Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 29

1881 Dezember 15

Norddeutsche Allgemeine Zeitung1 Nr. 584, Morgenausgabe

Teildruck

[Kritik der liberalen Vorschläge zur Haftpflichtrevision]

Bezüglich des bekanntlich von den liberalen Parteien geplanten erweiterten Haftpflichtgesetzes wandert ein Leitartikel des “Berliner Tageblattes”2 durch viele ─ selbst ─ Fachblätter, welcher an Schwulstigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Es soll uns einmal jemand sagen, nachdem er dieses Elaborat gelesen, wie das Gesetz etwa aussehen wird! Dies zu ergründen ist indessen um so interessanter, als in der Tat das Projekt nicht nur eine Erweiterung, sondern gerade wie das staatliche Projekt eine vollständige Umwandlung des gesamten Unfallversicherungswesens involviert.

Hauptgrundgedanke ist der Versicherungszwang. Jeder Arbeitgeber wird gezwungen, seine Arbeitnehmer zu versichern, und zwar ohne jeden Beitrag ihrerseits und unter Ausdehnung der Versicherungspflicht auch auf die Transport-, Bauund landwirtschaftlichen Gewerbe. Damit aber nicht genug. Der Arbeitgeber hat außerdem und überdies die Beweislast für eventuelle Verschuldung des Arbeitnehmers auf sich zu nehmen, von dem eventuell geführten Beweise aber nur den Vorteil, daß der Verunglückte nur einen Teil der vollen Entschädigung erhält.

Die volle Entschädigung hat der Arbeitgeber nämlich zu zahlen, wenn der Beweis, daß der Arbeitnehmer oder höhere Gewalt die Schuld tragen, mißglückt. Zwei Drittel dieser vollen Entschädigung erhält der Arbeitnehmer, wenn dem Arbeitgeber der Beweis gelungen, daß höhere Gewalt oder Zufall die Schuld tragen, und 1/3 der vollen Entschädigung erhält er, wenn ihm bewiesen ist, daß er selbst und allein die Schuld trägt. Wie hoch sich diese “volle Entschädigungen” für den Fall des Todes, der Invalidität oder der vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit belaufen wird, ist noch nicht definitiv festgestellt; man kann aber nach Vorstehendem erwarten, daß der Arbeitnehmer etwas Erkleckliches wenigstens erhalten soll! Daß jegliche Karenzzeit verpönt, ergibt sich bei vorentwickelten Prinzipien ganz von selbst.

Das ist in wenigen Worten des Pudels Kern, und man sieht auf den ersten Blick, daß die liberalen Parteien haben zeigen wollen, daß sie imstande sind, für den armen Mann tatsächlich etwas zu leisten, daß sie imstande sind, die sozialen Schäden [ Druckseite 115 ] der Gesetzgebung zu bessern und den Anforderungen der arbeitenden Klassen gerecht zu werden.

Bei diesem Streben aber haben sie unzweifelhaft über das Ziel hinausgeschossen.

