das höchstmögliche zu leisten mit seiner Arbeitskraft, wird wesentlich Not leiden durch das Gefühl, daß das, was man selbst nicht leisten kann, durch den Staat geleistet wird.

Meine Herren, das sind die großen Bedenken, die wir in der großen Mehrzahl der konservativen Partei gegen die im Entwurf vorgesehene Staatshilfe offen auszusprechen uns verpflichtet halten.[“]15

Nun, meine Herren, wir stehen auf diesem allerdings echt konservativen Standpunkt noch heute. (Hört! Hört! links)

Das ist der Unterschied in der Auffassung, die uns vom Kanzler trennt: Wir wollen das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit des einzelnen nicht angetastet sehen. Das, was den Reichskanzler mit den Sozialisten verbindet, ist die Unterstützung der Kraft des Gefühl der Selbstverantwortlichkeit im Wirtschaftsleben. (Sehr richtig! links)

Dies Gefühl ist es zumeist, die Scheu, in Verarmung zu verfallen, die Hoffnung sich vorwärtszuarbeiten, die die Trägheit überwinden macht, die den einzelnen anspornt, alles zu leisten, was er zu leisten imstande ist. Aus dem Wetteifer der einzelnen folgt der Fortschritt der Gesamtheit im Wirtschaftsleben. Dies Gefühl der Selbstverantwortlichkeit ist in der Tat eine staatserhaltende Kraft in unserem Volkskörper, und deshalb stemmen wir uns so entgegen allem, was definitiv oder auf Zeit mit kleinen oder geringen Summen durch Zuschüsse irgendwie dazu dienen könnte, das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit, diese staatserhaltende Kraft, zu schwächen und anzutasten. (Bravo! links)

Meine Herren, wahrlich die Erscheinungen, die in der sozialistischen Partei hervortreten, die Erscheinungen bei diesen Wahlen, sie sollten auch den Herrn Reichskanzler stutzig machen, ob er in bezug auf Repression durch das Sozialistengesetz das Richtige getroffen hat oder ob es nicht viel besser wäre, dieses Sozialistengesetz noch abzukürzen in der Dauer, die man ihm gegeben hat. Je zweifelhafter es ist und in immer größeren Kreisen wird, ob jenes Gesetz eine richtige Maßregel war in der Repression sozialistischer Bestrebungen, um so mehr sollte er sich hüten, nun in bezug auf positive Maßregeln dieser sozialistischen Partei gegenüber etwas zu ergreifen, was nicht das Richtige darstellt. Nach meiner Auffassung hat der Reichskanzler, indem er sich den Sozialisten in seinen sozialpolitischen Auffassungen näherte, alles, was vielleicht das Sozialistengesetz hätte beitragen können, den Sozialismus äußerlich zurückzudrängen, dadurch wieder ausgeglichen. Niemand hat soviel dazu beigetragen wie der Reichskanzler selbst, um dem Sozialismus in den letzten Monaten neue Lebenskraft wiederzugeben. (Sehr richtig! links)

[ Druckseite 94 ]

Meine Herren, das Bild der Altersversorgung erscheint in der Botschaft in nebelhaften Umrissen. Niemand vermag einen praktischen Vorschlag in dieser Botschaft zu erkennen, ich kann sie deshalb auch nicht angreifen; nur hätte ich gewünscht, daß man dann auch nicht solche Aussprüche getan hätte von einem Anspruch großer Klassen auf größere Staatshilfe, ehe man sich klar war, wie man solche Ansprüche irgendwie erfüllen könnte. (Sehr richtig! links)

Denn das ist die erste Pflicht der Verantwortlichkeit des Staatsmanns, nicht Anforderungen wachzurufen und zu nähren, die man nachher nicht erfüllen kann. (Sehr richtig! links)

Nun, meine Herren, der Staat kann nichts leisten, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Das Eigentümliche der Botschaft ist, daß sie weitläufig und ausführlich die schönen Dinge hinmalt, die das Reich und der Staat leisten kann, daß sie aber um so knapper in wenigen Zeilen sich zusammenfaßt, was Voraussetzung ist der Gegenleistung im Reich, um die Mittel zu finden zu jenen Leistungen des Staates, die man verspricht. Und doch sind diese wenigen Sätze ausreichend, um für jedermann klarzustellen auch hier, daß der Staat überhaupt nichts geben kann, was er nicht zuvor einem andern fortgenommen hat, daß der Staat nicht neue Reichtümer schaffen, sondern daß er sie nur anders verteilen kann, nachdem er vorher im Wege der Steuererhebung, im Wege des Zwanges sich einen Teil der Mittel der Nation angeeignet hat. Meine Herren, was aber den Reichskanzler trennt in seinen Vorschlägen von den Sozialisten an diesem Punkt, ist das, daß sie die Besserung der minder gutgestellten Klassen wollen, indem sie den Zinsgewinn, den Unternehmergewinn verkürzen oder aufheben; sie wollen den minder wohlhabenden Klassen etwas zuwenden auf Kosten der Reichen. Das eigentümlich Unterscheidende der Politik des Kanzlers ist, daß er den minder wohlhabenden Klassen Leistungen verspricht auf Kosten dieser Klassen selbst. (Heiterkeit! Sehr richtig! links)

