Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

Eine chronologische Auflistung der Quellen über alle Bände hinweg ist als PDF verfügbar.

Abteilung II, 1. Band

Nr. 3

1881 November 9

Handschreiben1 des Deutschen Kaisers und preußischen Königs Wilhelm I. an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Eigenhändige Ausfertigung

Ablehnung der politischen Absicht Bismarcks, das Sozialistengesetz von 1878 aufheben zu lassen

Der Minister von Bötticher [sic!] hat mir in Ihrem Auftrag Vortrag über die dem Reichstag vorzulegenden Gesetze gehalten2 und habe ich mich mit denselben nur einverstanden erklären können und namentlich, daß wir uns durch die schlechten Wahlen nicht in dem Gang unserer Reformpolitik stören lassen dürfen, wenngleich wohl wenig Aussicht ist, daß wir diese Gesetze mit diesem Reichstag durchbringen werden! Es ist jedoch mir dabei die Ansicht aufgestellt worden, daß wir nun einige dieser Gesetze, die für das Wohl der Arbeiterklassen von größtem Einfluß sind, damit diese dem demokratischen Einfluß entwunden werden sollen, als Lockspeise in Aussicht stellen wollen, die Oktobergesetze von 1878 aufzuheben!!3 Ich habe mich komplett erschreckt, als Minister von Bötticher mir diese Absicht mitteilte! Wir würden uns sehr täuschen, wenn wir die auf der Oberfläche des Landes anscheinend ruhigeren Erscheinungen der Umsturzpartei als einen Beweis ansehen wollten, daß hinter den Kulissen und in der Tiefe die Umtriebe dieser Partei schliefen. Alle Indizien in allen Ländern zeigen, wie durch fortgesetzte Verbindungen diese Partei rührig ist und wie alle Vorsichtsmaßregeln dies nicht zu verhindern imstande sind. Aber die genannten Gesetze haben doch allein uns in den Stand gesetzt, diese Ramifikationen4 zu verfolgen und durch Verhängung des kleinen Belagerungszustandes5 gefährliche [ Druckseite 9 ] Personen auszuweisen usw. Uns dieser Vorsichtsmaßregeln jetzt schon zu entäußern, scheint mir viel zu früh, wie wir die Folgen solcher zu frühzeitigen Milde in Petersburg6 nur zu deutlich gesehen haben!! Wenn mein vergossenes Blut7 nicht einmal den Reichstag vermochte, in erster Fassung unmittelbar nach dem Attentat das Gesetz anzunehmen und dasselbe selbst in 2. Vorlage nur mit Mühe durchging,8 wenn wir jetzt gesehen haben, daß der Kaisermord in Petersburg und der des Präsidenten der Republik in Amerika9 die Häupter der Staaten vor Mord nicht schützen können, ja die Massen nach wie vor von der Umsturzpartei bearbeitet werden, um [?] die Menschen, die auf Mord sinnen und dies aussprechen, die Wahl ihrer Vertreter aus der Wahlurne hervorgehen lassen ─ da kann man unmöglich jetzt schon mit einer Aufhebung der Oktobergesetze10 vorgehen! Es hieße, das einzige Mittel, welches wir in Händen haben, aufgeben, um ein mehr wie zweifelhaftes Resultat für das Durchgehen der Gesetze einzutauschen!!

Ich bin Ihrer politischen Ansicht beigetreten, um durch Milde den Kulturkampf zu bewegen, seinerseits bei den Wahlen uns entgegenzukommen, wenn wir die rechten Männer fänden; die Wahlen haben nun aber bewiesen, daß sich das Zentrum verstärkt hat ─ und so fürchte ich, würden wir uns ein ähnliches Resultat bereiten, wenn wir die Oktobergesetze jetzt aufheben wollten, um die Umsturzpartei zu gewinnen!

Ich habe dem Minister nur zugegeben, mir eine Fassung zu Ihrer Rede über das Thema vorzulegen, um zu sehen, ob ich mich zu derselben entschließen könnte.11 Denn aus meinem Munde eine solche Verheißung ausgesprochen, wiegt enorm schwer, wenn nachher die Möglichkeit zur Ausführung derselben nicht eintritt!

Beherzigen Sie diese Zeilen!

Ihr Wilhelm

[ Druckseite 10 ]

Registerinformationen

Regionen

  • Rußland
  • Vereinigte Staaten von Amerika

Orte

  • Hamburg
  • St. Petersburg

Personen

  • Alexander II. (1818–1881) , Zar von Rußland
  • Bismarck, Herbert Graf von (1849–1904) , Sohn und Mitarbeiter Otto von Bismarcks, Staatssekretär im Auswärtigen Amt
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832–1901) , Direktor der II. Abteilung im Reichsamt des Innern
  • Garfield, James (1831–1881) , Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
  • Hasenclever, Wilhelm (1837–1889) , Lohgerber, Journalist in Berlin, MdR (Sozialdemokrat)
  • Hödel, Emil Max (1857–1878) , Klempnergeselle in Berlin, Attentäter
  • Krüger, Hermann (1836–1902) , Kriminalkommissar in Berlin
  • Luckhardt, Friedrich (1847–1905) , Verleger des „Deutschen Tageblatts“ in Berlin
  • Nobiling, Dr. Karl Eduard (1848–1878) , Agrarwissenschaftler in Dresden, Attentäter
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843–1917) , Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Otto von Bismarcks
  • Wagner, Dr. Adolph (1835–1917) , Professor für Staatswissenschaften in Berlin

