II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 148

1884 März 15

Rede1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck im Deutschen Reichstag

Druck, Teildruck

[Reflexionen zum sukzessiven Vorgehen, Auseinandersetzung mit dem Substitutivprinzip zugunsten privatwirtschaftlicher bzw. genossenschaftlicher Unfallversicherungen]

[...] Der Herr Abg. v. Vollmar2 hat zuerst eine gewisse Genugtuung, die nicht frei von Schadenfreude war, darüber ausgesprochen, daß die hochfliegenden sozialistischen Pläne, die der ersten Einbringung dieser Vorlage zugrunde gelegen hätten, verschwunden wären.3 Ja, meine Herren, das ist doch nur scheinbar der Fall. Die Ähnlichkeit unserer dreimaligen Vorlage mit den sibyllinischen Büchern4 ist keine vollständige; dasjenige, was wir heute nicht mit vorlegen, ist nicht dem Feuer überantwortet, sondern nur zurückgelegt. Wir haben eine terra incognita zu erforschen. Das Feld dieser Gesetzgebung ist zuerst mit der Haftpflicht im Jahre 1871 von Deutschland betreten worden und von den übrigen Regierungen bisher nur im Anschluß an die mehr theoretischen als praktischen Vorgänge der diesseitigen Gesetzgebung angeschnitten worden ─ von einigen mehr, von anderen weniger. Da haben wir uns schließlich überzeugt, daß die Schwierigkeiten um so größer sind, je breiter die Front ist, in der wir zuerst auftreten und durch die enge Pforte Ihrer Zustimmung zu marschieren versuchen. Wir haben uns ─ und zwar auf meinen eigenen Antrag, und deshalb gerade halte ich es für meine Pflicht, mich darüber auszusprechen ─ wir haben uns zunächst auf den engsten notwendigen Rahmen beschränkt.5 Mein Kollege v. Boetticher6 hat gestern schon auseinandergesetzt, daß wir damit nicht die Absicht verbinden, die übrigen Berufszweige fallen zu lassen und nicht zu berücksichtigen, sondern daß wir uns nur vor den Gefahren in acht nehmen wollen, auf die das Sprichwort hinweist, daß das Bessere des Guten Feind ist, und daß, wenn man zuviel im einzelnen versucht, man Gefahr läuft, gar nichts

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zu erreichen. Ich möchte, daß wir und der gegenwärtige Reichstag das Verdienst hätten, wenigstens etwas, wenigstens den ersten Anfang auf diesem Gebiete zu machen und auch darin den übrigen europäischen Staaten vorauszugehen. Die Beschränkung ist geboten durch die Betrachtung, daß, je breiter und umfassender die Vorlage ist, je mehr Interessen berührt sind, desto mehr Widerspruch sie bei den Trägern dieser Interessen nach der einen oder anderen Richtung hin wachrufen und hier zur Sprache bringen muß, daß also die Annahme desto schwieriger ist. Das Maß der Beschränkung war meiner Überzeugung nach durch das Maß des Haftpflichtgesetzes geboten; denn ich betrachte es als die erste Aufgabe eines Schrittes auf diesem Gebiete, die Mängel, die sich an den ersten Versuch von 1871, an das Haftpflichtgesetz, geknüpft haben, zu beseitigen. Der Herr Abg. v. Vollmar hat sich dahin ausgesprochen, daß man das Haftpflichtgesetz früher nicht schlecht genug machen konnte und nun doch an dieses Haftpflichtgesetz anknüpfte. Aber gerade dadurch, daß das Haftpflichtgesetz viele Mängel hat, ist ja die Anknüpfung an dasselbe geboten. Die Gesetzgebung muß sich damit beschäftigen, Durchführungsmängel zu beseitigen, ehe sie neue Eroberungen auf dem Gebiete der Nützlichkeit zu machen bestrebt ist. Damit ist die Anknüpfung an das Haftpflichtgesetz gegeben. Die Klagen darüber, die uns zugekommen sind, sind ziemlich allgemein, jedenfalls allgemein genug bekannt, um mich einer Rekapitulation derselben hier zu überheben. Das Resultat ist für uns gewesen: das Haftpflichtgesetz hat nicht zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, wie wir es anstreben, beigetragen. In welcher Art seine Mängel schließlich zu beseitigen sind, ob es nützlich sein kann, die Ungewißheit und die Chancen der Prozesse, die Veranlassung zu Verstimmungen, die das Haftpflichtgesetz geboten hat, auf alle Betriebe auszudehnen, das will ich hier nicht erwägen, dazu werden wir später Zeit haben. [...]

