II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 166

1884 Mai 9

Rede1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck im Deutschen Reichstag

Druck, Teildruck

[Anmahnung einer zügigen Bearbeitung der Unfallversicherungsvorlage, Verknüpfung von Sozialistengesetz und Sozialgesetzgebung]

[...] Sie haben nun die Frage aufgeworfen: soll dieses Gesetz2 von ewiger Dauer sein? Ich habe schon bei der ersten Lesung darauf geantwortet ─ weder von ewiger, noch von zu kurzer Dauer, sondern wir haben die Hoffnung, auf dem Wege der Reform, die wir erstreben, zwar nicht alle Beteiligten zu bekehren, aber doch den Zulauf, die Rekrutierung für die revolutionären Pläne wesentlich zu beschränken, wenn wir dem Arbeiter das geben, was die Kaiserliche Botschaft und was die daran geknüpften Reformvorschläge verheißen haben. Ich habe schon vor einigen Wochen mich darüber ausgesprochen, ─ wen es interessiert, wird es nachlesen können3, daß die Herren es jetzt interessieren wird, nehme ich nicht an. Ich will mich nur dahin resümieren: geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, geben Sie ihm Arbeit, solange er gesund ist, sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm Versorgung, wenn er alt ist, ─ wenn Sie das tun, und die Opfer nicht scheuen und nicht über Staatssozialismus schreien, sobald jemand das Wort “Alters-

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versorgung” ausspricht, wenn der Staat etwas mehr christliche Fürsorge für den Arbeiter zeigt, dann glaube ich, daß die Herren vom Wydener Programm4 ihre Lockpfeife vergebens blasen werden, daß der Zulauf zu ihnen sich sehr vermindern wird, sobald die Arbeiter sehen, daß es den Regierungen und den gesetzgebenden Körperschaften mit der Sorge für ihr Wohl ernst ist. Ich glaube, daß Sie bei der Regierung nicht an dem Ernst zweifeln; aber in Betreff der gesetzgebenden Körperschaften ist bisher die Überzeugung, daß es den Herren ernst darum zu tun wäre, etwas für die Arbeiter zu schaffen, noch nicht sehr durchgedrungen. Die Arbeiten gehen langsam, sie werden angebrachtermaßen [recte: unangebrachterweise?] abgelehnt nach einem Obstruktionssystem, nach Verzögerungsprinzipien, die sehr kunstreich berechnet sind. Der Reichstag ist jetzt neun Wochen versammelt, er ist zum 6. März zusammenberufen worden.

Die Hauptaufgabe, für welche wir die Zeit freigehalten haben, ist die Unfallversicherungsgesetzgebung; das Gesetz hat, glaube ich, 170 [107, Hörfehler?, recte: 106] Paragraphen; die Kommissionsverhandlungen sind jetzt nach neun Wochen bei der Klippe des Art. 43 angelangt, und die Frage der Berechtigung der Arbeiterausschüsse ist meines Erachtens eine so wichtige, eine so prinzipielle Frage, über die sich viel reden läßt; es steht also zu befürchten, daß die Sache sich so langsam wie bisher weiter entwickelt. Ich mache der Kommission keinen Vorwurf daraus, ─ ich bin überzeugt, sie arbeitet fleißig; aber der Mangel an Glauben, daß die Sache nützlich sei, der Mangel an erstem Willen, etwas zustande zu bringen, verlangsamt die Arbeiten unwillkürlich. Wenn es sich um manche andere Dinge, die politisch mehr Interesse haben, handelt, da habe ich die Herren schon sehr rasch arbeiten sehen; aber hier kommt die Sache nicht vorwärts. Wir, die Regierung, können die Verhandlungen über diese Dinge nicht abbrechen, und wenn wir bis zum August oder bis zum natürlichen Ablauf Ihres Mandats hier sitzen sollen; die Regierung kann nicht vom Platze weichen, wir müssen Ihre Antwort auf das Unfallversicherungsgesetz haben, Ja oder Nein, und ich möchte bitten, auf diese Arbeiten für das Wohl einer zahlreichen und zum Teil nicht glücklichen Klasse doch ohne alle Schachzüge ─ ich will nicht sagen Winkelzüge ─ aber Schachzüge, wie wir das bei diesem Gesetz dilatorisch erlebt haben, ─ nicht auf diese Art einzuwirken.

