Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 18

1881 November 20

National-Zeitung1 Nr. 546 Die kaiserliche Botschaft

Druck, Teildruck

Die Kaiserliche Botschaft ist ein besonderes Ereignis, ihr Inhalt aber ein schwer zu verwirklichendes Programm; die Heilige Allianz von 1815 als analoges wie warnendes Beispiel

Die kaiserliche Botschaft, mit welcher der Reichstag eröffnet wurde, ist nicht nur nach ihrem Inhalt, sondern auch ihrem künstlerischen Werte nach eines der merkwürdigsten Aktenstücke, die in Preußen und Deutschland erschienen sind. Wir wundern uns nicht darüber, daß diese Botschaft namentlich auch auf die erregbareren Gemüter in Wien einen beinah faszinierenden Eindruck gemacht hat.2 Wir geben [ Druckseite 80 ] gerne zu, daß ein eigener romantischer Zauber auf dieser Urkunde ruht; mit außerordentlicher Kunst ist alles zusammengetragen, was das deutsche Gemüt und die Phantasie zu ergreifen geeignet ist. Die Neigung, Wohltaten zu erzeigen, Übel zu heben, das Los der Unglücklichen und Beladenen zu verbessern, ist jedem guten Menschen angeboren. Bedenkt man, daß es der greise Kaiser selbst ist, der hier redend eintritt, daß der Kanzler und Begründer der deutschen Einheit das Wort führt, daß die feierliche Form noch erhöht wird durch den Hintergrund, den die Botschaft gleichsam als das kaiserliche Vermächtnis an das deutsche Volk eröffnet, so ist es klar genug, daß es schwer ist, die Nüchternheit der Anschauung zu bewahren, welche das politische Leben verlangt. Auswärtige Leser mögen sich dem romantischen Zauber gefangengeben, der aus der Botschaft weht, der deutsche Bürger muß sich die ruhige Prüfung vorbehalten, wie sich das Vorgetragene zur Wirklichkeit verhält. Und wenn er findet, daß die Ziele, wie sie in der Botschaft aufgestellt sind, in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu den Bedingungen staatlicher und gesellschaftlicher Organisation stehen, wie diese existieren, so wird er eine reservierte Stellung einnehmen müssen. Heute noch sowenig wie bei der ersten Lesung der Botschaft ist uns klargeworden, wie der Staat beschaffen sein kann, der den sozialen Zielen, die der hohe Flug der Botschaft aufstellt, gewachsen sein würde. Wir fürchten, daß das Deutsche Reich und das Königreich Preußen in ihrer heutigen Organisation die Träger solcher Einrichtungen nicht sein können. Das Eintreten des Kaisers in so feierlicher Weise muß uns bestimmen, den Inhalt der Botschaft nochmals der genauesten Erwägung zu unterziehen, soweit praktische Konsequenzen daraus gezogen werden sollen; aber politische Wahrheiten regeln sich nach den Gesetzen der Logik wie geometrische Wahrheiten, die Welt des Gefühls kann die Temperatur und Stimmung geben, beeinflussen darf sie nie Entschließungen, welche im Interesse des Staates getroffen werden müssen. Daß die Person des Kaisers in dieser Weise hervorgekehrt wird, halten wir für die Ankündigung und das Programm einer demnächstigen Auflösung, bei welcher der Schlachtruf noch ungleich höher ausgegeben werden soll als für oder gegen Bismarck. Um so genauer gilt es, diese Vorgänge zu verfolgen.

Es ist indessen nicht zum ersten Male in diesem Jahrhundert, daß die Welt so erhabene Worte und Entschlüsse aus einer großen Staatsurkunde vernimmt. Die kaiserliche Botschaft erinnert vielmehr vielfach an ein Aktenstück, welches die Ära nach Sturz des ersten Napoleon3 eröffnete, wir meinen die Stiftungsurkunde der Heiligen Allianz, unterzeichnet zu Paris am 26. September 1815 von den drei verbündeten Monarchen der Nordstaaten. Wir beschränken uns hier, die Eingangsworte anzuführen. Die Analogien mit der Botschaft liegen auf der Hand. Es heißt dort:

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Im Namen der heiligen Dreieinigkeit! Ihre Majestäten, der Kaiser von Österreich, der König von Preußen und der Kaiser von Rußland haben infolge der großen Begebenheiten, welche den Lauf der drei letzten Jahre in Europa bezeichnet, und besonders der großen Segnungen, welche die gütige Vorsehung über die Staaten ausgegossen hat, welche ihr Vertrauen und ihre Hoffnung nur auf sie setzten, die innige Überzeugung gewonnen von der Notwendigkeit, ihr Betragen gegeneinander auf die erhabenen Wahrheiten zu stützen, welche die heilige Religion unseres Erlösers lehrt.

