II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 175

1884 Mai 20

Bericht1 des badischen Gesandten in Berlin Adolf Frhr. Marschall von Bieberstein2 an den badischen Ministerpräsidenten Ludwig Turban3

Entwurf

[Bericht über die vertraulichen Beratungen zwischen Reichsregierung, Zentrum und Konservativen über einen gemeinsamen Abänderungsantrag von Zentrum und Konservativen für die zweite Lesung in der Unfallversicherungskommission]

E[uer] E[xzellenz] beehre ich mich ergebenst anzuzeigen, daß gestern abend bei Herrn Staatsminister v. Boetticher mit den beiden konservativen Parteien und dem Zentrum angehörigen Mitgliedern der Unfallversicherungskommission eine vertrauliche Besprechung stattgefunden hat, welcher ich auf Einladung des Ministers ebenfalls beiwohnte. Sowohl die Regierungsvertreter wie die Kommissionsmitglieder jener Parteien hatten im Interesse des Zustandekommens des Gesetzes einen Meinungsaustausch über die nach der I. Lesung gebliebenen Differenzpunkte gewünscht, um womöglich im gemeinschaftlichen Einverständnis die Anträge für die II. Lesung der Kommission festzustellen.4 Nach einer eingehenden, bis nach

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Mitternacht dauernden Beratung gelangte man, unter dem Vorbehalt definitiver Entschließung, welcher sowohl von den Regierungsvertretern wie seitens der Kommissionsmitglieder gemacht wurde, zu folgender Einigung:

zu § 1 Der Einschluß des Baugewerbes in die versicherungspflichtigen Betriebe soll aufrechterhalten [werden]. Dagegen wurden auf den Wunsch der Regierung die darunter fallenden Gewerbebetriebe, soweit sie einer erheblichen Unfallgefahr unterliegen, einzeln aufgeführt, nämlich: “Maurer, Zimmerleute, Dachdecker, Steinhauer, Brunnenmacher, Bauklempner”.

zu § 2 wird der zweite Absatz gestrichen, da die fakultative Heranziehung von Unternehmern bei der Ausführung erhebliche Schwierigkeiten bereitet und eigentlich außerhalb des Rahmens der Vorlage steht.

zu § 4 wird die Regierungsvorlage, zu § 5 die 13 wöchentliche Karenzzeit wieder hergestellt.

zu § 9 soll der Satz des Kommissionsbeschlusses in Abs. 1 “auf Antrag der beteiligten Betriebsunternehmer kann die Berufsgenossenschaft auf das ganze Reichsgebiet ausgedehnt werden” auf den Wunsch der Regierungsvertreter gestrichen werden, da das Reich ebenfalls als ein “Bezirk” anzusehen, die Fakultät, die Berufsgenossenschaft auf das Reich auszudehnen, sonach schon in dem vorausgehenden Satz enthalten ist. In Abs. 2 wird der Satz “für Bauarbeiter gilt als Unternehmer usw.” als überflüssig (vgl. § 1 Abs. 2) gestrichen.

zu § 11 soll der von der Kommission beschlossene Abs. 4 (Rückversicherung) auf dezidierten Wunsch der Regierungsvertreter in Wegfall kommen, dagegen eine weitere Bestimmung des Inhalts eingeführt werden, daß behufs der Bestreitung der Verwaltungskosten im ersten Jahr die Berufsgenossenschaften ein für allemal einen Vorausbeitrag zu den Unglücken nach Maßgabe der Zahl der von ihr beschäftigten versicherungspflichtigen Personen (§ 11) erheben können.

zu § 14 Abs. 3 werden unter Berufsgenossen auch “die Leiter des Betriebs” als Stellvertreter zugelassen (einem Wunsche der Großindustriellen entsprechend).5

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Der obligatorische Reservefonds (§ 19 der Kommissionsbeschlüsse) wird regierungsseitig konzediert. Der Paragraph soll jedoch eine andere Fassung erhalten und darin eine nähere Bestimmung über die Höhe des Reservefonds aufgenommen werden. Der Vorschlag des Herrn Ministerialdirektor Bosse, der Berufsgenossenschaft die Verpflichtung aufzuerlegen, den Reservefonds stets auf der Höhe des letzten Jahresbedarfs zu erhalten (§ 10), woraus sich Zuschläge von 100 % im ersten Jahr ergeben müßten, die sich dann in späteren Jahren prozentual vermindern, fand, vorbehaltlich der Redaktion, Genehmigung. Die von konservativer Seite wiederum angeregte Kapitaldeckung bezeichnete Herr von Boetticher als eine “schwere Gefahrdung” des ganzen Gesetzes.

