Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914

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Abteilung II, 1. Band

[ Druckseite 7 ]

Nr. 2

1881 November 7

Bericht¹ des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher² an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck³

Eigenhändige Ausfertigung

Bericht über Vortrag bei Wilhelm I., dieser ist ─ entgegen der Absicht Bismarcks ─ für Beibehaltung des Sozialistengesetzes

Eurer Durchlaucht beehre ich mich, im Anschluß an mein heutiges Telegramm⁴ gehorsamst zu melden, daß Seine Majestät der Kaiser, allerhöchstwelchem ich heute über die dem Reichstag zu machenden Vorlagen Vortrag gehalten habe,⁵ den Entschluß kundgab, den Reichstag in eigener Person eröffnen zu wollen, sofern dies sein Gesundheitszustand, der mir ein ganz erwünschter erschien, zulasse. Auch damit, daß in der Thronrede neben den bereits fertiggestellten Vorlagen die finanz- und wirtschaftspolitischen Pläne der Regierung als Bestrebungen Seiner Majestät angekündigt werden, war der Kaiser einverstanden. Ein Bedenken äußerte er nur gegen den Ausdruck der Hoffnung, daß man die Repressivmaßregeln gegen die Sozialdemokratie werde verlassen können, wenn die zur Hebung der wirtschaftlichen Lage der arbeitenden Klasse in Aussicht genommenen Einrichtungen ins Leben getreten und von dem beabsichtigten Erfolg begleitet sein würden.⁶ Er meinte, das Sozialistengesetz habe so günstig gewirkt, daß man dasselbe nicht aufgeben sollte, beharrte aber schließlich nicht bei seinem Widerspruch und erklärte, er werde erst die Fassung des Gedankens prüfen, bevor er über seine Aufnahme in die Thronrede Entscheidung treffe.⁷

Den Entwurf der Thronrede denke ich Eurer Durchlaucht morgen vorlegen zu können.

[ Druckseite 8 ]

• ¹Eigenhändige Ausfertigung: BArch R 43 Nr. 1819, fol. 3─3 Rs., mit Kanzleivermerken: pr(äsentiert) 8. November 1881 und: aus Varzin 12/11/81. »
• ²Karl Heinrich von Boetticher (1833─1907), seit 1880 Staatssekretär im Reichsamt des Innern und Stellvertreter des Reichskanzlers. »
• ³Otto Fürst von Bismarck (1815─1898), seit 1871 Reichskanzler, seit 1862 preußischer Ministerpräsident. »
• ⁴Das am 7.11.1881, 15.06 Uhr, aufgegebene Telegramm an Bismarck in Varzin lautete: Majestät wollen, wenn Gesundheitszustand es irgend erlaubt, Reichstag persönlich eröffnen. Entwurf der Thronrede sende ich spätestens morgen abend dorthin ab (BArch R 43 Nr. 1819, fol. 2). Bismarck hatte daraufhin telegraphisch gebeten, die Thronrede morgen nicht mehr herzusenden, da ich übermorgen nach Berlin zu reisen beabsichtige (Entwurf: ebenda; Dechiffrierung: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, R 239, n. fol.). »
• ⁵Dieser erfolgte um 13 Uhr, nach dem Eintrag im Hoffourierjournal war v. Boetticher eine halbe Stunde bei Wilhelm I. (GStA Berlin BPH Rep. 113 Nr. 73, n. fol.). Er hatte mit Schreiben vom 6.11.1881 um Vortrag beim Kaiser gebeten; Wilhelm I. verfügte daraufhin per Randerlaß: Morgen, den 7. um {1/2} 1 Uhr. Auf v. Boettichers Anfrage, ob Wilhelm I. selbst den Reichstag eröffnen wolle, vermerkte dieser am Rande: Wenn meine Gesundheit es gestattet, ja (Ausfertigung: GStA Berlin I. HA Rep. 89 Nr. 210, fol. 250─251 Rs.). »
• ⁶Vgl. dazu den Schlußabsatz des Entwurfs der Erstfassung von Robert Bosse unter Nr. 1. »
• ⁷Vgl. dazu auch das Handschreiben Wilhelm I. an Bismarck vom 9.11.1881 (Nr. 3). »