Der Rechtsgrundsatz, daß der Arbeitnehmer durch seine Arbeit selbst sich den Anspruch erwerbe, von seinem Arbeitgeber mit Weib und Kind durch lange Jahre erhalten zu werden, auch wenn er durch eigene Unvorsichtigkeit verunglückt, ist in seinen Konsequenzen einfach undurchführbar. Man muß dann doch jedem Arbeitnehmer dieses Recht zuerkennen und nicht nur denen des vierten Standes. Selbst moralische Rechte lassen sich in unserer Zeit hierauf nicht mehr begründen, wenigstens nur in Spezialfällen. Wenn jemand 20 Jahre seine Kräfte einem Unternehmen geweiht, so mag er auch für den Fall eigener Schuld ein moralisches Recht auf Hilfe seitens des Arbeitgebers erworben haben, wie aber soll letzterer dazu kommen, dieselbe Unterstützung dem gestern Eingetretenen angedeihen zu lassen. Die Väter dieses Gesetzentwurfes behaupten, sich vom sozialistischen Boden gänzlich ferngehalten zu haben. ─ Die Anerkennung der Berechtigung jedes Arbeitnehmers ohne Unterschied auf Unterstützung auch im Fall eigener Schuld ist nichts als der sozialdemokratische Grundsatz vom “Recht des Arbeiters auf einen Anteil am Erfolg, am Gewinn der Arbeit”. ─ Es ist einleuchtend, daß, wenn dieser Gesetzentwurf zum wirklichen Gesetz würde, der Industrie eine Last auferlegt werden würde, die sie dauernd zu tragen nicht imstande wäre. Schon heute hat derjenige Industrielle, welcher seine Arbeitnehmer gegen alle Unfälle versichert, eine recht ansehnliche Versicherungssumme zu zahlen, und dabei empfangt durchschnittlich der Arbeiter, wenn der Unfall nicht haftpflichtig ─ und nicht haftpflichtig sind immerhin noch 80 % aller vorkommenden Unfälle ─ den zwölften Teil dessen, was ihm im Fall haftpflichtigen Unfalls zu leisten ist. Man kann sich nun leicht ausrechnen, wievielmal mehr der Industrielle durchschnittlich zu zahlen haben wird unter Wirksamkeit obiger Vorschriften, wobei wir immer noch annehmen, nicht etwa wollen ─ sondern müssen, daß die im Entwurf vorgesehene “volle Entschädigung” sich in maximo auf höchstens die Hälfte, ja vielleicht nur 1/3 des Betrages stellen werde, welchen der Arbeitnehmer heute bei haftpflichtigen Unfällen seinem Einkommen nach zu beanspruchen hat. Denn andernfalls würde sich von Erschwingung der Last durch den Arbeitgeber überhaupt nicht reden lassen. Es erhellt also auch hieraus schon, daß zugunsten der Entschädigung in jedem Falle, auch in demjenigen eigener Verschuldung, die als Norm dienende “volle Entschädigung” einigermaßen geringer wird ausfallen müssen als gewünscht und resp. verlangt wird. Wie bei Aufstellung dieser Grundgedanken scheint man auch bei Ausführung dieser Ideen einigermaßen rigorose Bestimmungen nicht vermeiden zu können.

Die Ausführung der Zwangsversicherung denkt sich der Entwurf unter Verwerfung jeder Reichs- oder Staatskasse durch Genossenschaften, in welche die Arbeitgeber zusammentreten, und welche sich an die Privatversicherung anlehnen können, wie dies ─ bisher den gesetzlichen Bestimmungen zuwider ─ in einzelnen Orten, wie Luckenwalde z. B., bereits geschehen. Diese Idee ist gut, wenn auch vom Standpunkte des einzelnen Arbeitgebers manches gegen sie gesagt zu werden vermag, insoweit sie Bürgschaft gewährt. Und wie die Grundprinzipien des Entwurfes von dem Gedanken ausgehen, daß dem Arbeitnehmer nicht genug gegeben werden [ Druckseite 116 ] könne, um seine “gerechten” Ansprüche zu befriedigen, so ist in den Ausführungsbestimmungen diese Rücksicht auf Bürgschaft ─ daß er befriedigt werde, und daß dies auch quam celerrime geschehe ─ wiederum in so hohem Grade vorherrschend, daß alle anderen Interessen völlig in den Hintergrund gedrängt werden.

Alles in allem haben wir die feste Überzeugung, daß der qu[estio] Gesetzentwurf niemals Gesetz werden wird; am meisten Undank aber werden die Schöpfer des Entwurfes in den Arbeiterkreisen selbst ernten, denn man wird in ihnen denselben und zwar deshalb perhorreszieren, weil die Arbeitnehmer sofort annehmen werden, daß im Grunde genommen sie selbst die Last werden tragen müssen, während es nach außen den Schein gewinnt, als trage sie der Arbeitgeber allein. Eine so große Last, wie sie dieser Entwurf der Industrie aufbürdet, muß eine Reduktion der Löhne von selbst herbeiführen, und es wird also, falls sie zum Gesetz wird, der Kampf um diese Reduktion in Permanenz erklärt. Dies wollen aber unsere Arbeitnehmer durchaus nicht.

Registerinformationen

Personen

  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Wagner, Prof. Dr. Adolph (1835─1917) Nationalökonom, Mitbegründer der christlich-sozialen Partei
  • 1Die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung, das “Kanzlerblatt”, war 1861 gegründet worden, Chefredakteur war Dr. Emil Friedrich Pindter. »
  • 2Vgl. Nr. 28. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 29, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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