II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 182

1884 Juni 6

Gewerkverein Nr. 23 (Beilage) Berufsgenossenschaften und Umlageverfahren in der deutschen Unfallversicherung1

Teildruck

[Die öffentlich-rechtliche Zwangsorganisation der Berufsgenossenschaften und das Umlageverfahren sind sachlich nicht gerechtfertigt, sie dienen nur dazu, im politischen Interesse Bismarcks eine Ständeordnung im Deutschen Reich einzuführen]

So wichtig die Fragen über den Kreis der Versicherten, über das Maß der Entschädigungen und über die Heranziehung der Arbeiter zu den Beiträgen der Unfallversicherung auch sind, die Entscheidung liegt nicht in ihnen, sondern in der Organisationsfrage. An der zentralisierten Reichsversicherungsanstalt war der erste, an dem komplizierten Apparat von Gefahrenklassen, Betriebsgenossenschaften und Betriebsverbänden war der zweite Regierungsentwurf gescheitert. An ihre Stelle setzt der dritte gegenwärtige Entwurf Verbände gleichartiger Industriezweige, die sich in der Regel über das ganze Reich erstrecken, die Berufsgenossenschaften. Die mechanischen Gefahrenklassen stehen nicht mehr über den organischen Interessenverbänden, sondern werden innerhalb derselben gebildet. Stellt man sich auf den Boden der Zwangsorganisation, so verdient dieser Plan als der verhältnismäßig einfachste und natürlichste entschieden den Vorzug.

Aber ist denn die Zwangsversicherung überhaupt notwendig und heilsam? Genügt zur Erreichung des wahren Zweckes, den durch Betriebsunfälle geschädigten Arbeitern sichern Schadenersatz zu verbürgen, nicht der allgemeine Versicherungszwang, in dessen Anerkennung seit Jahren sich alle Parteien vereinigt? Ja, muß nicht die Durchführung des Versicherungszwanges nur dann als verhältnismäßig leicht und als unbedenklich für die freie und friedliche Entwicklung aller Klassen betrachtet werden, wenn dieselbe auf den erprobten Wegen der Privatversicherung statt durch den Sprung ins Dunkle2 der korporativen Organisation erfolgt? Und [ Druckseite 626 ] wäre es endlich nicht auch im wahren Sinne konservativer, das Bestehende in Gesetzgebung und Leben reformierend zu erhalten als umstürzend etwas ganz Neues und Künstliches an die Stelle zu setzen? Auf ersterem Boden hätte sich unzweifelhaft eine Vereinigung aller Parteien erzielen lassen, wenn man nur den “Schutz der wirtschaftlich Schwachen”, die möglichst vollkommene Gestaltung der Unfallfürsorge bezweckte.

Allein darin besteht ja die große Kunst des Fürsten Bismarck, daß er allgemeine Zeitideen und Zeitbedürfnisse energisch erfaßt, um mit ihrer Hilfe ganz fremdartige Partei- und Machtpläne durchzusetzen. So verwertete er die Entrüstung über die Attentate auf das Leben des Kaisers und die wirtschaftliche Kalamität zur Verstärkung der konservativen Partei, zur Erhöhung der Reichseinnahmen durch indirekte Steuern, zur Verstaatlichung der Eisenbahnen, kurz zur hochgradigen Steigerung der Regierungsgewalt. Und so soll die Unfallentschädigung, deren Notwendigkeit jeder anerkennt, gleichsam die Brücke bilden zur Feudalisierung des gesamten Versicherungswesens, ja noch mehr, zur ständischen Gliederung der wirtschaftlichen Gesellschaft und des Staates. Diese Endziele muß man stets im Auge haben, um die Sozialpolitik des großen Diplomaten zu würdigen; aber auch die Kurzsichtigkeit und Schwäche der Nationalliberalen, welche solche weltwendende Organisationsfragen mit Bennigsen als “Einzelheiten” akzeptieren ─ die Totengräber ihres eigenen Grundprinzips!

In den amtlichen Motiven und Verhandlungen tritt die Regierung natürlich nicht mit ihrer eigentlichen Tendenz hervor, sondern kämpft hauptsächlich mit Zweckmäßigkeitsgründen gegen die Zulässigkeit der Privatversicherung. Das Schwergewicht lag dabei fortdauernd auf der Behauptung, daß die Versicherungsgesellschaften sich tatsächlich durch schikanöse Prozeßsucht, Unkulanz und kostspielige Verwaltung unfähig und unwürdig der großen Aufgabe gezeigt hätten. Von der Linken wurde wiederholt und wohl mit vollem Rechte verlangt, diese Anklagen, auf welche man das Todesurteil gegen eine große Zahl gesetzlich anerkannter Gesellschaften und Genossenschaften, welche Tausende fleißiger Beamten und Agenten beschäftigen, basiert, durch Tatsachen zu beweisen; an Zeit und Mitteln zur Beschaffung zuverlässigen Materials habe es doch den Regierungen nicht gefehlt. Aber alles, was die großen und kleinen Kommissäre vorbrachten, bestand in einigen Beschwerden von Fabrikinspektoren, welchen ziemlich ebensoviel Anerkennungen seitens ihrer Kollegen gegenüberstanden, und in ein paar Auszügen aus Jahresberichten der Gesellschaften selbst, welche sich zum Teile als mißverstanden herausstellten.