Sobald wir auf diesem Gebiet der sozialistischen Reformen, auf dem Gebiet der Verbesserung des Loses der Arbeiter im allgemeinen etwas von Gewicht erreicht haben werden, dann wird auch der Zeitpunkt gekommen sein, wo die Regierung selbst die Aufhebung jedes Ausnahmegesetzes beantragt, und wo wir abwarten werden, ob auch nach Erfüllung dessen, nach Erfüllung aller Begehrlichkeiten, welche in den Regierungskreisen wenigstens allgemein für verständlich und berechtigt gehalten werden, ein solches Ausnahmegesetz noch notwendig sein wird. Von dieser Erfüllung sind wir aber weit entfernt. Vor sechs Jahren sind die Versprechungen gemacht5, ─ sie sind nicht verwirklicht; ich mache niemand daraus einen [ Druckseite 573 ] Vorwurf. Ich kann nur zu meiner Entschuldigung anführen: wäre ich immer so gesund gewesen, wie vor zehn Jahren, nun, so würde ich die Sache mehr betrieben haben; aber können Sie, die Mehrheit von Ihnen, wirklich ehrlich sagen, daß Sie in entgegenkommender Weise auf dem Gebiete der Leistungen zugunsten der Arbeiter die Regierung unterstützt hätten? Ich glaube, wenn Sie die Hand aufs Herz legen, können Sie das nur zu Wahlzwecken aussprechen, aber nicht behaupten und nicht nachweisen. Sie betrachten das als eine lästige Sache, um die Sie herumkommen und die Schuld der Regierung zuschieben möchten; aber Sie arbeiten nicht mit dem Eifer, den die Sache verdient. ─ Dann also will ich mich gern mit dem Zurückziehen aller Ausnahmegesetze einverstanden erklären.

Wie die Sache aber jetzt liegt, möchte ich die Herren bitten, das grausame Spiel einigermaßen abzukürzen. Warum wollen Sie nicht den Mut Ihrer Meinung haben? Sagen Sie offen Nein, wenn Sie glauben, daß das Gesetz nicht möglich ist. Wir werden Ihnen dann sofort die Gelegenheit geben ─ und die verbündeten Regierungen sind darüber einig ─, mit Ihren Wählern darüber Rücksprache zu nehmen, ob die Wähler mit diesem Nein einverstanden sind. Ich will Ihnen das gar nicht verschweigen; der Ablehnung der Verlängerung dieses Gesetzes wird die Auflösung des Reichstages auf dem Fuße folgen. Darüber sind die Regierungen einig, das sind sie sich und dem Lande schuldig. Wir verlieren aber auch gar nichts, denn die Verzögerungsgefahr tritt ja nicht ein; wenn wir heute infolge der Auflösung auseinandergehen, so haben wir die erfreuliche Aussicht, uns und diejenigen, die wieder gewählt werden, am 10. August wieder zusammenzufinden, zu einer schönen Jahreszeit, wo wir die Diskussion von heute fortsetzen können. [...]

Deshalb sage ich: die Politik macht uns tot, indem sie uns hindert, unsere Interessen wahrzunehmen; sobald es der Parteipolitik, der Fraktionspolitik nicht paßt, so können die Interessen zugrunde gehen, und es kann darüber ausgepfändet werden oder Hungers sterben, wer will, ─ das ist der Fraktion als solcher vollständig gleichgültig; sie fragt nur: was nützt es meiner Fraktion? Vivat fractio, pereat mundus!

Das Recht auf Arbeit erwähnte ich schon, dazu bekenne ich micht ganz ehrlich auch selbst in einer erweiterten Auslegung der Bestimmungen, unter denen wir Preußen seit längerer Zeit gelebt haben, und die die Fürsorge unserer Könige für die arbeitende Klasse auch schon aus dem vorigen Jahrhundert dokumentieren, ein Interesse, welches unser jetzt in Preußen regierender Herr geerbt hat, und nicht nur er, sondern auch sein Nachfolger jedenfalls jeder Zeit behalten wird. Friedrich der Große sagte: Je veux être roi des gueux.6 Es ist in seinem scherzhaften französischen Sarkasmus der Ausdruck für denselben Gedanken, den der jetzige Herr damit ausspricht, daß er sich als den Schützer der wirtschaftlich Schwachen betrachtet und für sie zu sorgen entschlossen ist.