Meine Befürchtung für die Zukunft ist, daß das Deutsche Reich, das die verbündeten Fürsten und freien Städte, das das Heer und das die preußische Dynastie geschaffen haben, wenn wir die Unterstützung des Parlaments, deren wir bedürfen, nicht erreichen können, wenn sie überhaupt nicht zu haben ist, für niemand und für keine Seite im vollen Maße einer Majorität ─ daß das Deutsche Reich wirklich Gefahr läuft, daß es durch Reden und Presse, durch Nichtvertrauen wieder auseinanderfalle oder wenigstens in seinen Bestandteilen so locker werde, daß keine sehr großen europäischen Krisen dazu gehören, um dem Bau, auf dem Sie Kämpfe ausführen, als ob Sie auf Felsengrund, der in der Natur gewachsen ist, ständen, Risse und Erschütterungen beizubringen. Ich hoffe meinerseits, die Verwirklichung dieser meiner Befürchtung nicht zu erleben. [...]

Ich nehme hier Gelegenheit, sofort das Thema der Konkurrenz der Privatversicherungsgesellschaften zur Sprache zu bringen. Der Herr Abg. Bamberger hat namentlich in diesem Punkte Anklagen gegen die Vorlage erhoben; ich komme auf die Ausdrücke, die er gebraucht hat, nachher zurück, aber ich will hier das Prinzip aussprechen im Namen der verbündeten Regierungen, daß wir Unfälle und Unglücksfälle überhaupt nicht für eine geeignete Operationsbasis zur Gewinnung hoher Zinsen und Dividenden halten, daß wir dem Arbeiter die Versicherung gegen diese und andere Übel so wohlfeil verschaffen wollen, wie es irgend möglich ist, und daß wir es für unsere Pflicht halten, den Preis der Versicherung so weit als möglich herunter zu drücken im Interesse der Arbeiter und der Industrie, der Arbeitgeber [ Druckseite 537 ] ebenso wie der Arbeiter. Nun, glaube ich, gibt es niemand, der den Preis so wohlfeil stellen kann, wie er durch die Gegenseitigkeit der Versicherung, die jede Verzinsung perhorresziert, durch den Staat, durch das Reich, gemacht werden kann. Sie haben den Reichszuschuß verworfen, und ich habe mich, um nur etwas zustande zu bringen, dieser Notwendigkeit gefügt ─ oder, ich will richtiger sagen: die verbündeten Regierungen haben sich der Notwendigkeit gefügt, diese ihre Absicht fallen zu lassen und Ihnen so weit entgegenzukommen, daß der Reichszuschuß aus dem Gesetz entfernt ist. Daß jemand eine Privatversicherungsgesellschaft bildet, halte ich nicht für unmoralisch, und ich halte es menschlich auch für ganz natürlich, daß er in diesem Geschäft die Verzinsung seiner Kapitalien erstrebt, wenn es sein kann, auch einen erheblichen Überschuß, eine möglichst hohe Dividende. Aber die ungeheuerlichen Dividenden, welche einige Feuerversicherungsaktiengesellschaften7 ─ 38 bis 50, oder wie viel Prozent jährliche Dividende ─ verdient [ Druckseite 538 ] haben, halte ich in der Tat mit den Grundsätzen der öffentlichen Moral nicht vollständig vereinbar; wenigstens kann der Staat auf diesen Gedanken nicht eingehen.