Sachindex

  • Attentat
  • Kulturkampf
  • Parteien
  • Parteien – Konservative
  • Parteien – Zentrum
  • Presse
  • Presse – Die Post
  • Presse – Der Sozialdemokrat
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • 1BArch R 43 Nr. 646 f, fol. 99─101 Rs., mit Eingangsvermerk: pr(äsentiert) 10.11.(18)81; die Unterstreichungen sind vermutlich von der Hand Wilhelm I. »
  • 2Vgl. dazu den Bericht v. Boettichers über seinen Vortrag vom 7.11.1881 (Nr. 2). »
  • 3Gemeint ist das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (sog. Sozialistengesetz) vom 21.10.1878 (RGBl, S. 351).Vgl. dazu den Schluß des von v. Boetticher abgeänderten Entwurfs der Thronrede von Robert Bosse vom 7.11.1881 (Nr. 1 u. Nr. 6, S. 41 ff., Faksimileabdruck): Ich hoffe zu Gott, daß es Mir noch beschieden sein möge, Mich der gedeihlichen Förderung dieser umfassenden gesetzgeberischen Reformarbeit erfreuen zu können (...) und daß mir auch der Wunsch erfüllbar werden wird, meinen Bundesgenossen und dem Reichstag die Wiederaufhebung des repressiven Ausnahmegesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vorschlagen zu können. Bismarck hatte die letzte Satzhälfte zunächst, vor Kenntnisnahme des Handschreibens (wohl am 9.11.1881), im Sinne dieses Gedankens und seiner im Gespräch mit v. Boetticher entwickelten Direktiven positiv abgeändert: (...) daß alle Klassen der Bevölkerung sich die Hand zu neuer, friedlicher und ruhiger Entwicklung reichen, welche die Revision u(nd) schließlich den Verzicht auf die bestehenden repressiven Ausnahmegesetze gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie ermöglichen werde; diese Textstelle wurde dann aber ─ wohl nach der vorstehenden Intervention ─ gestrichen. »
  • 4Verästelungen »
  • 5Gemeint ist der sog. kleine Belagerungszustand nach § 28 des Sozialistengesetzes, der am 28.11.1878 über Berlin und am 27.10.1880 über Hamburg, Altona, Wandsbek und Ottensen verhängt wurde und in Berlin zunächst zur Ausweisung von 67 Sozialdemokraten führte, in Hamburg zu 127 Ausweisungen, von denen 32 bereits den in Berlin Ausgewiesenen galten. Bis 1888 wurden 293 Ausweisungen in Berlin und 311 in Hamburg und Altona vorgenommen (vgl. zu den Einzelheiten: Heinzpeter Thümmler, Sozialistengesetz § 28. Ausweisungen und Ausgewiesene 1878─1890, Berlin 1979). »
  • 6Gemeint ist das Attentat auf Zar Alexander II. vom 13.3.1881 auf der Heimfahrt von einer Parade in St. Petersburg. Der „Sozialdemokrat“ hatte kommentiert: Dieses ‚Attentat‘ heißt für uns nicht die Ermordung, sondern die Hinrichtung Alexanders II. Der Tod des russischen Tyrannen ist für uns zugleich Strafgericht und warnendes Exempel (Nr. 12 vom 20.3.1881). »
  • 7Gemeint sind die Attentate von Max Hödel und Dr. Karl Nobiling auf Wilhelm I. vom 11.5.1878 und 2.6.1878; bei letzterem wurde er durch dreißig Schrotkörner am Kopf, Rücken und beiden Armen ernsthaft, aber nicht lebensgefährlich verletzt (GStA BPH Rep. 57 F III 1 1877─1879). »
  • 8Vgl. dazu Nr. 148 Bd. 1 und Nr. 182 Bd. 5 der I. Abteilung dieser Quellensammlung sowie: Wolfgang Pack, Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878─1890, Düsseldorf 1961. »
  • 9Gemeint ist das von einem Arbeitslosen verübte Attentat auf den amerikanischen Präsidenten James Garfield vom 2.7.1881. »
  • 10Vgl. Anm. 3. »
  • 11Bismarck hielt am 13.11.1881 um 16 Uhr Vortrag bei Wilhelm I. (vgl. GStA Berlin BPH Rep. 113 Nr. 73 [Hoffourierjournal]), bei dieser Gelegenheit dürfte er eine nicht überlieferte Fassung des Entwurfs der Kaiserlichen Botschaft vorgelegt haben. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 3, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0003

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.