II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 181

1884 Mai 31

Eingabe1 des Direktoriums des Zentralverbandes deutscher Industrieller an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Ausfertigung, Teildruck

[Grundsätzliche Zustimmung zur dritten Unfallversicherungsvorlage, aber massive Kritik an der Beitragsfreiheit für Arbeiter, Wegfall des Reichszuschusses sowie an der Bildung von Arbeiterausschüssen und Rechten für Arbeiter im Genossenschaftsvorstand]

Euer Durchlaucht wollen gestatten, daß das in Ehrerbietung unterzeichnete Direktorium des Zentralverbandes deutscher Industrieller in Erledigung des ihm in der Generalversammlung dieses Verbandes vom 14. dieses Monats gegebenen Auf trags in der Anlage den Wortlaut der in dieser Generalversammlung2 gefaßten Beschlüsse, die Unfallversicherungsgesetzgebung betreffend, überreiche.

Diese Beschlüsse wurden von der von etwa 400 Teilnehmern besuchten Versammlung zu Punkt 2, 3, 7 und 10 mit Einstimmigkeit, zu den übrigen Punkten mit einer Einstimmigkeit nahekommenden Majorität angenommen.

Die Einreichung eines stenographischen Berichts der Verhandlungen bleibt in Ehrerbietung vorbehalten.

Euer Durchlaucht wollen diesen Beschlüssen hochgeneigtest entnehmen, daß die deutsche Industrie mit Euer Durchlaucht das Zustandekommen des Unfallversicherungsgesetzes in der laufenden Reichstagssession wünscht und zur Übernahme dauernder [ Druckseite 624 ] finanzieller Lasten zum Behufe der Durchführung der Unfallversicherung bereit ist.

Der Zentralverband deutscher Industrieller befindet sich in vollständigster Übereinstimmung mit der Auffassung der Reichsregierung in bezug auf

1. den geplanten Aufbau der Unfallversicherung auf die Grundlage der für abgegrenzte Bezirke zu bildenden Berufsgenossenschaften; in bezug auf

2. die Aufbringung der den Verletzten bzw. deren Hinterbliebenen zukommenden Renten im Wege des Umlageverfahrens

und in bezug auf

3. das Festhalten an der dreizehnwöchigen Karenzzeit.

Die zu Punkt 2 von Euer Durchlaucht selbst in die Sitzung des Reichstags vom 12. März dieses Jahres abgegebene bestimmteste Erklärung hat ebenso wie die in der Generalversammlung des Zentralverbandes vom 14. Mai dieses Jahres durch Seine Exzellenz den Herrn Staatsminister von Boetticher kundgegebene Versicherung, daß die Reichsregierung am Umlageverfahren und an der dreizehnwöchigen Karenzzeit festhalten wolle, wesentliche Bedenken betreffs der Möglichkeit einer ersprießlichen Durchführung der Unfallversicherungsgesetzgebung beseitigt und darf das in Ehrerbietung unterzeichnete Direktorium daher darauf verzichten, Euer Durchlaucht die Gründe zum Vortrag zu bringen, welche die Einführung des Deckungsverfahrens als unwirtschaftlich und gefährlich, die Abkürzung der Karenzzeit aber als den Anforderungen einer vernunftgemäßen Handhabung der Fürsorgepflicht für Kranke und Verletzte widersprechend bezeichnen.

Der Zentralverband hat in betreff

4. eines Beitrags der Arbeiter und

5. eines Beitrags des Reichs zu den Kosten der Unfallversicherung seine Überzeugung auch in der am 14. Mai dieses Jahres abgehaltenen Generalversammlung erneut dahin ausgesprochen, wenn ein solcher Beitrag der Arbeiter sowohl wie des Reichs dem Recht und der Billigkeit entsprechen würde.

Im Ausdruck dieser Überzeugung dürfte der Zentralverband im Hinblick auf Motive der Unfallversicherungsgesetzvorlage vom Jahre 1881 sich der Zustimmung Euer Durchlaucht versichert halten.

Auf der anderen Seite aber kennt das in Ehrerbietung unterzeichnete Direktorium die Stimmung der im Zentralverbande vertretenen Industrie hinreichend, um hiermit die Versicherung aussprechen zu können, daß auch in dem nach Lage der Verhältnisse zu gewärtigenden Falle der Auferlegung der aus der Unfallversicherung entstehenden Lasten ausschließlich auf die Betriebsunternehmer das Einverständnis der letzteren mit einem Abschluß der Unfallversicherungsgesetzgebung auf der im neuesten Entwurf betretenen Grundlage bestehen bleibt.

Wenn vor der Frage, ob es zweckmäßig und billig sei, daß grobes Verschulden des Verletzten bzw. selbst vorsätzliche Herbeiführung des Unfalls dem Verletzten bzw. den Hinterbliebenen desselben das gleiche Anrecht auf die Benefizien des Gesetzes gewähre wie unverschuldetes Unglück, abgesehen wird: so erübrigen als wesentliche Differenzpunkte in den Grundlagen des Gesetzentwurfs und den Ansichten des Zentralverbandes lediglich

6. die Frage der Bildung besonderer Arbeiterausschüsse und [ Druckseite 625 ] 7. das Maß der den Berufsgenossenschaften gegenüber den Mitgliedern der Genossenschaften zu gebenden Rechte [...] Es folgen Erläuterungen dazu.

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • 1BArchP 07.01 Nr. 510, fol. 159─168, mit Randbemerkung v. Rottenburgs: Die Eingabe hat Herrn von Boetticher vorgelegen. Nach Mitteilung des Grafen W(ilhelm) von Bismarck ist der Inhalt der Eingabe S. Durchlaucht bereits durch Herrn Behrend mitgeteilt u. hat S.D. bestimmt, daß die Einwendungen der Industriellen nicht weiter zu berücksichtigen seien. Die Eingabe ist unterzeichnet von Karl Richter und Emil Russell. »
  • 2Vgl. den Abdruck des Stenographischen Berichts über diese Verhandlung in: Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes deutscher Industrieller, Nr. 28, Berlin 1884. Zu der Generalversammlung war am 6.5.1884 v. Boetticher eingeladen worden (15.01 Nr. 397, fol. 85─86 Rs., Bosse delegierte Bödiker u. Gamp (Schreiben vom 12.5.1884, ebd., fol. 87). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 181, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0181

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.