II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 160

1884 April 25

Bericht1 über die siebte Sitzung der VII. Kommission des Reichstags

Druck

[Beratung über § 10 der dritten Unfallversicherungsvorlage]

Die Reichstagskommission zur Vorberatung des Arbeiterunfallversicherungsgesetzes nahm am 25. d. M. ihre Aufgabe wieder auf.2 Abg. v. Hertling referierte

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über die eingelaufenen Petitionen; eine Anzahl [19] Petitionen, insbesondere auch die des Zentralverbandes Deutscher Industrieller3 und der Concordia4, ist nur den einzelnen Mitgliedern der Kommission, nicht dem Reichstage selbst zugegangen und entzieht sich daher dem offiziellen Referate. Unter Aussetzung der Abstimmung über § 9 (Berufsgenossenschaften) wendete sich die Kommission zur Erörterung des § 10 (Umlageverfahren). Abg. Oechelhäuser rechtfertigte in eingehender Weise den von ihm und seinen Freunden gestellten Antrag, das Umlageverfahren durch das Deckungsverfahren zu ersetzen. Die Regierung vertrete mit dem Umlageverfahren einen Gedanken, der nie vorher im Gebiete des Versicherungswesens ausgesprochen, der aber stets als das Gegenteil gesunder Versicherungstechnik angesehen worden sei. Staatssekretär von Boetticher verteidigte das Umlageverfahren namentlich von dem Gesichtspunkte aus, daß das Umlageverfahren auf versicherungstechnischen Grundsätzen beruhe, und verstieg sich dabei zu dem bemerkenswerten Satze, nach dem Geiste der Vorlage sei für Versicherungstechnik eigentlich gar kein, mindestens nicht ein so weiter Spielraum gelassen. Die Anwendung von Grundsätzen der Versicherungstechnik und die dadurch bedingten Weiterungen und Kosten zu ersparen, sei ja gerade der Zweck der Vorlage. Die geplante Unfallversicherung habe mit einer Versicherung, wie man sie zu denken gewohnt sei, nichts als den Namen gemein. Man habe künftig weiter nichts zu tun, als die gesetzliche Entschädigungsrente festzustellen, zur Zahlung durch die Post anzuweisen und rechnerisch auf die Berufsgenossenschaften umzulegen. Die Regierung werde vom Umlageverfahren nicht abgehen, so wenig wie von ihrem unbedingten Widerspruche gegen die Zulassung der Privatversicherungen.5 Abg. Eberty meinte, daß die Konsequenz des Umlageverfahrens in zahlreichen Fällen zur Leistungsunfähigkeit der Berufsgenossenschaften und zum Eintritt des Reichs an ihre Stelle führen müsse, worauf Staatssekretär v. Boetticher erwiderte, daß auch im Falle der Leistungsunfähigkeit einer Berufsgenossenschaft das Reich nur in deren bestehende Verpflichtungen, im weiteren aber nicht an deren Stelle eintreten, sondern die Genossenschaft [ Druckseite 564 ] anderweit einreihen werde.6 Die Sitzung wurde schließlich auf Montag vertagt, nachdem noch auf eine Äußerung des Staatssekretärs v. Boetticher, daß die Regierung ihren Standpunkt während der Osterferien durch eine Serie von Artikeln in der “Nordd. Allg. Ztg.” dargelegt habe7, Abg. Hirsch lebhaft gegen diese des Reichstags nicht würdige Form der Mitteilung an die Kommission protestiert, und hierauf Herr v. Boetticher erklärt hatte, die fraglichen Artikel seien nicht als amtliche Mitteilungen der Regierung an die Kommission aufzufassen, sie sollten übrigens in besonderem Abdruck der Kommission zugänglich werden.

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Dittmar, Gustav (1842─1905) Verbandsgeschäftsführer
  • Eberty, Eduard Gustav (1840─1894) Stadtsyndikus in Berlin, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Eysoldt, Arthur (1832─1907) Rechtsanwalt, MdR (Fortschritt)
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Kalle, Fritz (1837─1915) Industrieller, MdR (nationalliberal)
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Oechelhäuser, Wilhelm (1820─1902) Industrieller, MdR (nationaliberal)
  • Schirmeister, Heinrich von (1817─1892) Landrat a.D., MdR (Liberale Vereinigung)
  • Schrader, Karl (1834─1913) Eisenbahndirektor, MdR (Liberale Vereinigung)
  • 1ZfV, 8. Jg. 1884, S. 210, SP: BArchP 01.01 Nr. 3081, fol. 147─150, Anträge: fol. 151─152. »
  • 2In der Zwischenzeit war u. a. Osterpause. »
  • 3Diese wurde nicht ermittelt. Vermutlich handelt es sich um eine Vorfassung der Resolution v. 31.5.1884 (vgl. Nr. 181). »
  • 4Generalversammlungsbeschluß vom 31.3.1884 (Fritz Kalle, Gustav Dittmar, Mainz), BArchP 15.01 Nr. 397, fol. 58 f. »
  • 5Sitzungsprotokoll: Herr Staatsminister v. Boetticher weist darauf hin, daß von einer Versicherungstechnik in diesem Gesetzentwurf kaum geredet werden kann. Die Aufgabe der Berufsgenossenschaften sei am einfachsten mit der einer Gemeinde zu vergleichen. So wie dort die jährlich notwendigen Ausgaben auf die Mitglieder der Gemeinde umgelegt werden, so soll es hier geschehen. Die angeführten Tatsachen der Veränderlichkeit der Zahl der Arbeiter und der Höhe der Löhne passen für einzelne Betriebe oder kleine Genossenschaften. Je größer die Zahl der Betriebe und je größer die Zahl der Arbeiter in einer Genossenschaft ist, um so geringer wird die Wirkung der drei veränderlichen Momente für die Kasse sein. Deshalb möchten kleine Genossenschaften zu vermeiden sein. Auch sei zu berücksichtigen, daß nach Erlaß dieses Gesetzes fast doppelt so viel Arbeiter versichert werden müssen als bisher. Alle Einwendungen gegen das Umlageverfahren werden durch die Knappschaften widerlegt. Die Zulassung der Privatversicherungsgesellschaften würde den verbündeten Regierungen Anlaß sein, dem Gesetze die Zustimmung zu versagen. (Vgl. dazu die Stellungnahme der ZfV, 7. Jg. 1884, S. 186) »
  • 6Sitzungsprotokoll: Staatsminister v. Boetticher teilt mit, daß die verbündeten Regierungen die Reichsgarantie am liebsten eliminiert hätten. Das Reich werde auch nur soweit für die Lasten zusammenbrechender Genossenschaften eintreten, als vorhandene Mankos dies erfordern. Die weiteren Kosten hätte die Genossenschaft zu übernehmen, der die aufgelöste zugeteilt wird. »
  • 7Vgl. Nr. 159. Die Abgeordneten erhielten dadurch (Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 10.4.1884) ─ erstmals? ─ Kenntnis der internen Berechnungen zum Umlage-/Kapitaldeckungsverfahren (vgl. Nr. 147). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 160, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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