II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 159

1884 April 9

Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 1691 Die Unfallvorlage in der Reichstagskommission

Teildruck

[Offizielle Stellungnahme zum Ergebnis der Kommisionsberatungen; Kritik an den Abänderungsvorschlägen der Freisinnigen, Anerkennung der Bestrebung der Nationalliberalen und des Zentrums]

Die Basis des Gesetzentwurfs bildet bekanntlich die berufsgenossenschaftliche Organisation. [...] Es folgt ein Abdruck der §§ 9, 12 u. 13.

In diesen Bestimmungen liegt das Gerüst der Organisation. Durch dieselben wird ein Doppeltes ausgeschlossen: Der Aufbau nach geographischen Verbänden, welche alle innerhalb des Bezirks belegenen versicherungspflichtigen Betriebe ohne Unterschied der Betriebsarten und Betriebszweige umfassen würden, und die Versicherung bei Privatversicherungsgesellschaften zu dem Zweck, um der durch § 1 des Gesetzentwurfs gesetzten Versicherungspflicht zu genügen.

Bei den über § 9 in der Kommission geführten zweitägigen Debatten trat die Scheidung der Geister mehr und mehr zutage. Während die Konservativen und das Zentrum sich auf den Boden der Vorlage stellten, verhielten die Vertreter der deutschen freisinnigen Partei sich völlig und die Nationalliberalen im wesentlichen ablehnend. Die ersteren (Antrag Hirsch) beantragten, dem Absatz 1 des § 9 folgende Fassung zu geben:

“Die Versicherung ist durch die Unternehmer der unter § 1 fallenden Betriebe bei einer zu diesem Zwecke im deutschen Reiche zugelassenen Versicherungsanstalt (Genossenschaft oder sonstigen Versicherungsgesellschaft) zu bewirken.”

Der nationalliberale Abgeordnete Oechelhäuser wünscht an die Stelle der einheitlichen Berufsgenossenschaften und ihrer Sektionen eine Doppelbildung zu setzen: Berufsgenossenschaften durchs ganze Reich, etwa 50 bis 60 an der Zahl, und daneben zwölf geographische Verbände, welche alle innerhalb der Verbände belegenen Betriebe der verschiedensten Berufsgenossenschaften umfassen sollen. Die Berufsgenossenschaften mit einem Obmann an der Spitze sind für die Vertretung allgemeiner, korporativer Interessen, die geographischen Verbände dagegen für die gesamte Verwaltung, für die Lösung der Versicherungsaufgabe bestimmt. Daneben wünschen die Nationalliberalen (Antrag Buhl) die Privatversicherungsgesellschaften aufrechtzuerhalten.

In der Kommission haben die Vertreter der sogenannten deutschen freisinnigen Partei und die Nationalliberalen sich gegenseitig mit guten Gründen bekämpft.

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Der Antrag der ersteren (Antrag Hirsch) ist schon deshalb unmöglich, weil der Gesetzgeber, wenn er die Betriebsunternehmer für versicherungspflichtig erklärt, jedem Unternehmer eine Anstalt nachweisen muß, bei welcher er seiner Pflicht genügen kann. Wo bleibt nun aber der Unternehmer, wenn die Privatgesellschaft A, an welche er sich zuerst wendet, ihn ablehnt? Muß er bei den Gesellschaften B bis Z anklopfen? Und wie, wenn inzwischen ein Unfall eintritt, oder gar, wenn alle ihn definitiv ablehnen? Jede Gesellschaft könnte gefährliche Risiken ablehnen oder durch die Forderung ganz exorbitanter Prämien die Versicherung tatsächlich unmöglich machen. Soll der Unternehmer in solchen Fällen etwa Prämien gleich der Höhe seiner Löhne und darüber hinaus zahlen müssen? Das Reich wird doch nicht für jeden Betrieb die angemessene Prämie festsetzen sollen. Erstens lassen die Privatgesellschaften sich das nicht gefallen, und zweitens ist das Reich nicht dafür da, die Geschäfte der Gesellschaften im Interesse ihrer Aktionäre zu führen. Entschlösse sich das Reich aber wirklich zur Übernahme eines so unerhörten Mandats, so würde es auf jeden Fall Nackenschläge erhalten, entweder von den Gesellschaften, wenn es die Prämien zu niedrig normierte, oder von den Versicherten, wenn die Prämien zu hoch gestellt würden. Sagt man: Natürlich, das Reich muß bei der Einschätzung der Betriebe aus dem Spiele bleiben, so erwidern wir: Wie aber, wenn eines schönen Tages im Wege der Koalition die gerade bestehenden Gesellschaften eine beliebige Prämiensteigerung vornehmen? Kurzum, der jetzige Antrag Hirsch, der sich mit dem früheren Buhlschen Gesetzentwurf2 deckt und von Dr. Buhl in richtiger Einsicht selbst bereits derelinquiert ist, stellt sich als die Ausprägung des äußersten Gegensatzes gegen die grundlegenden Gedanken der verbündeten Regierungen dar. Er erscheint, bei Licht besehen, alse eine weitgehende direkte Begünstigung der Privatversicherungsgesellschaften durch die Gesetzgebung; ja, er stellt die letztere geradezu in den Dienst dieser Gesellschaften und macht das Gesetz zu einem Zutreiber für dieselben, von denen die potenteren sehr bald die weniger kräftigen zum Erliegen bringen und damit für sich ein Privatversicherungsmonopol tatsächlich zur Verwertung bringen würden. Was an Förderung der auf Gewinn arbeitenden Privatversicherungsgesellschaften das schweizerische Haftpflichtgesetz im kleinen leistet3, würden §§ 1 und 9 im großen bewirken. Würde der Antrag Hirsch angenommen, so hieße das nichts anderes, als daß der Staat gegen den einzelnen zugunsten von Privatgesellschaften einen direkten gesetzlichen Zwang ausübt. Das wäre ein Unding.