Allgemein war der Eindruck in den Sitzungen der Kommission, daß wohl noch nie auf so unsicheres und dürftiges Material die Verdammung bestehender Einrichtungen begründet worden sei. Und selbst zugegeben, was ja niemand in Abrede stellt, daß ein Teil der Privatgesellschaften den verletzten Arbeitern und ihren Hinterbliebenen die Erlangung des Schadenersatzes durch langwierige Prozesse arg erschwert hat ─ sind denn die Staatsbetriebe, die Staatseisenbahnen voran, nicht ebenso, ja noch härter verfahren? Und hat denn nicht die Reichsregierung selbst mit allem Nachdrucke verkündet, daß das schlechte Haftpflichtgesetz mit seinem Schuldbeweise die Quelle all der Prozesse und Schikanen sei, daß man gerade deshalb den schlüpfrigen Boden der Haftpflicht mit dem festen Grunde der Unfallversicherung vertauschen müsse? Und trotzdem bewies die Linke durch die wirklichen [ Druckseite 627 ] Ergebnisse der Jahresberichte, wie durch das Zeugnis von Hunderten der angesehensten Industriellen, daß besonders die Privatgegenseitigkeitsgesellschaften, die große Leipziger Unfalllversicherungsbank voran, ungeachtet des schlechten Haftpflichtgesetzes die überwiegende Mehrzahl der Entschädigungsansprüche ohne Prozeß anerkannt und schlank befriedigt haben. Wie könne man also behaupten, daß diese Gesellschaften unter der neuen, einfachen und klaren Entschädigungspflicht nicht mindestens ebenso redlich und kulant verfahren werden wie die Zwangsgenossenschaften, die doch weit mehr an den Buchstaben und die Schablone gebunden sein würden? Angesichts dieser Gegenseitigkeitsgesellschaften, die jedem ordentlichen Unternehmer offenstehen und nur das nötige Erfordernis für die Entschädigungen und billige genossenschaftliche Verwaltung beanspruchen, sei es geradezu frivol, die ganze Privatversicherung mit der Phrase zu beseitigen, man dürfe aus der gesetzlichen Unfallversicherung kein Monopol für Dividendenjäger machen.

Das Monopol ist nur bei den Zwangsgenossenschaften, denen die Unternehmer wie Herden “zugeteilt” werden und denen sie sich selbst bei den schwersten Lasten und Mißbräuchen nimmer entziehen können. Hier brauchten die freisinnigen Redner nur die gegenseitigen Kritiken der Zwangsmänner selbst zusammenzustellen, um das höchst Bedenkliche des ganzen Systems klarzumachen. Den Reichsberufsgenossenschaften der Vorlage warf das Zentrum Schwerfälligkeit, Mangel an genossenschaftlichem Geist und Wesen, Überfluß an bürokratischer Bevormundung vor. Die Regierung und die Konservativen ihrerseits behaupteten von den territorialen Berufsgenossenschaften v. Hertlings, daß sie die natürliche Gemeinschaft der Industriezweige im ganzen Reiche zerreißen, Überbürdung und Leistungsunfähigkeit herbeiführen und darum erst recht der bürokratischen Einmischung verfallen würden. Am schlimmsten fuhren aber die Nationalliberalen mit ihrem üblichen Versuche, unversöhnliche Gegensätze zu vermitteln. Sie sollten den Unternehmern anheimstellen, sich bei Privatanstalten zu versichern, um daraus von den Zwangsgenossenschaften befreit zu sein. Die Regierung aber erklärte diesen Vorschlag für unannehmbar, da alsdann nur der schlechteste Teil der Risiken für ihre Genossenschaften übrigbleiben, mindestens aber der Bestand derselben großem und plötzlichem Wechsel ausgesetzt sein würde. So war denn der Schluß, daß trotz der unwiderlegten Gründe der Linken Zentrum und Rechte ─ letztere um nur die Zwangsorganisation zu bekommen ─ den schlechten Hertlingschen Antrag, die Berufsgenossenschaften für bestimmte Bezirke zu bilden, mit 14 gegen die 12 liberalen Stimmen zur Annahme brachten.

