II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 164

1884 Mai 6

Bericht1 über die 13. Sitzung der VII. Kommission des Reichstags

Druck

[Ablehnung des § 41 der dritten Unfallversicherungsvorlage (Arbeiterausschüsse)]

In der Sitzung vom 6. beriet die Kommission ausschließlich den § 41 der Vorlage, betr. die Errichtung von Arbeiterausschüssen. Nationalliberale und Zentrum

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beantragten durch die Abgg. Hertling und Oechelhäuser die gänzliche Beseitigung der Arbeiterausschüsse, wogegen die Arbeiter in den Genossenschaftsvorständen selbst mit gleichen Rechten und Pflichten mit den Arbeitgebern vertreten sein, die letzteren jedoch den Vorsitzenden und damit einen Vertreter mehr zu stellen haben sollen. Dagegen beantragten die Deutschfreisinnigen durch die Abgg. Dr. Hirsch, Dr. Gutfleisch und Schrader den Arbeiterausschüssen auch die Mitwirkung bei der Feststellung der Entschädigungen und bei dem Erlaß von Vorschriften zur Verhütung von Unfällen zu gewähren, event. für den Fall der Annahme des Antrags Oechelhäuser, den Genossenschaftsvorstand zu gleichen Teilen aus Arbeitgebern und Arbeitern zu bilden. In der sehr eingehenden Debatte erklärten sich die Redner des Zentrums und der Nationalliberalen entschieden gegen die Schaffung einer besonderen Vertretung der Arbeiter, da diese als staatliche Klassenorganisation den Gegensatz gegen die Arbeitgeber verschärfen und zu sozialen und politischen Zwecken ausgebeutet werden würden; deshalb sei die gesamte Industrie gegen die Arbeiterausschüsse; man würde ihr durch Annahme derselben einen Schlag ins Gesicht versetzen. Überdies sei die Kompetenz der Arbeiterausschüsse so geringfügig, daß dieselben schon durch Mangel an Beschäftigung zu anderen Bestrebungen getrieben werden würden. Dagegen empfehle sich die Aufnahme von Arbeitervertretern in den Vorstand sowohl prinzipiell aus dem Grundsatz der Interessengemeinschaft und der korporativen Organisation, welche alle Glieder der Industrie umfassen müsse, als praktisch durch das Vorbild der Knappschaftskassen. Staatssekretär v. Boetticher vertrat diesen Ausführungen gegenüber wiederholt und lebhaft die Institution der Arbeiterausschüsse. Alle Bedenken gegen dieselbe beruhen seiner Meinung nach lediglich auf Besorgnissen, deren Unbegründetheit sich leicht nachweisen lasse. Gerade die besondere gesetzliche Organisation der Arbeiter fördere die sachlichen Wohlfahrtseinrichtungen und den sozialen Frieden. Das bewiesen u. a. die bestehenden Arbeiterausschüsse der Marienhütte in Kotzenau etc. Die Organisation sei weder eine staatliche, noch gegensätzliche gegen die Berufsgenossenschaft, sondern eine mitwirkende, zumal die Arbeiterausschüsse außer den Wahlen zum Schiedsgericht und Reichsversicherungsamt nur ein beratendes Votum haben sollten. In weitesten Kreisen der Arbeiter sei die Ansicht verbreitet, daß sie besser unter sich bleiben, als von der sozial und intellektuell überragenden Arbeitgeberklasse sich majorisieren lassen. Diese Ausführungen wurden zum großen Teil von den deutsch-freisinnigen Mitgliedern unterstützt und ergänzt. Die Aufnahme der Arbeiter in die Vorstände sei nach den Erfahrungen bei den Fabrikkassen und bei der großen persönlichen Abhängigkeit der Arbeiter fast nur dekorativ, während die Gerechtigkeit verlange, daß auch den Arbeitern in denjenigen Angelegenheiten, welche ihre Interessen berühren, eine gesonderte selbständige Vertretung gewährt werde. Es sei auch gut, gegenüber solchen mächtigen Interessenzentren, wie die Berufsgenossenschaften als Arbeitgeberkoalitionen werden würden, ein Gegengewicht zu schaffen. Andererseits aber sei es verfehlt, den Arbeitern Einfluß auf die Vermögensverwaltung der Berufsgenossenschaften einzuräumen. Damit aber die Arbeiterausschüsse etwas bedeuten, müsse ihre Kompetenz erweitert werden, besonders bei der Feststellung der Entschädigungen und bei den Vorschriften zur Unfallverhütung; gerade hierdurch würde vielen Unfällen und Prozessen vorgebeugt werden. Bei der Abstimmung wurde dieser Antrag jedoch mit 12 gegen 11 Stimmen [ Druckseite 570 ] in folgender Fassung angenommen: [...] Vgl. Nr. 173, § 41 (S. 592) Dafür stimmten alle Nationalliberalen, das Zentrum, außer Stötzel, und der freikonservative Abg. v. Kulmitz, dagegen alle Freisinnigen, die Konservativen und Stötzel. Hiernach ist der Abschnitt IV. des Regierungsentwurfs verworfen. Auf Antrag des Vorsitzenden v. Franckenstein wurde eine Subkommission von 4 Mitgliedern erwählt, um auf der neuen Grundlage Vorschläge auszuarbeiten.

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Kulmiz, Dr. Paul von (1836─1895) Rittergutsbesitzer und Industrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Schrader, Karl (1834─1913) Eisenbahndirektor, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Stötzel, Gerhard (1835─1905) Metallarbeiter, Redakteur, MdR (Zentrum)
  • 1ZfV, 8. Jg. 1884, S. 259 f., Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3081, fol. 209─220 Rs., Anträge: fol. 221─226. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 164, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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