II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 174

1884 Mai 18

Bericht1 des bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Entwurf

[Die parteipolitischen Entwicklungen bei Nationalliberalen und Zentrum sprechen dafür, daß das Unfallversicherungsgesetz verabschiedet wird]

Ew. Exzellenz wird nicht der Artikel “Bismarck und Windthorst” in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung v. 15 (Nr. 135) entgangen sein.2

Nach Äußerungen mehrerer Personen, welche der Unterredung beigewohnt haben, kann ich die Genauigkeit, sogar die teilweise wortgetreue Wiedergabe der Unterredung bestätigen.

Als Kommentar will ich noch beifügen, daß diesmal das große Wort nicht der Reichskanzler, sondern der Abgeordnete Windthorst führte, der schon sehr aufgeräumt und redselig in der Soiree erschien und sich weitere Begeisterung in einer Flasche Burgunder holte, welche ihm bis zur Neige vom Kultusminister Goßler3 kredenzt wurde.4

Es mag sein, daß die gegenseitige Annäherung, welche der Reichskanzler und die Nationalliberalen in letzter Zeit fuhren5, dem Zentrum zu denken gegeben hat und daß sich hieraus einigermaßen die mehr entgegenkommende Haltung dieser Partei zur Regierung erklärt. Andererseits ist aber nicht zu verkennen, daß auch der Reichskanzler und die preußische Reg. einen weit versöhnlicheren Ton dem Zentrum gegenüber anschlagen, seitdem dasselbe sich bereit gezeigt hat, in der Sozialreform auf die Gedanken des Reichskanzlers einzugehen.

Die Erklärungen des Kultusministers Goßlers in der gestrigen Sitzung des Abgeordnetenhauses6, welche sehr von der früheren kirchenpolitischen Äußerung dieses Ministers abstechen, lassen hierüber keinen Zweifel.

Die Äußerungen Windthorsts in der Soiree des Reichskanzlers scheinen die Garantie zu liefern, daß in der laufenden Session ein Unfallgesetz zustande kommen wird.7 Unter dem Vorsitz Franckensteins arbeitet denn auch die Kommission mit großem Eifer an dem Entwurf und steht zu erwarten, daß sie im Verlauf der Woche ihre Arbeiten bis auf die Redaktion des Berichts erledigt haben dürfte. Letztere wird [ Druckseite 600 ] Freiherr von Hertling während der Pfingstferien sodann fertigstellen, so daß wohl ungefähr am 22. Juni mit Beratung des Unfalls im Plenum wird begonnen werden können.

Man schätzt die für die Plenarberatung erforderliche Zeit auf 14 Tage an; es könnte also die Session gegen den 1. Juli geschlossen werden. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Majunke, Dr. Paul (1842─1899) Priester, Chefredakteur der “Germania”, MdR (Zentrum)
  • Marschall von Bieberstein, Adolf Hermann Freiherr (1842─1912) Jurist, badischer Gesandter in Berlin
  • Turban, Ludwig Friedrich (1821─1898) badischer Ministerpräsident und Innenminister
  • 1BayHStA Bayerische Gesandtschaft 1054, n.fol. »
  • 2Vgl. Nr. 167. »
  • 3Vgl. Nr. 23 Anm. 7. »
  • 4Auch die Baronin Spitzemberg vermerkte, daß Windthorst “angepfiffen” war. (Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg 1859─1914, 2. Aufl., Göttingen 1960, S. 207). »
  • 5Diese Annäherung zeigte sich in der Heidelberger Erklärung, der am 18.5.1884 der Berliner Parteitag der Nationalliberalen zustimmte, vgl. dazu Hermann Oncken, Rudolf von Bennigsen, 2. Bd., Stuttgart u. Leipzig 1910, S. 511 ff. »
  • 6Vgl. Sten.Ber. Haus d. Abg., Bd. 3, 1884, S. 2436 ff. »
  • 7Vgl. Nr. 167. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 174, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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