Die Einzelheiten des Antrags übergehen wir. Interessant an demselben ist, daß er das auf jener Seite so mißliebige “Konzessionswesen” in die Materie einführt, und zwar in einem Falle, wo es in der Tat völlig unmöglich ist, Konzessionsbedingungen ausfindig zu machen, die auf der einen Seite den konzessionierten Gesellschaften die nötige Freiheit der Bewegung lassen und auf der anderen Seite die Interessen der von Reichs wegen zur Versicherung bei den Gesellschaften Gezwungenen sicherzustellen geeignet sind.

Der Antrag wird voraussichtlich in der Kommission nur die Stimmen der Antragsteller erlangen.

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Im Gegensatz zu jenem Antrage anerkennen die Nationalliberalen die öffentlichrechtliche Seite des Unfallversicherungsproblems. Sie zeigen das ernste Bestreben, den verbündeten Regierungen entgegenzukommen und eine Vermittlung anzubahnen. Um so bedauerlicher ist es, daß sie sich dabei in den Mitteln vergreifen, insofern sie die Lösung der Aufgabe durch ein mechanisches Nebeneinander der Gegensätze zu erreichen sich bemühen. Damit aber läßt der klaffende Riß sich nicht ausfüllen, er tritt nur um so greller hervor. Die Nationalliberalen operieren dabei in doppelter Beziehung von entgegengesetzten Ausgangspunkten aus: Bei der Berufsgenossenschaftsbildung wollen sie die disparaten Grundsätze des geographischen Verbandes und der berufsgenossenschaftlichen Gliederung miteinander vereinigen, und bei der Durchführung der Versicherung wollen sie die öffentlichen Zwangsgenossenschaften und die Privatversicherungsgesellschaften auf demselben Terrain nebeneinander wirken lassen. Sie setzen somit ein Vierfaches an die Stelle des Einfachen der Vorlage und geraten damit in ein Durcheinander, dessen gedeihliche Ausgestaltung gesetzgeberisch unmöglich ist. ─ Wir müssen es uns versagen, die Konsequenzen der Teilung der zu lösenden Aufgabe unter geographische Verbände, deren jeder von 50 bis 60 Berufsgenossenschaften ressortiert oder wenigstens deren Organ ist, und unter Berufsgenossenschaften im einzelnen zu ziehen. Die Idee, welche an die Betriebsverbände des vorjährigen Entwurfs erinnert, ist gewiß wohlgemeint, aber sie ist in der jetzigen Fassung unpraktisch, und der Idee des korporativen Zusammenfassens der Berufsgenossen zu selbstverwaltender Tätigkeit entspricht sie nicht.

Was die Zulassung der Privatversicherungsgesellschaften anlangt, so würde durch dieselbe der ganze Gesetzentwurf aus den Angeln gehoben.

“Unternehmer, welche nachweisen”, so lautet der jetzige Antrag Buhl, “daß sie Mitglieder einer zugelassenen Versicherungsgesellschaft sind, bleiben von der Verpflichtung, einer Berufsgenossenschaft beizutreten, befreit.”