Ein verhängnisvoller Beschluß! Das erwies schon die unmittelbare Konsequenz: die Annahme des Umlageverfahrens. Wäre die Entscheidung für die Privatversicherung ausgefallen, niemand hätte daran gedacht, ein solches Verfahren auch nur für diskutierbar zu halten. In krassem Widerspruche mit allen Grundsätzen der Assekuranz, ja der Gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, wälzt das Umlagesystem die Schuld und den Schaden der Gegenwart auf die Zukunft, entlastet den nachlässigen oder gewissenlosen Arbeitgeber auf Kosten der vorsorglichen, bevorzugt den jetzt prosperierenden Unternehmer zuungunsten des künftigen Anfängers, bringt lawinenartig wachsende Ausgaben statt Amortisation und setzt alles in allem anstelle der individuellen und zeitlichen Verantwortlichkeit, welche zur möglichsten Verhütung der Unfälle führt, den verderblichsten Kommunismus nicht nur der Individuen, [ Druckseite 628 ] sondern der Generationen. In solchem Sinne hatte die Reichsregierung selbst durch ihren hervorragendsten Sachverständigen, Geheimen Rat Lohmann, noch vor kurzem das Umlageverfahren entrüstet von sich gewiesen. Jetzt führten die Liberalen zur Verstärkung dieser Ansicht die beredtesten, unwiderleglichsten Zahlenreihen vor ─ sie predigten Ohren, die für alles andere taub waren als für die Begehrlichkeit einer mächtigen Phalanx von Großindustriellen.

So abschüssig ist die Bahn des Staatssozialismus, daß selbst die Bremse der wirtschaftlichen Solidität das Hinabrollen nicht mehr aufhält. Zur Not war es in der ersten Lesung gelungen, die Berufsgenossenschaft wenigstens zur Ansammlung eines überaus mäßigen Reservefonds zu verpflichten. Aber selbst diese geringe Garantie ging den Herren vom Zentralverein noch zu weit; die Kompromißanträge des Zentrums, der Rechten und der Regierung für die zweite Lesung in der Kommission, deren Annahme zweifellos ist, setzen den obligatorischen Reservefonds um mehr als die Hälfte herab. Wie wenig auch der österreichische Regierungsentwurf3 dem wahrhaft liberalen Standpunkte entspricht, zu seinem Ruhme muß es anerkannt werden, daß derselbe dem allein soliden Kapitaldeckungsverfahren treu geblieben ist. Für das deutsche Gesetz aber, wie es durch die klerikal-konservativ-gouvernementale Abkartung sich gestalten wird, mit der ausschließlichen Zwangsorganisation, dem Umlageverfahren, dem kläglichen Reservefonds und der wiederhergestellten dreizehnwöchentlichen Karenzzeit zu Lasten der Arbeiter, gibt es wirtschaftlich und sozial, zum Schmerze jedes Patrioten, nur eine Devise: Après nous le déluge!4

Registerinformationen

Personen

  • Bebel, August (1840─1913) Drechslermeister, sozialdemokratischer Parteiführer, MdR
  • Bennigsen, Dr. Rudolf von (1824─1902) Landesdirektor der Provinz Hannover, MdR (nationalliberal)
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1Verfasser des Artikels ist Dr. Max Hirsch, der ihn zuerst in der (Wiener) Neuen freien Presse v. 30.5.1884 veröffentlichte. Am Rand eines Ausschnitts dieses Artikels bemerkte Tonio Bödiker: Der in einem jüdischen ausländischen Blatt veröffentlichte Artikel des Dr. Max Hirsch leistet das Äußerste an Illoyalität und Unbefangenheit gegenüber patriotischer Gesinnung. M(eo) v(oto) ist Hirsch dadurch so tief gesunken, daß er es verwirkt hat, daß man im Reichstage sich mit diesem unqualifizierten Vorgehen beschäftige. (BArchP 15.01 Nr. 416, fol. 107) »
  • 2Dieses historische Schlagwort (vgl. die Einleitung) erscheint hier erstmals im Kontext der Arbeiterversicherung. »
  • 3Vgl. dazu Herbert Hofmeister, Landesbericht Österreich, in: Ein Jahrhundert Sozialversicherung, hg. v. Peter A. Köhler und Hans F. Zacher, Berlin 1981, S. 533 ff; Abdruck des Entwurfs bei Tonio Bödiker, Die Unfall-Gesetzgebung der europäischen Staaten, Leipzig, 1884, S. 44 ff. »
  • 4Geflügeltes Wort, das auf die Marquise von Pompadour zurückgeführt wird. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 182, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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