Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 144

1884 März 3

Bericht1 des Geheimen Regierungsrates Tonio Bödiker an den Direktor im Reichsamt des Innern Robert Bosse

Ausfertigung, Teildruck

[Gesetzlich festgelegte Arbeiterausschüsse bieten den Arbeitern geordnete und sinnvolle Mitwirkungsmöglichkeiten und sind damit eine positive Alternative zu dem “gesetzwidrigen Treiben latent organisierter Arbeiterassoziationen”]

Teil A2

[...]

Teil B Ergänzung der Motive der neuen Vorlage 3

Arbeiterausschüsse.

1. Die frühere Vorlage brachte bereits die Errichtung von Arbeiterausschüssen in Vorschlag, und zwar auch zu dem jetzt am meisten angefochtenen Zweck der Begutachtung von Unfallverhütungsvorschriften. Damals wurde von keiner Seite Widerspruch gegen dieselben erhoben. Wären die Gefahren derselben so handgreif-

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lich und zweifellos, wie man jetzt glauben machen will, so hätte doch schon damals irgendjemand auf diese Gefahren kommen müssen.

2. Wenngleich die Kompetenz der Arbeiterausschüsse eine gewisse Erweiterung gegen die frühere Vorlage erfahren hat, so hält sich dieselbe doch immer noch in bescheidenen Grenzen. Die Überschreitung der letzteren ist leichter zu verhindern als das gesetzwidrige Treiben latent organisierter Arbeiterassoziationen. Der Ausschluß der Vorstände der eingeschriebenen freien Hilfskassen von der Wahl zum Arbeiterausschuß hält die unruhigsten und bedenklichsten Elemente von den Arbeiterausschüssen fern.

3. Derartige latente Organisationen sind doch nicht hintanzuhalten; dieselben gehen fort; in ihnen liegt die Gefahr ─ nicht in den Aufrufen der Arbeiter zur Mithilfe an der Verbesserung ihrer Lage.

4. Die geordnete Mitwirkung der Arbeiter an der Unfallverhütung, an der Untersuchung der Unfälle und der Festsetzung der Entschädigung und das Bewußtsein, durch ihresgleichen in der Reichsaufsichtsinstanz vertreten zu sein, kann nicht anders als wohltätig auf die Beteiligten wirken. Auf diese Weise muß man zum Ausgleich etwa bestehender Gegensätze gelangen, wird der Ausgleich künftiger Differenzen gewissermaßen antizipiert. Vertrauen weckt Vertrauen.

5. Daß dem in der Tat so ist, beweisen die Erfahrungen, die man mit ähnlichen Einrichtungen in engerem Kreise bereits gemacht hat. In Betreff des nur aus Arbeitern bestehenden Ältestenkollegiums zu Kotzenau konstatieren alle Berichte die günstigsten Wirkungen dieser Institution auf das Verhalten der Arbeiter, auf die Stählung ihres Ehr- und Pflichtgefühls, auf die günstige Gestaltung ihres Verhältnisses zu ihren Arbeitgebern und Vorgesetzten. Durch das Altestenkollegium halten die Arbeiter aus freiem Entschluß die Ordnung unter sich aufrecht; Schlichtungsinstanz bei ihren Streitigkeiten unter sich, ist es ein zuverlässiger Berater der Arbeitgeber, der gerade in den schwierigsten Lagen ─ bei notwendigen Lohnreduktionen ─ sich am besten bewährt.

6. Kann somit zugunsten der Arbeiterausschüsse auf gemachte Erfahrungen verwiesen werden, so beruhen die dagegen erhobenen Einwendungen nur auf Vermutungen, die sich freilich bis zur Überzeugung verdichten, dem aber Tatsachen nicht zur Seite stehen. Die verbündeten Regierungen ihrerseits sind ebenfalls überzeugt, und zwar in entgegengesetzter Richtung; sie glauben an den gesetzlichen Sinn der überwiegenden Mehrzahl der deutschen Arbeiter.

7. Den als Ersatz in Vorschlag gebrachten gemischten Ausschüssen vermögen die verbündeten Regierungen sich nicht zuzuwenden. Jene Ausschüsse würden in den Augen der Arbeiter geringen Wert haben, ohne eine Garantie dafür zu bieten, daß nach beendigter Sitzung die Arbeitermitglieder nun nicht erst recht zu einem besonderen Konventikel zusammenträten, dessen oppositionelle Haltung in der Tat mehr als wahrscheinlich wäre.

8. Die Unfallentschädigung auf der einen Seite und die Beteiligung der Arbeiter an selbstverwaltender Tätigkeit auf der anderen Seite sind zwei korrespondierende, in sich zusammenhängende Maßregeln. Hat die eine mehr die wirtschaftliche Seite des Lebens im Auge und die andere mehr die soziale, so dienen sie beide doch nach beiden Seiten hin. Zusammen bilden sie einen weiten Schritt vorwärts auf dem Wege zur Hebung der Lage der Arbeiter.

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9. Daß so wichtige Maßregeln wie die hier in Rede stehende nicht so ganz glatt durchgeführt werden können, verhehlen die verbündeten Regierungen sich nicht. Alle sozialen Werdeprozesse sind unter Druck und Gegendruck verlaufen. Welchen Widerstand fand nicht die Bauernemanzipation? Gegenwärtig handelt es sich darum, dem berechtigten Emporringen des Arbeiterstandes die richtige Bahn zu eröffnen, einen Durchbruch an der verkehrten Stelle zu verhindern und unter möglichster Schonung des Bestehenden für neue Aufgaben eine neue Lösung zu finden. [...] Es folgen Ausführungen zum Verfahren: Rekurs gegen die Entscheidungen der Schiedsgerichte, Reichsversicherungsamt und Landesversicherungämter.

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 15.01 Nr. 389, fol. 143─154 Rs.. »
  • 2Bei dem ─ hier nicht abgedruckten ─ Teil A handelt es sich um Auszüge (von Schreiberhand geschrieben) aus Bödikers Monographie: Die Unfall-Gesetzgebung der europäischen Staaten, Leipzig 1884, S. 18─20, 34, 38─41 (knappe Darstellung der drei Unfallversicherungsvorlagen und systematischer Vergleich), wie am Rande von diesem dazu vermerkt ist. »
  • 3Teil B (fol. 150─154 Rs.) ist von Bödiker handschriftlich angefertigt, beigefügt sind ─ als Anlage A ─ weitere Abänderungsvorschläge zu der Begründung der §§ 34, 37, 39, 40, 42, 44, 45, 49, 52, 55, 58, 62, 63, 69, 71, 72, 73, 75, 78, 79, 80, 83, 92─95, 97, die hier nicht abgedruckt sind (fol. 155─170). Der Bericht erfolgte im Zusammenhang mit der Vorlage des neuen Gesetzentwurfs beim Reichstag am 6.3.84. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 144, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0144

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