Die Voraussetzung seiner Sozialpolitik ist die Vermehrung der indirekten Steuern, die Erhöhung der allgemeinen Verbrauchsabgaben, von denen die Regierungsentwürfe im Landtag selbst in ihren Motiven zugestehen müssen, daß sie vorzugsweise und relativ am stärksten auf die minder wohlhabenden Klassen fallen. Und wie hoch man sich den Staatszuschuß vorstellen mag für die Unfallversicherung, er wird nur einen kleinen Bruchteil dessen erreichen, um was schon der Lebensunterhalt dieser selben Klassen verteuert ist durch die neuen Steuern. (Sehr richtig! links)

Wenn Sie nur rechnen, daß {3/7} Pfennig Roggenzoll fällt auf das Pfund Brot, und rechnen, daß eine Familie ein Sechspfundbrot täglich verbraucht, so kommen sie zu dem Ergebnis, daß ein Arbeiter mit einer solchen Familie eine ganze Woche im Jahr arbeiten muß, nur um die Verteuerung durch den Kornzoll auszugleichen (Hört! Hört! links) für seinen Unterhalt. Wenn Sie annehmen, daß das Petroleum um 6 Pfennig pro Liter verteuert wird, so kommen Sie zu dem Ergebnis, daß ein Arbeiter einen Tag im Jahr arbeiten muß, um die Erhöhung dieses Zolles auszugleichen, und so könnte man die Beispiele fortsetzen. Und da sich die Arbeitszeit für ihn nicht beliebig ausdehnen läßt, was folgt daraus? Je mehr der tägliche Lebensunterhalt von ihm fordert, desto weniger hat er für anderes übrig. Darum ist gerade die Politik des Kanzlers, indem sie auf der einen Seite die Hilfsbedürftigen unterstützen, das Alter versorgen will, in Wahrheit eine solche, die diesem Zweck nach der andern Seite direkt zuwiderhandelt. Denn der einzelne kann um so weniger für das Alter, für Unfälle zurücklegen, je mehr der tägliche Unterhalt von dem Ertrag seiner Arbeit fordert. (Sehr wahr! links) [...] Es folgen Details zu weiteren Steuererhöhungen und deren Auswirkungen.

[ Druckseite 95 ]

Meine Herren, die Botschaft kündet ferner an, daß die indirekten Steuern erhöht werden sollen, um die Armen- und Schullast den Gemeinden abzunehmen. Ja, das scheint mir zu beweisen, daß die indirekten Steuern eingeführt werden sollen, nicht bloß, um die neuen Ausgaben der Sozialpolitik zu bestreiten, nicht bloß, um direkte Steuern zu ersetzen, sondern auch, um erhöhte Ausgaben für das Armen- und Schulwesen zu decken. Darüber kann sich doch niemand täuschen, daß in dem Augenblick, wo die Armen- und Schulkosten vom Reich oder den Einzelstaaten übernommen werden, es sich zeigen wird, daß diese Zweige, insbesondere die öffentliche Fürsorge im Armenwesen, viel kostspieliger werden, als sie bisher waren. (Sehr richtig! links)

Vermag man erst seine Wohltätigkeit durch die Anweisung auf große einheitliche Kosten zu decken, dann ist der Wohltätigkeit nirgends eine Schranke gesetzt, dann werden wir aber eine Steigerung der Armenlast erleben, die die Armen selbst am wenigsten schützt.

Was bietet die Botschaft auf der anderen Seite als Mittel zur Erfüllung all dieser Aufgaben? Sie spricht von der Einführung des Tabaksmonopols, von der Steuer auf Getränke, die bisher schon vorgeschlagen war.

[...]

Registerinformationen

Regionen

  • Preußen

Personen

  • Biedermann, Dr. Karl (1812–1901) , Professor für Kultur- und Literaturge- , schichte in Leipzig, MdR (nationalliberal)
  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Bueck, Henry Axel (1830–1916) , Geschäftsführer des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen in Düsseldorf, Geschäftsführer der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller
  • Hirsch, Dr. Max (1832–1905) , Schriftsteller in Berlin, liberaler Gewerkschaftsführer, MdR (Fortschritt)
  • Lassalle, Ferdinand (1825–1864) , Schriftsteller, Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
  • Marschall von Bieberstein, Adolf Freiherr (1842–1912) , Landgerichtsrat in Mannheim, MdR (konservativ); später: badischer Gesandter in Berlin
  • Mulvany, William Thomas (1806–1885) , Bergwerksdirektor, Fabrikbesitzer im Ruhrgebiet, Vorsitzender des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen
  • Osthues, Bernhard (1835–1894) , Bergassessor, Fabrikinspektor in Dortmund
  • Schulze-Delitzsch, Dr. Hermann (1808–1883) , Kreisrichter a. D. in Potsdam, Begründer der deutschen Genossenschaftsbewegung, MdPrAbgH, MdR (Fortschritt)

