II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 152

1884 März 28

Bericht1 über die erste Sitzung der VII. Kommission des Reichstags

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[Generaldiskussion über die dritte Unfallversicherungsvorlage]

Die VII. Kommission des Reichstags2 trat am 28. d. M. unter Vorsitz des Abg. Frhrn. v. Maltzahn-Gültz in die erste Beratung des Unfallversicherungsentwurfs ein. Als Regierungsvertreter waren anwesend die Herren Staatssekretär v. Boetti-

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cher, Direktor im Reichsamt des Innern Bosse, Geh. Regierungsräte Bödiker und Gamp und Ministerialrat Herrmann. In der Generaldiskussion nahm zuerst Abg. Oechelhäuser das Wort. Das wesentlichste Bedenken gegen die Vorlagen bildeten die übergroßen, unlenksamen Berufsgenossenschaften. Diese müßten durch geographische Verbände ersetzt werden, welche in etwa 12 Bezirken je 4000─10 000 versicherungspflichtige Betriebe aller Arten umfassen würden. Die Gefahrenklassen innerhalb derselben seien von dem Reichsversicherungsamt festzustellen; im übrigen solle und könne in diesen territorialen Genossenschaften wirkliche Selbstverwaltung herrschen; die Arbeiter sollen innerhalb der Vorstände vertreten sein, nicht durch die bedenklichen Arbeiterausschüsse. Das Reichsversicherungsamt, bestehend aus ständigen Beamten und den Vorsitzenden der Bezirksverbände, solle sich möglichst wenig einmischen, aber jedenfalls die allgemeinen Vorschriften über die Unfallverhütung, die Verwaltung des Vermögens und die Umlegung der Deckungskapitalien erlassen. Redner plädierte, wie schon im Plenum, lebhaft gegen das Umlageverfahren, das er jedoch ausnahmsweise für Knappschaftskassen zulassen will, und für die Zulassung der privaten Versicherung; andererseits müßten die Zwangsgenossenschaften befugt sein, auch die nicht versicherungspflichtigen Betriebe aufzunehmen. Auf dem Boden dieser Grundzüge sei wohl eine Vereinbarung zwischen Regierung und Reichstag zu erzielen. Abg. Dr. Barth3: Der Kreis der Vorlage sei viel zu eng; die Baugewerbe, die Land- und Forstwirtschaft, die Transportgewerbe und Speicherarbeit müßten einbezogen werden. Conditio sine qua non für die Freisinnigen4 sei die Aufrechterhaltung der privaten Versicherung; Redner erklärte sich ferner gegen die Dauer der Karenzzeit und prinzipiell gegen das Umlageverfahren. Die freisinnige Partei behalte sich die Einbringung eines eigenen Entwurfs vor, wolle aber zunächst an der Beratung der Vorlage nach Kräften teilnehmen. Abg. Frhr. v. Hertling: Auch ihm sei es sympathisch, die freie Versicherung im Rahmen des Gesetzes möglichst zu erhalten, aber er füge sich der Majorität.5 Abg. Löwe: In dem jetzigen Umfang sei die Unfallversicherungsvorlage nur ein etwas erweitertes Haftpflichtgesetz, durch welches die Arbeiter mehrfach stark geschädigt würden. Innerlich sei kein Grund für den Versicherungszwang, doch werde man sich demselben fügen unter der einen Bedingung, daß die Organisation frei bleibe. Jede Karenzzeit sei zu verwerfen. Möchte die Reichsregierung doch endlich die bedeutenden Punkte, in denen alle Welt bezüglich der Verbesserung der Unfallentschädigung einig sei, ohne die künstliche Organisation dem Reichstage vorlegen. Staatssekretär v. Boetticher: Die Regierung stehe nicht auf dem Standpunkte, daß von der Vorlage nichts abzuhandeln sei, sie werde die Gegenvorschläge sachlich prüfen. Er ersuche daher alle Seiten der Kommission [ Druckseite 547 ] um baldige Einbringung formulierter Anträge. Zuerst sei festzustellen:6 wen wollen wir versichern? und dann erst, wie soll es geschehen? denn es sei richtig, daß bei Erweiterung der Versicherungspflicht die vorgeschlagene Organisation nicht ausreiche. Die Arbeiterausschüsse und Schiedsgerichte ließen sich ausmerzen. Er wundere sich aber über den Widerspruch gegen die Berufsgenossenschaften, da gerade diese das Desiderium sowohl des Zentrums als der Mehrzahl der Industriellen bildeten, besonders auch deswegen, weil diese dann die Gefahrenklassen unter sich aufstellen können. Gegen die Zulassung der Privatgesellschaften seien die verbündeten Regierungen ohne Ausnahme einig, schon weil durch den freien Austritt der einzelnen Unternehmer der Bestand der Zwangsgenossenschaften dem schroffsten Wechsel ausgesetzt sei.7 Abg. Frhr. von Hammerstein8 erklärte sich für Ausdehnung des Gesetzes auf die Land- und Forstwirtschaft und das Handwerk, welche sich recht wohl beruflich organisieren lassen, gegen die 13wöchentliche Karenzzeit und für das Umlageverfahren, welches mit der Berufsgenossenschaft harmonierte und ermögliche, daß Unternehmer noch weitere Opfer für Kürzung der Arbeitszeit, Beseitigung der Sonntags-, der Frauen- und Kinderarbeit etc. bringen können. Abg. Dr. Buhl stellte sich im wesentlichen auf den Standpunkt Oechelhäusers. Er wünschte Ermöglichung des Fortbestandes der Privatversicherungen, namentlich auch im Interesse der nicht versicherungspflichtigen Personen, und glaubte, daß die Privatversicherung neben der Versicherung der Zwangsgenossenschaften denkbar sei, etwa in der Weise, daß man den Unternehmern binnen bestimmter Frist die Wahl gestatte, späteren Austritt aus der Zwangsgenossenschaft aber nicht erlaube. Abg. v. Schirmeister beantragte möglichste Ausdehnung des Kreises der Versicherten und Erhöhung der Entschädigungen. Das Anlageverfahren statt des Umlageverfahrens sei schon durch die Rücksicht auf die beabsichtigte Alters- und Invalidenversorgung geboten.9 Abg. Barth hob die Notwendigkeit der Individualisierung der Risiken hervor; ohne diese Individualisierung sei keine ersprießliche Einrichtung der Versicherung möglich; sie sei aber nur möglich bei der Privatversicherung. Abg. Eysoldt wünschte Heranziehung der beim Eisenbahnbetrieb Beschäftigten. Die Erfahrung lehre, daß die Eisenbahnen, insbesondere die Staatsbahnen, die hartnäckigsten Prozesse mit den Unfallbeschädigten führen. Ministerialdirektor Bosse hielt die Einbeziehung der Land- und Forstwirtschaft für möglich.