Etwas anderes aber ist es, ob der Staat das Recht hat ─ unter “Staat” hier immer das Reich gedacht ─ ob der Staat das Recht hat, die Erfüllung einer staatlichen Pflicht, nämlich der, den Arbeiter vor Unfall und vor Not, wenn er geschädigt oder wenn er alt wird, zu schützen, dem Zufall zu überlassen, daß sich Aktiengesellschaften bilden, und daß diese von den Arbeitern und den Arbeitgebern so hohe Beiträge nehmen, wie sie nur irgend erreichen können. Ob er sich diesen Erscheinungen, diesen Schäden gegenüber der Erfüllung der Pflicht, seinerseits zur Verbesserung der Lage etwas zu tun, entziehen will oder nicht, ist eine andere Frage. Sobald aber der Staat überhaupt diese Sache in die Hand nimmt ─ und ich glaube, es ist seine Pflicht, sie in die Hand zu nehmen -, so muß er die wohlfeilste Form erstreben und muß seinerseits keinen Vorteil davon ziehen, sondern den Vorteil der Armen und Bedürftigen in erster Linie im Auge behalten. Man könnte ja sonst die Erfüllung von bestimmten Staatspflichten, wie es also unter anderen die Armenpflege im weitesten Sinne des Wortes ist, wie es die Schulpflicht und die Landesverteidigung sind ─ man könnte ja die Erfüllung aller dieser Staatspflichten mit mehr Recht Aktiengesellschaften überlassen und sich fragen, wer es am wohfeilsten tut, und wer es am wirksamsten tut. Ist die Fürsorge für den Bedürftigen in höherem Maße, als die jetzige Armengesetzgebung es tut, eine Staatspflicht, dann muß der Staat sie auch in die Hand nehmen, er kann sich nicht damit trösten, daß eine Aktiengesellschaft das übernehmen wird. Es kommt dabei dasselbe zur Sprache wie bei den Privateisenbahnen, denen das Verkehrsmonopol ganzer Provinzen in Ausbeutung gegeben wurde. Ebenso kann man auch weiter glauben, daß die gesamte Staatspflicht schließlich der freiwilligen Bildung von Aktiengesellschaften überlassen werden müsse. Das Ganze liegt in der Frage begründet: Hat der Staat die Pflicht, für seine hilflosen Mitbürger zu sorgen, oder hat er sie nicht? Ich behaupte, er hat diese Pflicht, und zwar nicht bloß der christliche Staat, wie ich mir mit den Worten “praktisches Christentum” einmal anzudeuten erlaubte8, sondern jeder Staat an und für sich. Diejenigen Zwecke, die der einzelne erfüllen kann, wäre es Torheit, für eine Korporation oder gemeinsam in die Hand zu nehmen; diejenigen Zwecke, die die Gemeinde mit Gerechtigkeit und Nutzen erfüllen kann, wird man der Gemeinde überlassen. Es gibt Zwecke, die nur der Staat in seiner Gesamtheit erfüllen kann. Ich will über die über der Gemeinde liegende Korporation der Provinz oder des Einzelstaates hinweggehen. Zu diesen letzten Zwecken gehört die Landesverteidigung, gehört das allgemeine Verkehrswesen, gehört alles mögliche, was in der Verfassung in Art. 4 besagt ist. Zu diesen gehört auch die Hilfe der Notleidenden und die Verhinderung solcher berechtigter Klagen, wie sie das wirklich nutzbare Material zur Ausbeutung durch die Sozialdemokratie ja in der Tat [ Druckseite 539 ] gibt [recte: geben]. Das ist die Staatsaufgabe, der wird sich der Staat nicht auf die Dauer entziehen können.

Wenn man mir dagegen sagt, das ist Sozialismus, so scheue ich das gar nicht. Es fragt sich, wo liegt die erlaubte Grenze des Staatssozialismus? Ohne eine[n] solche[n] können wir überhaupt nicht wirtschaften. Jedes Armenpflegegesetz ist Sozialismus. Es gibt ja Staaten, die sich vom Sozialismus so fern halten, daß Armengesetze überhaupt nicht bestehen ─ ich erinnere Sie an Frankreich. Aus diesen französischen Zuständen erklärt sich ganz natürlich die Auffassung des ausgezeichneten Sozialpolitikers, den der Herr Abgeordnete Bamberger zitierte, Léon Say; in diesem spricht sich eben die französische Auffassung aus, daß jeder französische Staatsbürger das Recht hat zu verhungern, und daß der Staat nicht die Verpflichtung hat, ihn an der Ausübung dieses Rechts zu verhindern. [...]

Er [der Abgeordnete Ludwig Bamberger] nennt die ganze Sache künstlich. Ja, meine Herren, die Sache ist in der Tat nicht so leicht, und ohne Künstlichkeit lassen sich so verwickelte, schwierige, umfängliche Fragen, wie die vorliegende ist, nicht lösen. Wenn die Sache so einfach wäre, dann könnten sie uns mit Recht den Vorwurf machen, daß wir ein so künstliches Gebäude aufrichten. Machen Sie es doch Ihrerseits besser, weniger künstlich und einfacher ─ der Reichstag hat die Initiative der Gesetzgebung -, aber stellen Sie sich nicht ganz passiv zu dieser Sache, oder bekennen Sie aufrichtig: Wir wollen fortfahren, die Aktiengesellschaften in ihren Dividenden zu schützen, und nach Kräften die Kapitalien, die in diesen Gesellschaften stecken, auszubeuten, so gut wir können. Das ist auch ein Standpunkt. [...]