zu § 33 erklärte der Minister, daß die verbündeten Regierungen voraussichtlich einen sehr großen Wert auf die Erhaltung der subsidiären Reichsgarantie legen würden. Die Umlegung der Verpflichtungen aufgelöster Genossenschaften auf die Gesamtheit der übrigen werde zu schweren Unzuträglichkeiten fuhren. Baron Franckenstein äußerte sich darauf dahin, daß, wenn die Regierung auf die Wiederherstellung der Regierungsvorlage entscheidenden Wert lege, er seinerseits dieselbe konzedieren wolle, aber nur unter der Bedingung, daß neben dem Reichsversicherungsamte fakultative Landesversicherungsämter für den Fall der Begrenzung einer Berufsgenossenschaft auf das Gebiet eines Einzelstaates zugelassen würden; als Konsequenz dessen erkenne er an, daß in dem letzten Falle an die Stelle der Reichsgarantie die Garantie des einzelnen Staates zu treten habe. Herr von Boetticher erwiderte, daß in dem ersten Entwurf eine subsidiäre Garantie des Reiches nicht aufgenommen gewesen und dieselbe auch nur als Notbehelf für ganz außergewöhnliche Fälle zu betrachten sei. Die Zulassung von Landesversicherungsämtern und eine eventuelle Landesgarantie halte er nicht für erwünscht, glaube jedoch nicht, daß an dieser Frage das Gesetz scheitern könne.

zu § 41 wurde von den Mitgliedern des Zentrums erklärt, daß sie die gesonderten Arbeiterausschüsse für prinzipiell falsch und gefährlich erachten und dieselben unter keinen Umständen konzedieren könnten, dagegen ständen sie keineswegs formell auf dem Beschluß der I. Lesung, sondern würden auch einer anderen Organisation der Arbeitervertretung, sofern nur von gesonderten Arbeiterausschüssen abgesehen werde, zustimmen. Direktor Bosse antwortete darauf, daß der Kommissionsbeschluß nach anderer Richtung viel zu weit gehe, indem er die Arbeiter als ständige Mitglieder des Genossenschaftsvorstandes auch an solchen Entscheidungen teilnehmen lasse, die das Interesse der Arbeiter gar nicht berührten; er habe deshalb an einen Mittelweg gedacht, der auf demselben Gedanken wie der Kommissionsbeschluß beruhe, aber jene Bedenken beseitige. Man könne bestimmen, daß der Genossenschaftsvorstand für gewisse, das Arbeiterinteresse berührende Entscheidungen, z. B. die Unfallverhütungsvorschriften (§ 78), durch Vertreter aus dem Arbeiterstande verstärkt werden müsse; ebenso gehe die Berechtigung der Arbeiter zur Vertretung im Schiedsgerichte (§ 47), im Reichsversicherungsamt (§ 87) und bei der Untersuchung der Unfälle (§ 54). Eine gesonderte Beratung der Arbeitervertreter fände dann nicht mehr statt, vielmehr beruhe dieser Vorschlag auf dem Gedanken des Kommissionsbeschlusses, den er nur insoweit beschränke, als er die Arbeitervertreter nicht an allen Entscheidungen der Genossenschaftsvertreter teilnehmen lassen werde. Dieser Vorschlag fand ─ salva redactione ─ einstimmige Billigung.

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Im Laufe des heutigen Tages werden von Delegierten der Fraktionen in Verbindung mit den Regierungskommissären die aufgrund obiger Vorschläge zu stellenden Anträge redigiert und sollen bestens in einer heute abend stattfindenden abermaligen vertraulichen Besprechung definitiv festgestellt werden.

