Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 130

[1883 November 29]

Mitteilung1 des Geheimen Regierungsrates Karl Gamp über Äußerungen des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck

Druck, Teildruck

[Bericht über die Beratung in Friedrichsruh: Bei der Bildung der Berufsgenossenschaften darf nicht bürokratisch verfahren werden, Arbeiterausschüsse sind hilfreich, das sozialstaatliche Programm soll in die Zukunft stabilisierend wirken]

Bismarck wünschte die Unfallfürsorge zunächst auf die in den Fabriken und ähnlichen Anlagen beschäftigten Arbeiter zu beschränken und begründete diese Ansicht damit, daß, je breiter die Basis, desto größer auch die Angriffsfläche sei. Er wünsche durch diese Beschränkung keineswegs das Ziel an sich kürzer zu stecken, sondern er wolle nur den Weg bequemer gestalten. Je dunkler und unerforschter der Weg, desto vorsichtiger müsse man sein. Würden im Reichstag weitergehende Anträge gestellt, so sei er bereit, denselben zu entsprechen.2

Bei der Frage, ob die Gruben aufgenommen werden sollten, hielt Bismarck es für nötig, ausdrücklich festzustellen, daß Torf-, Kies- und ähnliche Gruben nicht, sondern nur die bergmännisch betriebenen Kohlen- etc. Gruben unter das Gesetz fielen; dem Richter gegenüber müsse man vorsichtig sein; viele derselben nähmen das pereat mundus3 viel zu ernst.

Bismarck wollte jeden Bürokratismus und Schematismus bei der Organisation und Verwaltung der Berufsgenossenschaften ausscheiden. In den Motiven sollte ein ungefährer Umriß in bezug auf die zu bildenden Organisationen gegeben werden; im übrigen sollten die Genossenschaften möglichst frei in bezug auf die Organisation sein. Nur die Leistungsfähigkeit der Berufsgenossenschaften müßte unbedingt gefordert werden. Zehn chemische Fabriken oder Pulverfabriken könnten unter Umständen als durchaus leistungsfähig angesehen werden [...].

[ Druckseite 445 ]

Bismarck vertrat wiederholt und nachdrücklich den Standpunkt, daß sich das Gewicht des Reichskanzlers zu stark entwickelt habe und daß man bemüht sein müsse, dem entgegenzuarbeiten und den Bundesrat mehr in den Vordergrund zu schieben. Nach Bismarcks Ansicht solle das Reichsversicherungsamt in dem Bundesrat durch einen besonderen Ausschuß vertreten sein.4 Bismarck dachte auch an eine Substitutionsbefugnis für die Mitglieder des Bundesrats im Reichsversicherungsamt. Dadurch würde auch die Verantwortlichkeit für die sachgemäße Durchführung des Gesetzes für die Reichsorgane vermindert.

Für die Berufsgenossenschaften müsse die Gleichartigkeit der wirtschaftlichen Interessen maßgebend sein. Nur Organisationen, die auf dieser Gleichartigkeit beruhten, könnten lebensfähig sein; fehle diese Gleichartigkeit, so sei das Band ein lockeres; auch solle man die auf dieser Grundlage bereits gebildeten Organisationen nicht zerschlagen.5 Es müsse aber Fürsorge getroffen werden, daß etwaige Mißgriffe und Irrtümer ohne Mühe korrigiert werden könnten. Eine obligatorische Abstufung der Beiträge nach Gefahrenklassen sei notwendig. Der Reichsbeitrag dürfe prinzipiell und definitiv nicht aufgegeben werden. Frühestens nach zehn bis [ Druckseite 446 ] fünfzehn Jahren würde man übersehen können, ob auf den Reichszuschuß definitiv würde verzichtet werden können. Jeder Tag habe seine eigenen Sorgen, und es sei nicht weise, die Sorgen der Zukunft freiwillig auf die Gegenwart zu übernehmen.

Dem bei dieser Gelegenheit wohl zum ersten Mal eingehend erörterten Gedanken der Errichtung einer Arbeitervertretung stand Bismarck durchaus sympathisch gegenüber und meinte, daß eine solche Arbeitervertretung auch zu der schiedsrichterlichen Tätigkeit herangezogen werden könne. Ein “Syndikat der Arbeiter” sei ein stachliger Kaktus, der von den Gegnern nicht so fest angefaßt werden würde als die “champagnersaufenden Großgrundbesitzer”.

Bei der Unsicherheit der politischen Zukunft sei es seine Aufgabe, ein Programm aufzustellen, das für sich selbst und durch sich selbst wirke. Selbst die törichten Schwätzer müßten durch ein solches Programm gezwungen werden, dasselbe weiter durchzuführen. Er schrecke nicht vor Versammlungen von Tausenden von Arbeitern zurück. Man müsse aber auch den Mut haben, wenn Ausschreitungen vorkämen, denselben kraftvoll und mit Energie entgegenzutreten.6