Im übrigen aber glaube ich, daß die politischen Parteien und die Gruppierung nach hoher Politik und politischen Programmen sich überlebt haben. Sie werden allmählich, wenn sie es nicht freiwillig tun, gedrängt werden, daß sie Stellung nehmen zu den wirtschaftlichen Fragen und mehr als bisher Interessenpolitik treiben. Es liegt das im Geiste der Zeit, der stärker ist als sie sein werden. [...] Jedenfalls werden unsere Kinder und Enkel für unsere heutigen Fraktionskämpfe nur ein Achselzucken haben und ihr Bedauern darüber aussprechen, daß unsere Zeit so gehandelt hat. Ein Hauptgrund der Erfolge, die die Führer der eigentlichen Sozialdemokratie mit ihren bisher noch nirgends klar hingestellten Zukunftszielen gehabt haben, liegt meines Erachtens darin, daß der Staat nicht Staatssozialismus genug treibt; er läßt ein Vakuum an einer Stelle, auf der er tätig sein sollte, und dieses wird von anderen, von Agitatoren, die dem Staat ins Handwerk pfuschen, ausgefüllt. Die Machtmittel, die auf diesem Gebiete zu finden sind, fallen in andere als staatliche Hände, und den Gebrauch, der gemacht wird, können wir doch nicht mit sicherer Ruhe abwarten. Der Herr Abg. v. Vollmar hat, wie ich aus diesem vollständigen Resumé, welches der Herr Abg. Bamberger gegeben hat, ersehen habe, seinerseits zugegeben, daß die Ideale der Sozialdemokratie überhaupt in einem einzelnen Staate nicht verwirklicht werden könnten, sondern nur dann erreichbar wären, wenn eine allgemeine internationale Grundlage gegeben wäre. Ich glaube das auch, und deshalb halte ich sie für unmöglich, denn diese internationale Grundlage wird nie vorhanden sein; aber selbst wenn das der Fall wäre, so möchte doch die Zwischenzeit lang genug sein, um einen modus vivendi für sie zu finden, der für die Bedrückten und Notleidenden bei uns etwas erträglicher und angenehmer [ Druckseite 540 ] ist. Mit Anweisungen, die vielleicht im nächsten Jahrhundert noch nicht fällig sind, können wir sie doch nicht trösten; wir müssen etwas geben, was von morgen oder übermorgen ab gilt. [...]

Der Herr Abg. Bamberger hat sodann gegen das Umlageprinzip im allgemeinen einiges geäußert, was ich nicht so scharf motiviert finde, wie seine Äußerungen sonst zu sein pflegen. Er sagt: Wir versündigen uns mit dem Umlageprinzip an der Zukunft des Reichs, namentlich an der Zukunft, die nach siebzehn Jahren folgen wird, also von 1901 ab. Ich möchte umgekehrt sagen: Wenn wir jetzt sofort die gesamte Last übernehmen, würden wir uns an der Gegenwart versündigen; wir würden uns an der Möglichkeit der Einführung versündigen, wenn wir ganz plötzlich eine sehr viel größere Last, als zur Einleitung und Ausprobierung dieses Systems überhaupt nötig ist, übernehmen wollten. Das ist für mich ein ganz unannehmbarer Gedanke, die Kosten dieser Entdeckungsreise, die wir in ein unbekanntes Land machen, sofort auf einen Maßstab hinauf zu schrauben, der der indizierte wäre, wenn wir dieses unbekannte Land annektiert haben und mit einem gewissen Luxus regieren. Ich will mich darauf beschränken, dieser Behauptung der Sünde an der Zukunft zu widersprechen. Die Sünde an der Gegenwart halte ich für eine Todsünde. Die Vergangenheit hat manches an uns gesündigt, und wir müssen es eben auch tragen, aber ich glaube, hier liegt noch gar keine Sünde an der Zukunft vor.