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeitgeber
  • Armenpflege
  • Bundesrat
  • Einigungsämter
  • Frauenarbeit
  • Freihandel
  • Gefahrenschutz
  • Gemeinden, Kommunen
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz, betreffend die Verbindlichkeit zum Schadensersatz für die bei dem Betrieb von Eisenbahnen, Bergwerken etc. herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen (Haftpflichtgesetz) (7.6.1871)
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gewerkvereine
  • Haftpflicht
  • Handel, siehe auch Freihandel
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kinderarbeit
  • Koalitionsfreiheit
  • Korporationen
  • Kultur
  • Landtag
  • Landtag – preußischer
  • Parteien
  • Parteien – Konservative
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Presse
  • Presse – Norddeutsche Allgemeine Zeitung
  • Reichsregierung
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1881
  • Reichsverfassung
  • Reichsversicherungsanstalt
  • Repression
  • Schiedsgerichte
  • Selbsthilfe
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Staatszuschuß
  • Steuern
  • Tabakmonopol
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen
  • Versicherungswesen, privates
  • Zinsen
  • Zölle
  • 1Stenographische Berichte des Reichstags, 5. LP I. Session 1881/1882, 3. Sitzung, S. 21─33 (hier S. 21 u. S. 24─27).Kronprinz Friedrich Wilhelm vermerkte über diese Rede am 25.11.1881 in seinem Tagebuch: Über den gestrigen Vorgang im Reichstag sagt man ganz richtig, daß die Rechte schwieg, keine Worte fand, um der kaiserlichen Botschaft entsprechend sich ihren Grundsätzen offen zu bekennen, und daß das Zentrum „in würdiger Zurückhaltung“ schwieg! Mithin ließen jene 2 Parteien, welche Bismarck vereinigt gebrauchen will für Durchführung seiner Pläne, die Gelegenheit entgehen, ihr Bündnis zu befestigen und die „sittliche Basis“ desselben vor dem Lande kundzugeben (GStA Berlin BPH Rep. 52 F 1 Nr. 7 u, fol. 329). »
  • 2Eugen Richter (1838─1906), Regierungsassessor a. D., Schriftsteller in Berlin, seit 1867 MdR (Fortschritt). »
  • 3Adolf Scholz (1833─1924), seit 1880 Staatssekretär im Reichsschatzamt. »
  • 4Eröffnungssitzung des Reichstags vom 15.2.1881 (Sten.Ber. RT 4. LP IV. Session 1881), vgl. den (Teil-)Abdruck unter Nr. 203 Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 5Dr. Hermann Schulze-Delitzsch (1808─1883), Kreisrichter a. D. in Potsdam, Begründer der deutschen Genossenschaftsbewegung, seit 1867 MdR (Fortschritt), 1861─1872 MdPrAbgH. »
  • 6Vgl. dessen Rede im preußischen Abgeordnetenhaus vom 15.2.1865 (Sten.Ber. AbgH 8. LP II. Session 1865, S. 185). »
  • 7Ferdinand Lassalle (1825─1864), Politiker, Publizist und Arbeiterführer, Mitbegründer und erster Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. »
  • 8In der Zeit des preußischen Verfassungskonfliktes 1863 gab es Kontakte zwischen Bismarck und Lassalle, die 1878 im Reichstag publik wurden (vgl. hierzu Nr. 157 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 9Vgl. Punkt 5 des sieben Punkte enthaltenden Programms der Deutschen Fortschrittspartei (Abdruck: Felix Salomon, Die deutschen Parteiprogramme, Heft 2, 2. Aufl., Leipzig und Berlin 1912, S. 28 ff.). »
  • 10Die Initiative ging von dem nationalliberalen Abgeordneten Dr. Karl Biedermann aus, vgl. zu den Einzelheiten Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 11Vgl. den entsprechenden Antrag des Abgeordneten Dr. Max Hirsch u. a. vom 12.2.1878 (Sten.Ber. RT 3. LP II. Session 1878, Drucksache Nr. 28). »
  • 12Das ─ in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ (Nr. 304 vom 24.12.1878) veröffentlichte ─ Schreiben Bismarcks an den Bundesrat vom 15.12.1878 nahm eine Finanzreform und eine vollständige Umgestaltung des Zolltarifs in Aussicht und somit die Abkehr vom Freihandel. Dieser sog. „Dezemberbrief“, auch „Weihnachtsbrief“ genannt, war das Programm der konservativen politischen Wende Bismarcks (Abdruck: Heinrich v. Poschinger, Fürst Bismarck als Volkswirth, Bd. 1, Berlin 1889, S. 170 ff.; dazu: Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848─1881, 3. Aufl., Köln 1974, S. 524 f.; zum Gesamtkontext vgl. Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 13Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein (1842─1912), Landgerichtsrat in Mannheim, seit 1878 MdR (konservativ). »
  • 14So lautet es in der Rede Marschall von Biebersteins. »
  • 15Vgl. dessen Reichstagsrede vom 21.4.1881 (Sten.Ber. RT 4. LP IV. Session 1881, S. 681─ 684, Zitat: S. 684). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 22, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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