II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 184

1884 Juli 1

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Schuldirektor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Kritik an dem verabschiedeten Unfallversicherungsgesetz, an der Rolle seiner Vorgesetzten und Kollegen dabei sowie der Nationalliberalen: “eine Frucht des meisterhaften Schachspiels des Fürsten”, die den Interessen der Großindustrie dient; das Umlageverfahren verhindert eine Verbesserung des Gesetzes]

Wochenlang habe ich mich im stillen mit dem Gefühle herumgetragen, daß es doch eigentlich unerhört sei, wie lange wir direkt nichts von einander gehört, ohne indessen Dir dabei die Schuld beizumessen. Ich habe bis vor kurzem weniger Ruhe gehabt, als ich nach dem Ausscheiden aus dem “Unfalle” zu finden erwartete. Die Ausführung des Krankenversicherungsgesetzes hat mir ziemlich viel Arbeit gemacht. [...]

Daß ich mein Ausscheiden aus dem Unfall, und damit wohl aus der sozialpolitischen Gesetzgebung überhaupt, jemals bereut hätte, kann ich nicht sagen. Nicht, daß es mir nicht leid täte, aus diesem Gebiete haben ausscheiden zu müssen, und daß es mir nicht manches Mal schwer würde, nicht mehr hineinreden zu können; aber wenn ich jetzt noch einmal vor dieselbe Situation gestellt würde, selbst mit der Modifikation, daß ich die ganze jämmerliche Konnivenz der entscheidenden Parteien des Reichstags so klar vor Augen sähe, wie sie sich jetzt erwiesen hat, so würde ich noch genau ebenso handeln. Ich hätte mich innerlich moralisch ruiniert und wahrscheinlich auch äußerlich blamiert, wenn ich ein solches Machwerk, wie den vorliegenden Gesetzentwurf gegen meine innerste Überzeugung hätte verteidigen müssen. Dazu gehört eben der Leichtsinn eines Herrn von Boetticher, die Schwäche eines Bosse, die phantastische Unklarheit eines Gamp und das vor keiner moralischen Niederlage zurückschreckende Strebertum eines Bödiker.3 Daß der Gesetzentwurf in der Kommission überhaupt hat angenommen werden können, ist lediglich eine Frucht des meisterhaften Schachspiels des Fürsten. Sehr günstig war schon das allgemeine Gefühl, man könne doch unmöglich zum dritten Male unverrichteter Sache nach Hause gehen, aber dennoch wären die Verhandlungen schwerlich [ Druckseite 633 ] zu diesem Ergebnis gekommen, wenn der Fürst nicht durch sein Kokettieren mit den Nationalliberalen die konservativen Parteien und das Zentrum vor die Notwendigkeit gestellt hätte, die Sache um jeden Preis fertigzumachen und damit zu zeigen, daß sie die Leute seien, mit denen man die soziale Reform fertigmachen könne. Sie haben sich die Anträge zur zweiten Lesung einfach von der Regierung diktieren lassen4, und die armen Nationalliberalen durften doch nun in dem Augenblicke, wo Bismarck so schön mit ihnen tat, auch nicht nein sagen, und mußten trotz allen Krümmens und Windens unter das kaudinische Joch5 hindurchgehen.6

Noch niemals ist ein organisatorischer Gesetzentwurf im Reichstage angenommen, der so grob allen Prinzipien aller Parteien bis zur Konservativen hinauf ins Gesicht schlüge, der so alles und jedes in die unbeschränkte Willkür der Regierung legte. Die Bildung der Genossenschaften wird nach dem Entwurf ein reines Zusammenkneten aus dem Urbrei, ohne daß das Gesetz auch nur einen Rahmen gäbe. Alles was in dieser Beziehung von Freiwilligkeit und Selbstverwaltung im Entwurf steht, ist wesenlose Dekoration. Höchstens ein Mittel, um die Mittel- und Kleinindustrie von der Großindustrie7 vollständig unterbuttern zu lassen. Die Selbstverwaltung der Genossenschaften nach der Organisation wird im wesentlichen der organisierte Interessenkampf werden, bei welchem auch immer die Kleinen die Zeche bezahlen, und das Reichsversicherungsamt (bzw. die Landesversicherungsämter) die Peitsche schwingen wird. Neugierig bin ich, was der Fürst für Augen machen wird, wenn ihm die Organisation in ihrer konkreten Gestalt vor Augen treten wird. Das Zerrbild von dem, was er sich ausgemalt hat. Bei alledem könnte man auch diesen Versuch gutheißen in der Erwägung: “auf irgendeine Weise muß mal ein praktischer Anfang gemacht werden; geht es nicht, so bessert man nachher” ─ wenn man sich nur nicht durch das Umlageverfahren “die Möglichkeit der Besserung” selbst abschnitte. Dieses Verfahren bedeutet nämlich, daß sämtliche Genossenschaften, welche man bildet, sobald sie in Wirksamkeit treten, Schulden kontrahieren, welche mit jedem Jahre ihres Bestehens wachsen und die Wiederbeseitigung der einmal existierenden Genossenschaften unmöglich machen, wenn man nicht ungezählte Millionen Schulden (nach 4 Jahren schon etwa 50 Millionen)8 auf das Reich übernehmen will. Dagegen hilft auch der schwächliche Reservefonds so gut wie gar nicht.9 Genug davon! [...]

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Registerinformationen

Personen

  • Marschall von Bieberstein, Adolf Hermann Freiherr (1842─1912) Jurist, badischer Gesandter in Berlin
  • Vollmar, Georg von (1850─1922) bayer. Offizier a.D. und Redakteur, MdR (Sozialdemokrat)
  • Wilhelm I. (1797─1888) Deutscher Kaiser und König von Preußen
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 185─188 Rs. »
  • 2Ausgelassen sind Ausführungen über das Krankenversicherungsgesetz sowie Kirchenund Familienangelegenheiten. »
  • 3Persönlicher Ehrgeiz und Strebertum des Hannoveraners Tonio Bödikers ergeben sich auch aus den Akten, vgl. insbesondere Nr. 78 Anm. 4 und Nr. 117: diese Auffassung wird bestätigt durch Adolf Wermuth, der von dem “jüngeren, höchst ehrgeizigen” Tonio Bödiker spricht (Ein Beamtenleben, Berlin 1922, S. 47). Man muß allerdings auch sehen, daß dem “Industriefreund” (Kontaktperson des Zentralverbandes bzw. George F. Beutner zum Reichsamt des Innern) und Katholik Tonio Bödiker angesichts des betonten lutherischen Konfessionalismus von Bosse und Lohmann von vornherein eine gewisse Außenseiterrolle zukam. »
  • 4Vgl. Nr. 175 und 176, danach wäre präziser: durch v. Boetticher nahelegen und durch Bosse u. Bödiker vorschreiben lassen. »
  • 5Joch, durch das die bei Caudium geschlagenen Römer schreiten mußten, im Sinne von schimpflicher Demütigung zu verstehen. »
  • 6Vgl. dazu auch die Analyse des badischen Gesandten Marschall von Bieberstein (Nr. 180). »
  • 7Vgl. hierzu die Rede des Abgedordneten Georg v. Vollmar im Reichstag (Sitzung vom 13.3.1884, Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 1, S. 35 ff.) und Nr. 176 Anm. 2. »
  • 8Vgl. Nr. 147. »
  • 9Vgl. zu dessen strittiger Ausgestaltung Nr. 179 und Nr. 180. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 184, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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