Was nun die Verschleppung der Unfallgesetzgebung anlangt, so habe ich der Kommission keinen Vorwurf darüber gemacht. Ich sage, daß sie gearbeitet hat; aber es ist keine rechte Lust zur Sache, ─ so habe ich mich, glaube ich, ausgedrückt. Wir sind nun jetzt etwas über zwei Monate hier versammelt, ich möchte wohl wissen, wieviel Stunden davon auf die Kommissionssitzungen ausfallen; und dann ist ja in den Kommissionssitzungen eine Obstruktion, das Wort heißt Verschleppung; es ist [ Druckseite 574 ] sehr leicht, längere Reden zu halten, besonders an den Abendstunden ist es nur zu leicht möglich. ─ Ich habe allerdings dabei nicht an die früheren Jahre gedacht.

Daß ich Fühlung suche mit dem Reichstage, daß ich, wenn ich die Fühlung nicht gefunden habe, wie bei der letzten Änderung der Vorlage, oder, wie bei der ersten Änderung, einsehe, daß der Punkt, auf dem die Fühlung gefunden ist, nicht der richtige ist, einen anderen Wege einschlage, ─ kurz und gut, daß ich in dieser wichtigen Sache mit Vorsicht vorgehe, kann mir der Herr Vorredner7 doch nicht vorwerfen; es zeigt im Gegenteil, daß ich so eigensinnig, wie er mich zu schildern sucht, so herrschsüchtig nicht bin. Ich habe mich vom Reichstage belehren lassen. Sobald die Herren im Reichstage etwas anderes gewünscht haben, sind wir bereitwillig darauf eingegangen. [...] Das darf mir der Herr doch nicht vorwerfen, daß ich nicht Fühlung suche mit dem Reichstag, da hat er nach meiner Meinung nicht das Richtige getroffen, ich sage nicht: ich habe das meinige getan und kann mich darum zur Ruhe setzen; sondern ich mache immer wieder Versuche und sehe, ob ich die Wünsche des Kaisers verwirklichen kann.

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Friedrich II., der Große (1712─1786) König von Preußen
  • Reichensperger, Dr. August (1808─1895) Jurist, MdR (Zentrum)
  • Reichensperger, Dr. Peter Franz (1810─1892) Obertribunalrat, MdR (Zentrum)
  • Richter, Eugen (1838─1906) Jurist und Politiker, MdR (Fortschritt) und MdAbgH
  • Wagner, Prof. Dr. Adolph (1835─1917) Nationalökonom, Mitbegründer der christlich-sozialen Partei
  • Windthorst, Dr. Ludwig (1812─1891) Jurist und Politiker, MdR (Bundesstaatl.konst. Vereinigung/Zentrum
  • 1Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 1, S. 481 ff.; vgl. auch den Abdruck der Rede bei Horst Kohl, Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Bd. 10, Stuttgart 1894 (ND Aalen 1970), fol. 95 ff., und Gesammelte Werke, Bd. 12, S. 443 ff.). »
  • 2Gemeint ist das sog. Sozialistengesetz, vgl. Nr. 146. »
  • 3Vgl. Nr. 148. »
  • 4Anspielung auf den Kongreß der Deutschen Sozialdemokratie in Wyden (20.─23.8. 1880), der u. a. ─ als Reaktion auf das Sozialistengesetz ─ beschlossen hatte, im Parteiprogramm festzulegen, daß die Partei verpflichtet ist, “mit allen Mitteln” (nicht wie bisher “mit allen gesetzlichen Mitteln”) ihre Ziele zu verfolgen und die Führung der Partei in die Hände der Reichstagsabgeordneten legte. »
  • 5Vgl. Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung (1994), S. 216 u. 219. »
  • 6Vgl. Nr. 36 Anm. 8. »
  • 7Eugen Richter (1838─1906), Jurist und Journalist, liberaler Parteiführer, seit 1867/1871 MdR (Fortschrittspartei) und Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 166, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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