II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 140

1884 Februar 11

Immediatbericht1 des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher für den Deutschen Kaiser Wilhelm I.

Ausfertigung

[Die Bundesregierungen und der Volkswirtschaftsrat haben den Grundzügen weitgehend zugestimmt, sozialpolitisch nicht vertretbar erscheint, daß der letztere die selbständigen Arbeiterausschüsse abgelehnt hat. Bitte um Ermächtigung zur Vorlage eines aufgrund der Grundzüge auszuarbeitenden Gesetzentwurfs im Bundesrat]

Eure Kaiserliche und Königliche Majestät haben mittels Allerhöchsten Erlasses vom 10. Dezember v. J.2 die Ermächtigung zu erteilen geruht, daß nach den in dem alleruntertänigsten Berichte vom 6. desselben Monats3 vorgetragenen Grundzügen der Entwurf eines Gesetzes über die Unfallversicherung der Arbeiter ausgearbeitet werde.

Inzwischen ist den verbündeten Regierungen Gelegenheit gegeben, sich über jene Grundzüge, welche zu dem Ende ausführlicher formuliert und mit einer Begründung versehen waren, zu äußern und liegt zur Zeit bereits eine Reihe von solchen meist zustimmenden Äußerungen vor.4

Eurer Majestät Staatsministerium hat den Volkswirtschaftsrat über jene Grundzüge gehört und, nachdem derselbe in den wesentlichen Punkten zustimmende Beschlüsse gefaßt, Bedenken gegen dieselben bisher nicht erhoben.

Nur in betreff der unter Ziffer 1 des oben erwähnten Berichts behandelten versicherungspflichtigen Betriebe ist der Volkswirtschaftsrat der Ansicht, daß die Ausschließung derjenigen mit Dampfkesseln oder Motoren arbeitenden Betriebe, welche weniger als drei Arbeiter beschäftigen, nicht genügend gerechtfertigt erscheine, daß es sich vielmehr empfehle, in dieser Hinsicht zu der früheren Vorlage zurückzukehren. Denn auch in diesen kleineren Motorenbetrieben sei die Unfallgefahr stellenweise eine nicht geringe, und es sei nicht ausgeschlossen, daß wenigstens einige derselben von den Gerichten als “Fabriken” unter das Haftpflichtgesetz subsumiert würden. Es liege aber ein dringendes Interesse vor, die Haftpflichtprozesse auch zwischen den Unternehmern dieser kleineren Betriebe und ihren Arbeitern zu beseitigen.

[ Druckseite 494 ]

Wenn ich in diesem Punkte mich dem Vorschlage des Volkswirtschaftsrats anschließen kann, so vermag ich dagegen dem auf die Beseitigung selbständiger Arbeiterausschüsse gerichteten Votum des Volkswirtschaftsrats nicht beizupflichten. Die an deren Stelle von dem letzteren projektierten gemischten Ausschüsse, welche zur Hälfte aus Arbeitgebern und zur Hälfte aus Arbeitnehmern bestehen sollen, würden nach den vorliegenden Erfahrungen in Arbeiterkreisen auf großes Mißtrauen stoßen und die sozialpolitische Wirkung des Gesetzentwurfs unzweifelhaft beeinträchtigen.

Die übrigen vom Volkswirtschaftsrat vorgeschlagenen Bestimmungen bewegen sich auf dem Boden der in dem alleruntertänigsten Berichte vom 6. Dezember v. J. zum Vortrag gebrachten Grundzüge.

Bei der Kürze der seit der Beschlußfassung des Volkswirtschaftsrats verstrichenen Zeit hat bis jetzt erst der anliegende Gesetzentwurf, noch nicht aber die Ausarbeitung der Begründung desselben zum Abschlusse gebracht werden können. Letzterer wird erst in den nächsten Tagen erfolgen.

Da indessen die Sitzungen des Bundesrats, in welchen der dem Reichstag vorzulegende Gesetzentwurf zu beraten ist, binnen kürzester Frist werden beginnen müssen5, so gestatte ich mir im Einverständnisse mit dem Reichskanzler Eure Majestät alleruntertänigst zu bitten,

Allerhöchstdieselben wollen durch huldreiche Vollziehung des im Entwurfe anliegenden Allerhöchsten Erlasses die Ermächtigung zur Vorlegung des Entwurfs eines Gesetzes über die Unfallversicherung der Arbeiter an den Bundesrat Allergnädigst erteilen.

Registerinformationen

Personen

  • Dollfus-Ausset, August (1832─1911) Textilindustrieller in Mülhausen/Elsaß
  • Köchlin, Eduard (1823─1914) Textilindustrieller und Bürgermeister von Weiler, Kreis Thann
  • Manteuffel, Edwin von (1809─1885) Statthalter in Elsaß-Lothringen
  • Schlumberger, Jean (1819─1908) Textilfabrikant
  • Wendel, Heinrich de (1844─1906) Industrieller, MdR (Protestpartei)
  • 1GStA Dahlem 2.2.1 Nr. 29949, fol. 164─168; Konzept von der Hand Bödikers vom 9.2., von Gamp und Bosse am gleichen Tag, von Boetticher am 11.2.1884 paraphiert: BArchP 15.01 Nr. 388, fol. 137─141. Mit Schreiben vom 10.2.1884 hatte von Boetticher bei Graf Rantzau angefragt, ob Bismarck Wert darauf legt, den Immediatbericht an den Kaiser selbst zu unterzeichnen und (lt. Randvermerk Rantzaus) die Antwort erhalten S.D. verzichte auf vorgängige Einsicht im Entwurf und bäte um Beschleunigung (BArchP 07.01 Nr. 510, fol. 11). »
  • 2Vgl. Nr. 131 Anm. 1. »
  • 3Vgl. Nr. 131. »
  • 4Vgl. Nr. 134 Anm. 3. »
  • 5Die Beratungen des Bundesrats begannen am 13.2.1884. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 140, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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