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Eck, Paul (1822─1889) Direktor im Reichskanzleramt
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Wilhelm I. (1797─1888) Deutscher Kaiser und König von Preußen
  • 1Heinrich von Poschinger, Bismarck und der Bundesrat, Bd. 4, Stuttgart u. Leipzig 1898, S. 307 f. Hierbei handelt es sich um einen späteren, von den Bearbeitern auf den 29.11. 1883 ─ fiktiv! (vor-)datierten Bericht Karl Gamps gegenüber Heinrich von Poschinger. Bismarck dürfte im Verlauf der mehrstündigen Beratung auch ausgeplaudert haben, daß Wilhelm I. nach dem Scheitern der zweiten Unfallversicherungsvorlage zu ihm gesagt hatte: Den Karren ziehen Sie nicht mehr heraus. (Rudolf Bödiker, Tonio Bödiker, Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung II, 1943, S. 236) Tonio Bödiker schrieb am 30.11.1883 ─ seine eigene Rolle überbetonend? ─ aus Friedrichsruh an seine Frau: Die Sache ging vortrefflich. Das Heft habe ich vollkommen in der Hand. Auch Graf Rantzau sagte mir heute, daß der Kanzler meinem Entwurf den Vorzug gegeben habe; er [recte: es?] habe sehr gegen die Unfallsache angesehen [recte: ausgesehen?]. Als er nun die Entwürfe von Gamp und mir erhalten hätte, sei er froh geworden, und so ging denn beim Glase Wein in unserer Conférence à quatre heute vormittag alles vortrefflich ab. (Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, Braunschweig 1951, S. 108 f.) »
  • 2Diese Äußerung wird durch die Aufzeichnung Tonio Bödikers bestätigt (Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, S. 155 Anm. 5). »
  • 3Anspielung auf das geflügelte Wort “fiat justitia pereat mundus”, das auf Ferdinand I. zurückgeht. »
  • 4Soweit sich einer Eingabe Bödikers an das Reichsamt des Innern bzw. v. Boetticher vom 3.3.1892 über Bismarcks Äußerungen während dieser Konferenz entnehmen läßt, äußerte dieser sich folgendermaßen im Hinblick auf das geplante Reichsversicherungsamt: Das Reichsversicherungsamt soll an die Spitze des Ganzen treten (“es soll an die Stelle des Reichskanzlers treten”) ─ es soll gewissermaßen ein Bundesratsausschuß in dasselbe aufgenommen werden, damit dieser gesetzgeberische Körper und durch ihn die Landesregierungen in dem Amte repräsentiert seien. Vertreter der Arbeiter und Arbeitgeber sollen an den Beratungen und Beschlußfassungen teilnehmen, damit die Selbstverwaltung bis in die Spitze geführt werde. Auf diese Weise solle das Reichsversicherungsamt mit seinen eigenartigen und umfassenden Aufgaben so vertrauenswürdig wie möglich gestaltet werden. Es war in der Zeit, als der Reichskanzler gegenüber den vielfachen Angriffen, seine Macht wachse ins Ungemessene, erklärte, “er wolle den Reichskanzler klein machen!”. (BArchP 07.01 Nr. 1656, fol. 208) »
  • 5Über den Verlauf im einzelnen teilte Bödiker am 14.10.1897 aus seiner Aufzeichnung noch mit: Auf möglichst freier Basis, in freier Bewegung sollten die Berufsgenossenschaften gebildet werden. Existenzfähigkeit und gegenseitige Anerkennung der Zusammengehörigkeit seien als die leitenden Gesichtspunkte zu betrachten. “Hütten haben eine andere Sorte von Arbeitern als Bergwerke, die beiderseitigen Arbeiter begrüßen sich nicht als Berufsgenossen,” sagte er. “Die Genossenschaften sind möglichst homogen zusammenzusetzen, sonst wird das Band lockerer und die Institution für weitere Zwecke unfähiger; ich bin für viele selbständige Genossenschaften. Eine gesetzliche Festlegung der Gruppen empfiehlt sich nicht, weil wir der Führung der Erfahrung folgen müssen; Sachkunde und Wunsch müssen entscheiden. Der Bundesrat muß die Wünsche möglichst respektieren, vorhandene Gebilde nicht zerschlagen. Nicht die Gruppierung im Reichstag mit deutscher Gründlichkeit diskutieren lassen; diesen Flammennährer der Diskussion nicht zuführen.” (Heinrich von Poschinger, Bismarck und der Bundesrat, Bd. 4, S. 309 und Johannes Penzler, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung, 7. Bd., Leipzig 1898, S. 409) Über Bismarcks politische Pläne mit den Berufsgenossenschaften notierte Bödiker noch: Es schien mir, als ob er sie gar zur Basis der Wahlen für den Reichstag machen wollte. (Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, S. 158) Im übrigen dürfte auch der Immediatbericht vom 6.12.1883 faktisch eine “Punktation” der erzielten bzw. festgestellten Besprechungsergebnisse sein. »
  • 6Tonio Bödiker notierte hier als Äußerung Bismarcks: Wenn (seitens des Bürgertums) gar nichts (im Hinblick auf eine positive Arbeiterpolitik) geschieht, so bin ich gegen die Verlängerung des Sozialistengesetzes. Dann mag die Flamme (der Revolution) sie (die Bürger) fühlen lassen. “Eine starke Regierung, die im Moment der Entscheidung Feuer zu geben gewillt sei, brauche selbst direkte Arbeiterwahlen nicht zu fürchten.” (Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, S. 160) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 130, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0130

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