Ich frug gestern Herrn von Boetticher, warum er die Kommissionsmitglieder der nationalliberalen Fraktion nicht zur vertraulichen Besprechung zugezogen habe. Er erwiderte mir, daß er bei der bisherigen Haltung der Herren Buhl und Oechelhäuser, welche fortwährend die für die Regierung ganz unannehmbare Konkurrenz der Privatversicherungsgesellschaften urgierten, sich von deren Beiziehung keinen Nutzen habe versprechen können, daß er jedoch nach dem Ergebnisse des [Berliner] Parteitages hoffe, daß die nationalliberale Fraktion die Regierung beim Zustandekommen des Gesetzes unterstützen werde.6

[...] Daß Baron Franckenstein so rasch die Reichsgarantie konzedierte, war mir überraschend, da die Landesversicherungsämter nach meiner Überzeugung auch ohne diese Konzession zu haben waren.

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Kulmiz, Dr. Paul von (1836─1895) Rittergutsbesitzer und Industrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Oechelhäuser, Wilhelm (1820─1902) Industrieller, MdR (nationaliberal)
  • 1GLA Karlsruhe 49 Nr. 2013, n.fol. Die Ausfertigung des als vertraulich gekennzeichneten politischen Berichts ist nicht überliefert. »
  • 2Adolf Hermann Freiherr Marschall v. Bieberstein (1842─1912), Jurist, seit 1883 badischer Bundestagsgesandter, 1878─1881 MdR (konservativ, mit Unterstützung des Zentrums gewählt). »
  • 3Ludwig Turban (1821─1898), seit 1876 Präsident des Staatsministeriums und seit 1881 Innenminister im Großherzogtum Baden, von 1872─1881 badischer Handelsminister. »
  • 4Über den politischen Hintergrund der Entstehung dieser Besprechung informiert ein Bericht der von Paul Majunke herausgegebenen “Zentrumskorrespondenz”, den die Kölnische Volkszeitung am 27.5.1884 abdruckte: Daß die Unfallversicherungskommission so schnell ihr Ziel erreicht hat, ist wesentlich dem energischen Vorgehen ihres Vorsitzenden, des Frhrn. zu Franckenstein, zu danken. Derselbe hatte vor einigen Tagen dem Stellvertreter des Reichskanzlers, Hrn. v. Boetticher offen erklärt, daß, wenn aus dem ganzen Gesetz etwas werden solle, die Regierung sich entschließen müsse, Konzessionen zu machen, auf deren Gewährung das Zentrum unbedingt bestehen müsse. Infolgedessen lud Herr von Boetticher die Zentrums- und konservativen Mitglieder der Kommission zu einer Vorbesprechung bei sich ein, der Konferenzen mit den Mitgliedern aller Parteien folgten. Das Resultat derselben war der “klerikal-konservative Kompromiß”, demzufolge von der Kommission in zweiter Lesung die in erster Lesung abgelehnten, vom Zentrum aber als unerläßliche Bedingung geforderten Landesversicherungsanstalten (im Gegensatz zu der allgemeinen Reichsanstalt) wieder hergestellt wurden. (Vgl. hierzu Nr. 171 Anm. 4) Vom Zentrum wurden hierfür einige andere, in der Praxis belanglose Konzessionen gemacht. So ist also gegründete Hoffnung vorhanden, daß das Arbeiterunfallversicherungsgesetz endlich einmal ─ nach dreimaligem Anlauf ─ zustande kommen wird. Wir begrüßen dieses Resultat mit um so größerer Genugtuung, als das Gesetz nunmehr in der Hauptsache diejenige Form annehmen wird, welche das Zentrum von vornherein als eine ersprießliche bezeichnet hat. Schon in der diesmaligen Regierungsvorlage waren bekanntlich die zwei Bedingungen erfüllt, welche das Zentrum im vorigen Jahre und vor zwei Jahren als notwendig hingestellt hatte: der Wegfall des Reichszuschusses zu den Versicherungsprämien und die Durchführung der Versicherung auf der Grundlage der korporativen Genossenschaften. Die dritte Hauptforderung des Zentrums: Ersatz der zentralistischen Reichsanstalt durch die auf föderativer Grundlage beruhenden Landesversicherungsanstalten ist, wie schon bemerkt, nunmehr zugestanden worden. (...) Daß Hr. v. Boetticher seine Abmachungen mit den Parteien mit Zustimmung des Kanzlers getroffen, ist selbstverständlich. Vgl. insgesamt auch die Ausführungen Frhr. von Hertlings im offiziellen Kommissionsbericht vom 11.6.1884 (Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 4, Aktenstück Nr. 115, S. 858─888). »
  • 5Vgl. Nr. 170. »
  • 6Vgl. Nr. 151 und die Einleitung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 175, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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