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Man habe nur wegen der Schwierigkeiten der Ausführung vorerst von dieser Ausdehnung der Versicherung abgesehen. Die Individualisierung der Risiken sei durch die Vorlage nicht ausgeschlossen; ihre Notwendigkeit stehe auch für die Regierung außer Zweifel. Abg. v. Hertling verwahrte sich gegen den Vorwurf des Partikularismus; er halte aus sachlichen Gründen die Ausdehnung einer Berufsgenossenschaft auf das ganze Reich für untunlich. Dieselbe Industrie arbeite in verschiedenen Gebieten unter ganz verschiedenen Bedingungen. Staatsminister v. Boetticher: Die Ausdehnung über das ganze Reich sei nicht unbedingt nötig, sondern nur subsidiär, soweit sich keine kleinere lebensfähige Genossenschaft bilde.10 Die Generaldiskussion war hiermit erschöpft. Die Kommission beschloß Fortsetzung ihrer Sitzungen bis Ende nächster Woche.

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Eysoldt, Arthur (1832─1907) Rechtsanwalt, MdR (Fortschritt)
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Hammerstein, Wilhelm Freiherr von (1838─1904) Chefredakteur der “Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung”, MdR (konservativ)
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • Schenck, Friedrich (1827─1900) Rechtsanwalt und Notar, MdR (Fortschritt/Deutsche Freisinnige Partei)
  • Schirmeister, Heinrich von (1817─1892) Landrat a.D., MdR (Liberale Vereinigung)
  • Schrader, Karl (1834─1913) Eisenbahndirektor, MdR (Liberale Vereinigung)
  • 1ZfV, 8. Jg. 1884, S. 154, Sitzungsprotokoll (SP): BArchP 01.01 Nr. 3081, fol. 88─91 Rs. »
  • 2Der am 20.3.1884 gewählten Kommission gehörten an: Konservative: August Graf v. Dönhoff-Friedrichstein, Dr. Arnold Frege-Weltzien, Wilhelm Frhr. v. Hammerstein, Helmut Frhr. von Maltzahn-Gültz und Rudolf Wichmann; Deutsche Reichspartei: Dr. Paul von Kulmiz und Arnold Lohren; Zentrum: Heinrich Graf Adelmann, Alois Fritzen, Georg Frhr. zu Franckenstein, Josef Geiger (29.4.-17.5. 1884), Friedrich Frhr. v. Gagern (ab 1.5.1884), Dr. Ferdinand Graf v. Galen (bis 15.5. 1884), Dr. Georg Frhr. v. Hertling, Albert Horn, Dr. Ernst Lieber (28.3.-14.5.1884), Dr. Christoph Moufang, Gerhard Stötzel sowie Carl Frhr. v. Wendt (bis 28.4. und ab 18.5.1884); der am 20.3.1884 gewählte Dr. Ludwig Windthorst trat am 27.3.1884 zurück; Nationalliberale: Dr. Friedrich Böttcher, Dr. Armand Buhl, Dr. Heinrich Marquardsen, Dr. Hermann Müller und Wilhelm Oechelhäuser (bis 15.5.1884); Deutsche Freisinnige Partei: Dr. Wilhelm Barth (vorh. Liberale Vereinigung), Eduard Eberty (vorh. Liberale Vereinigung), Arthur Eysoldt (vorh. Fortschritt), Dr. Egidi Gutfleisch (vorh. Liberale Vereinigung), Dr. Max Hirsch (vorh. Fortschritt), Ludwig Loewe (vorh. Fortschritt), Dr. Anton Rée (ab 1.5.1884), Heinrich v. Schirmeister (vorh. Liberale Vereinigung), Friedrich Schenck ([vorh. Fortschritt] bis 9.5.1884) und Karl Schrader (vorh. Liberale Vereinigung). Auf Regierungsseite nahmen fast durchgängig teil: v. Boetticher, Bosse, Gamp, Herrmann und Kramm. »