Sie erklären daher feierlich, daß der gegenwärtige Akt keinen anderen Zweck hat, als im Angesicht der ganzen Welt ihren festen Entschluß zu verkündigen, daß sie sowohl in der Verwaltung ihrer eigenen Staaten als in den politischen Verhältnissen zu jeder anderen Regierung die Vorschriften dieser heiligen Religion zu ihrer einzigen Richtschnur nehmen wollen; nämlich die Vorschriften der Gerechtigkeit, der christlichen Liebe und des Friedens, Vorschriften, welche weit entfernt davon, daß sie nur auf Privatverhältnisse anwendbar sein sollten, ihren unmittelbaren Einfluß auf den Rat der Fürsten auszuüben und alle ihre Schritte zu leiten haben, da sie die einzigen Mittel sind, menschliche Institutionen fest zu gestalten und ihren Unvollkommenheiten abzuhelfen.

Was aus diesen erhabenen Versprechungen und großen Vorsätzen geworden ist, davon gibt die Geschichte ein warnendes Zeugnis. Bei dem russischen Herrscher steigerte sich die mystische Richtung mehr und mehr, die graue Wirklichkeit wurde in gleicher Steigerung vernachlässigt; der Gegenschlag zu jenem Regiment trat in dem des ersten Nikolaus4 zutage, er hat das politische und geistige Leben Rußlands mit eherner Faust niedergehalten und die furchtbaren Zustände vorbereitet, deren Zuckungen jetzt durch das Reich gehen und denen sein Sohn und Nachfolger zum Opfer fiel. Österreich erholt sich mühsam nach unendlichen Stößen von den Folgen jener Politik, und ihr allein dankt es der Kaiserstaat, daß er, statt in einer entscheidenden Periode zusammenzuwachsen, durch eine tiefe Trennungslinie beinahe in zwei Hälften gespalten ist. Was für Preußen und Deutschland aus der Heiligen Allianz und dem Geist, der sie überzeugt, erwachsen ist, das brauchen wir nicht zu rekapitulieren. Es hat schwerer Prüfungen, Stöße, die den Staat an den Rand des Abgrunds führten, eines außerordentlichen Aufschwungs und des Zusammentreffens ganz ausnahmsweiser Verhältnisse und ungewöhnlicher Männer bedurft, um Preußen auf den Weg wieder zu führen, von dem es die reaktionäre Mystik der Heiligen Allianz abgeführt hatte. Wir verweilen bei diesem Beispiel, weil es zeigt, daß der beste Willen und die großartigsten Gesichtspunkte zum schweren Übel ausschlagen, wenn sie nicht kontrolliert werden durch die realen Bedürfnisse der Bevölkerung, durch die nüchterne Beachtung des Möglichen und Erreichbaren. Die Fragen, welche die kaiserliche Botschaft als die höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens aufstellt, das auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht, sind aber außerordentlich schwieriger und tiefergreifend als alle die Angelegenheiten, die im Gesichtskreis der Heiligen Allianz lagen, und die Zusagen und Versprechungen, die hier gemacht werden, lassen keinen Teil der bestehenden Zustände unberührt. [...]

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Registerinformationen

Regionen

  • Europa
  • Österreich
  • Rußland

Orte

  • Paris

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Napoleon I. Bonaparte (1769–1821) , Kaiser der Franzosen
  • Nikolaus I. (1796–1855) , Zar von Rußland
  • Stephany, Friedrich (1830–1913) , Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“ in Berlin
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Bundesrat
  • Christentum
  • Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung („Innungsgesetz“) (18.7.1881)
  • Parteien
  • Parteien – Liberale
  • Presse
  • Presse – Neue Freie Presse (Wien)
  • Presse – Vossische Zeitung
  • Reichskanzler
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Reichsverfassung
  • 1Die in Berlin erscheinende liberale „National-Zeitung“ wurde 1848 begründet, sie war eines der Hauptorgane der Nationalliberalen Partei; Chefredakteur war Friedrich Dernburg. »
  • 2Gemeint ist die Reaktion der Wiener Presse, aus dieser hatte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ (Nr. 539 vom 18.11.1881) mehrere positive Pressestimmen abgedruckt, u. a. folgende der „Neuen freien Presse“: Die Thronrede ist ein Meisterstück in Form und Fassung, der feierliche Ernst derselben entspricht völlig dem großen Problem, die Thronrede wird ein denkwürdiges historisches Aktenstück bleiben, die Art, wie sie die Reformpläne unter die höhere Idee der allgemeinen Wohlfahrt rückt und über die getrübte Atmosphäre der Parteileidenschaft hinweghebt, wirkt versöhnender, als es durch irgendwelche beschwichtigende Phrase geschehen könnte. Wollen die Liberalen nicht einer unfruchtbaren Verneinung geziehen werden, so müssen sie der genialen Initiative des Fürsten Bismarck folgen, denn die Entwürfe des Reichskanzlers haben mit überraschendem Scharfblick die wunden Stellen der heutigen Gesellschaft herausgefunden. In den Worten „Frei von reaktionären Hintergedanken“ liegt eine frohe Verheißung. »
  • 3Napoleon I. Bonaparte (1769─1821), 1804─1815 Kaiser der Franzosen. »
  • 4Nikolaus I. (1796─1855), 1825─1855 Zar von Rußland. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 18, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0018

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