Hiernach würde nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zunächst das Verfahren auf Zulassung (Konzessionierung ─ auch die Zulassung nach Normativbestimmungen ist nichts anderes als eine Konzessionierung) also auf Zulassung der Privatgesellschaften durchgeführt werden müssen, wenn anders die Bestimmung einen Sinn haben soll und nicht etwa alle zur Zeit bestehenden einschließlich der in Liquidation befindlichen Gesellschaften eo ipso als zugelassen angesehen werden sollen, was doch unmöglich gemeint sein kann. In Betreff dieser “Zulassung” nun gilt das vorhin Gesagte. Aber abgesehen hiervon und von den dadurch entstehenden Weiterungen, wer bürgt dafür, daß nach Konstituierung der Privatgesellschaften die Bildung geeigneter Berufsgenossenschaften überhaupt noch möglich ist? Die Privatgesellschaften würden in der ersten Zeit alle Kräfte aufbieten, um durch Unterbieten der Prämien die einzelnen Unternehmer an sich zu ziehen. Die besten und die mittelguten Risiken, denen sie niedrige Prämien abverlangen, würden sie vorwegnehmen. Diejenigen Unternehmer ferner, welche überhaupt für öffentliches Leben und Selbstverwaltung keinen Sinn haben, würden darin einen Antrieb finden, den Privatgesellschaften beizutreten, um der Verpflichtung überhoben zu werden, ein Genossenschaftsamt übernehmen zu müssen, und alle jene endlich, welche ihre Betriebseinrichtungen den Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften nicht unterwerfen und ihre Betriebe auf die Beobachtung dieser Vorschriften durch die Genossenschaftsorgane [ Druckseite 561 ] nicht kontrollieren lassen wollen, würden zu den Privatgesellschaften sich wenden. Und wie soll man sich den Zustand denken, der entstehen müßte, wenn für die zur Berufsgenossenschaft gehörenden Betriebe andere Unfallverhütungsvorschriften gelten als für die freigebliebenen Betriebe? Man braucht sich nur in diese Konsequenzen hineinzudenken, um die Unannehmbarkeit des Antrages Buhl zu erkennen. Unverfänglich beim ersten Anblick, wie er auch ist, schlägt der Antrag dem Fasse total den Boden ein. Bei Verwirklichung desselben würde ebenfalls jenes Residuum von Betriebsunternehmern unversorgt übrigbleiben, für welches auch Dr. Buhl gesorgt wissen will. Ist die Bildung von Berufsgenossenschaften aus diesem Residuum überhaupt denkbar, so würde es denselben voraussichtlich in manchen Fällen an intelligenten und potenten Führern fehlen. Leichter könnte man einen landrätlichen Kreis, je nach der Option der einzelnen Eingesessenen, für den einen bürokratisch, für den anderen im Wege der Selbstverwaltung verwalten lassen, als das man Privatgesellschaften neben die obligatorischen Genossenschaften stellt. ─ Auf dem Gebiete des Krankenkassenwesens mit seinen beschränkteren Aufgaben (vorübergehende Unterstützung, keine Unfallverhütung, kein korporatives Leben) hat man ein analoges Experiment mit den eingeschriebenen freien Hilfskassen, die man neben den Zwangskassen zuließ, gemacht. Daß aber selbst dieses Experiment im öffentlichen Interesse gut eingeschlagen sei, wird man ungeachtet der auf diesem Gebiete geringeren Schwierigkeiten schwerlich behaupten können. Die gemachten Erfahrungen ermuntern jedenfalls nicht zu einer Wiederholung.4

Der zweite Teil des Buhlschen Antrags, welcher von dem späteren Übertritt der Betriebsunternehmer aus der Berufsgenossenschaft in die Privatversicherungsgesellschaften handelt, und diesen Übertritt von der Zustimmung der Genossenschaft abhängig machen will, glauben wir hiernach übergehen zu können. Nur das eine möge in bezug hierauf gesagt werden, daß danach jede Genossenschaft es in der Hand haben würde, sich jederzeit leistungsunfähig zu machen, aufzulösen, die Versicherten ins Freie fallen zu lassen oder der Versorgung durch das Reich zu überlassen.