Ich habe vorher bei Gelegenheit der Privatversicherungen und deren Konkurrenz eine Seite der Sache noch zu berühren vergessen, das ist nämlich die Privatversicherung auf Gegenseitigkeit. Ich glaube, daß wir durch deren Zulassung uns die Ausführung des Unternehmens, das die verbündeten Regierungen vorhaben, wesentlich erschweren würden; wir würden auf diese Weise eine Konkurrenz herstellen, deren erstes Ergebnis notwendig eine Verteuerung des Unternehmens sein würde wegen Verkleinerung des Wirkungskreises. Der übergroße Wirkungskreis wird hier getadelt. Herr v. Boetticher hat schon gesagt: Er ist nicht größer als der mancher Privatgesellschaft. Aber gerade in seiner Größe liegt die Tragfähigkeit, und die staatliche Einrichtung würde außerordentlich viel kostspieliger werden, wenn sie sich nicht auf das Ganze erstreckte. Die Verwaltung jeder einzelnen Genossenschaft würde kostspieliger werden, wenn sie einen beliebigen Unfall ihrerseits in partes übernehmen könnte für eigene Versicherung. Ich würde darin eine Lähmung sehen für das Gedeihen, die die Aufrichtigkeit, die Wirksamkeit unserer Probe, die wir machen, in Zweifel stellen würde, und die ich für gefährlich halte. [...]

Wenn der Herr Abg. Bamberger davon spricht, daß einer sozialistischen Schrulle zuliebe das längst beseitigte [recte: befestigte] Versicherungswesen im Reiche aufgehoben werden solle, so erwidere ich: Wenn der Staat sich überhaupt mit der Unfallversicherung beschäftigt, so ist das jetzige Versicherungswesen eben zu teuer. Es ist gefestigt, aber auf wessen Kosten? Auf Kosten der notleidenden Armen und auf Kosten der Industrie, deren Exportfähigkeit durch die Lasten, die ihr durch die Versicherung auferlegt werden, gemindert wird, und diese Lasten gerade wollen wir unsererseits erleichtern durch die generelle und deshalb wohltätige Einrichtung.

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Ich glaube, ich bin am Ende des Fadens, den mir die Vorredner gegeben haben, angelangt, und habe dieser meiner Stellungnahme zu der Diskussion von gestern und vorgestern nur die Bitte hinzuzufügen, daß die Herren den verbündeten Regierungen ihrerseits entgegenkommen und ihnen als Pfadfinder in einem unbekannten Lande, das zu betreten wir für eine staatliche Pflicht halten, als Führer nach ihrer Erfahrung und ihrer Ansicht dienen, aber nicht daran zweifeln, daß es uns ehrlich darum zu tun ist, den inneren Frieden und namentlich den Frieden zwischen Arbeiter und Arbeitgeber zu festigen und zu einem Ergebnis zu gelangen, wodurch wir in den Stand gesetzt werden, auf eine Fortsetzung dieses Ausnahmegesetzes, das wir Sozialistengesetz benennen, staatlicherseits zu verzichten, ohne das Gemeinwesen neuen Gefahren dadurch auszusetzen.

