Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 16

1881 November 18

Frankfurter Zeitung Nr. 322, Abendausgabe

Druck

Kommentierung und Kritik des Sozialprogramms der Kaiserlichen Botschaft

Die „Lib[erale] Korr[espondenz]“1, das Organ der Sezessionisten, kritisiert die kais[erliche] Botschaft wie folgt: „In früheren Fällen, wo der Kaiser verhindert war, den Reichstag persönlich zu öffnen, trat an die Stelle der Thronrede eine Darlegung des mit der Eröffnung Beauftragten, welche die Person des Kaisers zurücktreten ließ und die verbündeten Regierungen, deren Präsident der Kaiser ist, in den Vordergrund stellte. Weshalb dieses Mal die Form einer kaiserlichen Botschaft gewählt wurde, ist aus dem Inhalt dieser Botschaft, die so leicht niemand zu den erfreulichen rechnen wird, unschwer zu ersehen: Es handelt sich um die Kundgebung des kaiserlichen Willens; nicht, wenigstens nicht in allen und gerade den wichtigsten Punkten, um Beschlüsse des Bundesrats. In schroffem Gegensatz zu den konstitutionellen Velleitäten, welche eine schlecht unterrichtete Presse dem Reichskanzler zugeschrieben hatte, nimmt die Botschaft die Unterstützung des Reichstags ‚ohne Unterschied der Parteistellungen‘ in Anspruch. Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, die Versicherung, daß die Steuerreform mit Hilfe des Tabaksmonopols ‚nicht nur von fiskalischen, sondern auch von reaktionären Hintergedanken‘ frei sei, als eine erfreuliche bezeichnen; man weiß aber, daß ein großer Teil des Reichstags und der Nation der Überzeugung ist, die Durchführung dieser Politik würde der wirtschaftlichen und politischen Reaktion Vorschub leisten. Das Tabaksmonopol erscheint in der Botschaft nicht in der kompromittierten Form des ‚Patrimoniums der Enterbten‘2. Aber die Scheidung zwischen Monopol und Altersversorgung ist nur eine scheinbare. Die Botschaft bezeichnet den engeren Anschluß an die realen Kräfte des christlichen Volkslebens in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung zur Lösung von Aufgaben erforderlich, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sein würde; aber sie fügt hinzu, daß auch auf diesem Wege das Ziel nicht ohne Aufwendung erheblicher Mittel zu erreichen sei, zu deren Beschaffung das Monopol dienen soll. Die Reichsgesetzgebung soll also nicht nur organisierend, sondern in sozialistischem Sinne subventionierend eingreifen. Zur Durchführung der Steuerreform, d. h. der Umwandlung, nicht nur der Erleichterung der bestehenden direkten Staats- und Gemeindelasten in indirekte, angeblich weniger drückende Reichssteuern, werden neben den Erträgen des Tabaksmonopols auch diejenigen in Anspruch genommen, [ Druckseite 77 ] welche durch Wiederholung früherer Aufträge auf stärkere Besteuerung der Getränke erzielt werden. Zum Überfluß wird auch die Wiederholung der Vorlagen wegen zweijähriger Etat- und vierjähriger Legislaturperioden angekündigt. Angesichts dieser kaiserlichen Botschaft erscheint selbst die Eventualität einer ‚Minoritätsregierung‘ zweifelhaft. Bislang dürfte keine Partei des Reichstags, die Konservativen einbegriffen, entschlossen sein, dieses Programm sich in seinem ganzen Umfang anzueignen. Die Krisis, von der so viel die Rede ist, wird freilich erst eintreten, wenn durch Verhandlungen im Reichstag diese Sachlache auch äußerlich konstatiert ist. Ungeteilte Zustimmung werden dagegen die Schlußsätze der kaiserlichen Botschaft finden, welche den Frieden in diesem Jahr als gesicherter bezeichnen als in irgendeinem der letzten Jahre. Hoffentlich wird der Glaube des Auslandes an die friedliebende Zuverlässigkeit Deutschlands nicht durch eine innere Politik erschüttert werden, welche den Frieden zwischen Volk und Regierungen aufs Spiel setzt. [“]

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von , (1811–1877) , kath. Bischof von Mainz
  • Nienkemper, Fritz (1847–1922) , Redakteur der „Germania“ in Berlin

Sachindex

  • Außenpolitik
  • Etat, Reichsetat
  • Parteien
  • Parteien – Konservative
  • Parteien – Liberale
  • Parteien – Zentrum
  • Presse
  • Presse – Germania
  • Presse – Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung
  • Reichsregierung
  • 1Die „Liberale Korrespondenz“ erschien ab 1.11.1880 wöchentlich. »
  • 2Diesen Terminus dürfte Bismarck im Gespräch mit Adolph Wagner im Sommer 1881 geprägt haben (vgl. Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Lucius von Ballhausen, Stuttgart und Berlin 1920, S. 220). Die genauere Genese im Verlauf des Wahlkampfs von 1881, etwa in einer Rede oder Korrespondenz von Adolph Wagner, ist allerdings bislang nicht möglich gewesen. Häufig wird dieser Terminus dann auch in liberalen Stellungnahmen zu den Absichten der Bismarckschen Altersversorgungspolitik gebraucht, vgl. dazu Nr. 186 u. Nr. 195 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 16, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0016

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