Weitere Einzelheiten: die Frage z. B., wie die Festsetzung der Entschädigungen bei den Privatgesellschaften erfolgen sollte, etwa auch durch Schiedsgerichte ─ also eine doppelte Parallelorganisation der Schiedsgerichte ─ ? ob mit Arbeiterausschüssen operiert werden soll? usw. usw. lassen wir außer Betracht, da der Antrag ohnehin sich als unausführbar erweisen muß, und deshalb angebrachtermaßen abgelehnt werden dürfte. Bei dem zweifellos guten Willen, auf dem die jetzigen Buhlschen Vorschläge beruhen, wird man annehmen dürfen, daß der Herr Antragsteller, wenn er die Konsequenzen seines Vorschlages bis an das Ende durchdenkt, sich selbst überzeugen werde, daß dieser Weg zu einem befriedigenden Ziele unmöglich führen kann.

Es bleibt somit nur die Regierungsvorlage mit einem dazu gestellten Amendement der Vertreter des Zentrums übrig.

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Nach der Regierungsvorlage soll der Bundesrat die Zustimmung zur Bildung von Berufsgenossenschaften versagen können, wenn die von den Beteiligten in Vorschlag gebrachte Genossenschaft nicht leistungsfähig ist oder [...] vgl. Nr. 145, § 12 Ziff. 3.

also z.B. wenn in der Generalversammlung aller deutschen Brauereibesitzer die aus den Süddeutschen bestehende Minderheit die Bildung einer süddeutschen Brauereigenossenschaft beantragte, während die Majorität nur eine Genossenschaft für das ganze Reich will. ─ Dem in dieser Bestimmung des § 12 Ziffer 3 und in der oben mitgeteilten Fassung des § 9 ausgesprochenen Prinzip, daß die Berufsgenossenschaften nicht immer über das ganze Reich sich zu erstrecken brauchen, sondern auch für einzelne Bezirke gebildet werden können, gibt der Antrag des Zentrums einen mehr nach der Seite der kleineren Bildungen neigenden Ausdruck. Der Antrag lautet im Anschluß an die im Eingange dieses Artikels mitgeteilte Wortfassung des § 9 der Vorlage, den § 9 Absatz 1 wie folgt zu fassen [...] Vgl. Nr. 173 , S. 590.

Abg. Frhr. v. Hertling führte zur Begründung des Antrages aus, daß bei Annahme desselben die Beteiligten nicht gehindert wären, wenn sie es wollten, Berufsgenossenschaften für das Reichsgebiet zu bilden, daß aber nach seiner Meinung kleinere Genossenschaften ein regeres korporatives Leben entfalten könnten als die weitausgedehnten, und daß diese kleineren Genossenschaften nach § 30 der Vorlage eine gemeinsame Tragung des Risikos verabreden könnten. Er gab dabei zu erkennen, daß er auf dem Boden der berufsgenossenschaftlichen Organisation stehe, daß er die Zustimmung des Bundesrates zur Errichtung der einzelnen Genossenschaften beibehalten und an die Bedingung der Leistungsfähigkeit knüpfen wolle.

Wenn diese Voraussetzungen zutreffen und zu einem jede Mißbildung ausschließenden gesetzlichen Ausdruck kommen, so erscheint der v. Hertlingsche Antrag den Grundsätzen der Vorlage nicht widersprechend. Bekommen wir damit leistungsfähige Genossenschaften, so mögen es immerhin an Zahl einige mehr sein, als ursprünglich angenommen war. Das sind Einzelheiten der Ausführung, die das Wesen der Sache nicht berühren, sofern nur das fundamentale Prinzip zur Durchführung gelangt.5

Registerinformationen

Personen

  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1Vgl. Nr. 160. Dieser Artikel ist Teil einer (wohl von den Referenten im Reichsamt des Innern verfaßten) Serie (“Die Unfallvorlage in der Reichskommission”) in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung (neben der hier abgedruckten Folge vom 9.4. noch am 6., 10., 11, 13. und 14.4.1884), die die Regierung zur offiziösen Stellungnahme gegenüber der Reichstagskommission benutzte. Autor dieses Artikels dürfte Karl Gamp gewesen sein. »
  • 2Vgl. Nr. 37. »
  • 3Vgl. Nr. 62 Anm. 3. »
  • 4Anspielung darauf, daß die aufgrund der besonderen Intentionen Theodor Lohmanns substitutiv zugelassenen freien Hilfskassen unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes vor allem auch die sozialdemokratische Arbeiterbewegung gestärkt hatten. »
  • 5Vgl. Nr. 145 Anm. 2. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 159, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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