Registerinformationen

Personen

  • Bamberger, Ludwig (1823─1899) Politiker und Schriftsteller, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Oechelhäuser, Wilhelm (1820─1902) Industrieller, MdR (nationaliberal)
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • Vollmar, Georg von (1850─1922) bayer. Offizier a.D. und Redakteur, MdR (Sozialdemokrat)
  • 1Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 1, S. 71 ff. ─ Die Rede Bismarcks, die vor allem auf die Kritik Georg von Vollmars (vom sozialistischen Standpunkt) und Ludwig Bambergers (vom liberalen Standpunkt) replizierte, ist vollständig abgedruckt bei Horst Kohl, Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Bd. 9, Stuttgart 1894 (ND Aalen 1970), S. 31 ff. und in den Gesammelten Werken, Bd. 12, Berlin 1929, S. 416 ff. »
  • 2Georg von Vollmar (1850─1922), bayr. Offizier a.D. und Redakteur, seit 1873 Sozialdemokrat, seit 1881 MdR (SPD). »
  • 3Mit einer groß angelegten Rede hatte Georg v. Vollmar am 13.3.1884 die Debatte über die dritte Unfallversicherungsvorlage eröffnet und dabei vor allem die materielle Verschlechterung des Leistungsprofils von der ersten bis zur dritten Vorlage kritisiert (Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 4, S. 35 ff.). »
  • 4Nach der römischen Sage bot die Sibylle von Cumae dem König Tarquinius Superbus neun Rollen ihrer Weissagungen zum Kauf an und warf, als dieser den geforderten Preis zu hoch fand, erst drei, dann wieder drei Rollen ins Feuer, worauf der König für die übrig gebliebenen drei Rollen den ursprünglich für alle neun Rollen verlangten Kaufpreis zahlte. »
  • 5Vgl. Nr. dazu seine Randbemerkungen zu Nr. 125 und 133. »
  • 6Vgl. Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 1, S. 58 ff. »
  • 7Sten. Ber. RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 1, S. 52 ff., vgl. dazu das Schreiben Bismarcks (in seiner Funktion als preuß. Handelsminister) an den Reichskanzler vom 22.12.1882 (Abdruck: Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck, Bd. 2, S. 119 ff.); zum Gesamtkomplex auch Nr. 85 Anm. 6 und die von Dr. Julius Hopf verfaßte Schrift Feuerversicherungsbank für Deutschland (Hg.): Denkschrift betreffend den öffentlichen und Privat-Betrieb in der Feuerversicherung, Gotha 1884. Im Herbst 1883 waren die entsprechenden Verstaatlichungspläne aber wohl schon wieder ad acta gelegt, jedenfalls brachte am 7.10.1883 die Kölnische Volkszeitung (Nr. 275) folgende “offiziöse Notiz”: Neuerdings wird in der Presse die Frage wegen allgemeiner Regelung des Versicherungswesens vielfach erörtert und hierbei auf ein Schreiben des Reichskanzlers an die Bundesregierungen zurückgegangen. Wenn man dabei wiederholt darauf zurückkommt, daß es sich um die Absicht einer Verstaatlichung des Versicherungswesens oder bestimmter Zweige desselben handele, so befindet man sich hierüber, dem Vernehmen nach, im Irrtum. Fürst Bismarck geht zufolge verschiedener Äußerungen von der Ansicht aus, daß Gesellschaften auf Gegenseitigkeit vor Aktiengesellschaften bei den meisten Versicherungsarten den Vorzug verdienen. In einer Zuschrift sind die Landesregierungen um Material hierzu ersucht worden. Zugleich hält es Fürst Bismarck, wie verlautet, für zweckmäßig, daß die einzelnen Bundesstaaten von Staats wegen einzelne Zweige des Versicherungswesens in die Hand nähmen und den Aktiengesellschaften erfolgreiche Konkurrenz machten. Im ganzen hat man dem an die Einzelstaaten gerichteten Ersuchen wegen Lieferung statistischen Materials entsprochen, doch hat sich wenig Neigung zur praktischen Ausführung des letzteren Vorschlages gezeigt. Nur Bayern hat einen den Intentionen des Reichskanzlers entsprechenden Schritt getan, indem es die Hagelversicherung durchaus verstaatlichen will. Dafür, daß anderwärts, z. B. in Preußen, ähnliche Schritte geschehen, liegt noch kein Anzeichen vor; eine vollkommene Verstaatlichung dürfte überhaupt außer aller Erwägung liegen, da man nur die Errichtung von staatlichen Konkurrenzinstituten im Auge hatte. Die Versicherungsfrage selbst ist dem Anscheine nach augenblicklich andern Gegenständen gegenüber ziemlich in den Hintergrund getreten, und es gilt für wahrscheinlich, daß die reichsgesetzliche Regelung dieser Materie auch in der nächsten Session des Reichstages noch nicht zur Beratung gelangt; vgl. hierzu aber auch das Schreiben von Graf Wilhelm v. Bismarck an v. Rottenburg v. 31.12.1883 (Heinrich v. Poschinger, Aktenstücke..., Bd. 2, S. 147). Im übrigen gab es in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert bereits eine Reihe öffentlicher Feuersozietäten (Brandkassen) auf städtischer oder ländlicher, ständischer oder provinzieller Grundlage, in den kleineren Staaten auch wohl für das ganze Staatsgebiet, die in der Regel Immobiliarversicherung abdeckten und für die Beitrittszwang galt. Bayern schuf ─ wohl als Folge der Bismarckschen Anregungen ─ durch Gesetz vom 13.2.1884 auch eine staatliche Hagelversicherungsanstalt. Auf Reichsebene kam es erst durch das Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen vom 12.5.1901 zu einer verstärkten Einflußnahme des Staates auf das Versicherungswesen mittels eines Systems der Konzessionierung und materiellen Staatsaufsicht. »
  • 8Vgl. hierzu Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, S. 584 ff. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 148, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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