  • 3Dr. Wilhelm Barth (1849─1909), Schriftsteller, seit 1881 MdR (Liberale Vereinigung). »
  • 4Gemeint ist die Deutsche Freisinnige Partei, die am 15./16.3.1884 durch Fusion der Fortschrittspartei und der Liberalen Vereinigung gegründet wurde. »
  • 5Das Sitzungsprotokoll verzeichnet zusätzlich: Freiherr v. Hertling wünscht die Bauhandwerker einbezogen zu sehen, wenn es möglich ist; andere Kategorien nur fakultativ. Un- bedingt müsse eine Dezentralisation der Verwaltung eintreten. Im Interesse des föderalistischen Prinzips müßten die Befugnisse des Reichsversicherungsamts soweit beschränkt werden, daß die Selbständigkeit der Einzelstaaten nicht darunter leide. Der Arbeiterausschuß sei unannehmbar, wenigstens in der vorliegenden Gestalt. (vgl. Nr. 175 u. 176) »
  • 6Sitzungsprotokoll: Staatsminister v. Boetticher konstatiert, daß die verbündeten Regierungen nur an der Hand von Wünschen und Anträgen aller Parteien die gegenwärtige Organisation zur Grundlage des Gesetzes gemacht haben. Es sei vielleicht zuzugeben, daß die vorgeschlagene Organisation nicht für alle Klassen von Arbeitern passe. Man müsse deshalb zuerst feststellen. »
  • 7Sitzungsprotokoll: Der Vorschlag des Abg. Oechelhäuser, den geographischen Verband auf Grundlage von Gefahrenklassen wieder als Fundament der Organisation zu nehmen, habe in den Reihen der Beteiligten nur sehr geringen Anklang gefunden. Auch diese geograph. Vereine seien mit dem Fortbestand der Privatversicherungsgesellschaften unvereinbar. »
  • 8Wilhelm Freiherr von Hammerstein (1838─1904), Chefredakteur der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung), seit 1881 MdR (konservativ). »
  • 9Sitzungsprotokoll: “Jeder Arbeiter werde im Laufe der Natur alt”. Die Altersversorgung könne weniger auf die Fürsorge der Mitmenschen rechnen als das Unglück aus Betriebsunfällen; daher hätte zuerst ein Altersversorgungsgesetz vorgelegt werden müssen. »
  • 10Sitzungsprotokoll: Staatsminister von Boetticher macht einer Bemerkung des Abg. Frhr. v. Hertling gegenüber darauf aufmerksam, daß es den einzelnen Industrien überlassen werden solle, sich so zusammenzuschließen, wie die Unternehmer es selbst für das Beste hielten. Nur wenn sich dabei herausstellt, daß diese freie Genossenschaft nicht leistungsfähig ist, muß eine Zusammenlegung mit gleichen oder verwandten Betriebsarten erfolgen; ebenso, wenn der im Reich verbleibende Rest der Betriebe gleicher Art nicht imstande sein sollte, ebenfalls eine leistungsfähige Genossenschaft zu bilden. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 152, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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