II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 126

1883 November 25

Zweitfassung der Direktiven1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck für die dritte Unfallversicherungsvorlage

Reinschrift

[Die neue Unfallversicherungsvorlage ist nur der Anfang der entsprechenden Gesetzgebung, die Kriterien und Ziele der Gesetzesvorlage für die Ausarbeitung der Gesetzesvorlage werden genannt und begründet]

Für den dem Reichstag vorzulegenden Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes sind die nachstehenden Gesichtspunkte festzuhalten:

1) Beseitigung des Haftpflichtgesetzes und seiner nachteiligen Rückwirkung auf die Beziehungen zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern. Dieser Zweck ist der nächstliegende und adera ursprüngliche Anlaß für das Einschreiten der Gesetzgebung auf diesem Gebiete. a Meiner Ansicht nach wird es für die Förderung des Werkes nützlich sein, diesen Ausgangspunkt festzuhalten und den Entwurfa zunächst auf die von der Haftpflicht betroffenen Betriebe einzuschränken. aWenna diesem anächstliegendena Zwecke entsprochen asein wird, so wird es leicht seina, die Vorteile, welche das aeinea Gesetz gewähren soll, aje nach dem Bedarf und den Erfahrungen bei der Ausführunga auch anderen von der Haftpflicht nicht betroffenen Betrieben aim Wege der Novellea zugänglich zu machen. aWird dagegen der Plan festgehalten, sofort allgemeine und erschöpfende Institutionen ins Leben zu rufen, so befürchte ich, daß die Größe der damit gestellten Aufgabe ihre Lösung schon in den ersten Anfängen hindern und das Beste sich wieder als des Guten Feind betätigen werde. Ich schreibe den Plan, sofort eine vollendete und durchgreifende Reform zu fordern, den Gegnern jeder Reform zu.a

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2) Die Kosten der Unfälle eines jeden Jahres sind am Ende desselben durch Umlagen auf die nach dem Gesetz zur Tragung Verpflichteten auszuschreiben, während im Laufe des Jahres die vorschußweise Befriedigung der Beschädigten aus Staatsmitteln geleistet wird, so daß der Staat resp. das Reich den einjährigen Bedarf aller Versicherten als Betriebskapital auslegt und sich durch Umlage am Schlusse des Jahres bezahlt macht.

Ob weitere Staatshilfe erforderlich werden wird, ist eine Frage, die sich erst aufgrund einer mindestens zehnjährigen und längeren Erfahrung wird entscheiden lassen.

a3) Die Höhe der Ansprüche des Beschädigten oder seiner Hinterbliebenen bleibt nach den Sätzen der jüngsten Vorlage zu bemessen. Das Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 enthielt darüber keine Details. Wenn diese dem Zustandekommen hinderlich würden, so könnten sie in gleicher Weise ad separatum verwiesen werden. Die Ansprüche eines Beschädigten für das 1. Quartal regeln sich nach dem Gesetz über Krankenversicherung, auch im Bereich der Haftpflicht und kommt hier nur der Anspruch des Krankenversicherungsverbandes gegen den Haftpflichtigen zur Regelung.a

Die Beitragspflicht ruht auf Berufsgenossenschaften; jeder von dem Haftpflichtgesetz betroffene Betrieb ist einer solchen anzuschließen.

Betriebe, deren Genossen zahlreich und leistungsfähig genug sind, um in sich selbst eine dem Zweck entsprechende Korporation bilden zu können, werden ausschließlich aus Genossen des gleichartigen Betriebes gebildet, adiesea haften, wenn es sein kann, im ganzen Reich, evtl. asonsta im ganzen Staate asolidarischa für die unter ihren Berufsgenossen vorkommenden Unfälle. Die Gesamtkorporation ader zahlreicheren Betriebsgenossenschaften kanna nach Maßgabe der geographischen Verteilung aihrera Genossen in Sektionen geteilt werden, welche den Sitz ihrer Verwaltung in den aHauptazentren der beteiligten Industrien haben: geringere Unfälle sind von den Sektionen innerhalb ihres geographischen Bezirks selbständig zu erledigen, schwerere unterliegen der Revision durch die Zentralleitung der gesamten Berufsklasse.

Solche Betriebe, an denen die Beteiligung nicht zahlreich oder nicht leistungsfähig genug ist, um der Versicherung als Unterlage zu dienen, sind mit anderen derselben aoder annähernd der gleichena Gefahrenklasse angehörigen von verwandter und gleichartiger Natur zu einer Korporation zusammenzuschließen. Dieser Zusammenschluß erfolgt da, wo er nicht freiwillig in einer die Aufsicht führende Staatsbehörde befriedigenden Gestaltung zustande kommt, nach Anordnung der Aufsicht führenden Staatsbehörde.

4) Jeder vom Haftpflichtgesetz betroffene Betrieb muß in einer der genossenschaftlichen Korporationen aauf der Basis der Gegenseitigkeita versichert sein und wird, wenn der Beteiligte in einer präklusivischen Frist keine der Aufsichtsbehörde annehmbare Wahl trifft, von ihr der entsprechenden Genossenschaft mit der Wirkung zugeschrieben, daß die auf ihn zur Repartition gelangenden Beiträge gleich den Kommunallasten exekutivisch beigetrieben werden können.

5) Den Genossenschaften steht die Beaufsichtigung eines jeden ihnen angehörigen Betriebes behufs Verhütung von Unfällen zu, so daß auf die Bestimmungen über die zu diesem Zweck erforderlichen Vorkehrungen dieselbe Korporation, welcher die Deckung der vorkommenden Unfälle obliegt, aeinen maßgebenden Einfluß übta.

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6) Die Genossenschaften verwalten ihr Versicherungswesen selbständig durch gewählte Organe unter Aufsicht des Staats resp. des Reichs und verpflichten sich zum Zweck der schleunigen Feststellung der Unfälle einander zu unterstützen, so daß da, wo eine Berufsgenossenschaft einzelnen geographisch entlegenen Betrieben gegenüber die Organe zur Wahrnehmung ihrer Interessen nicht rechtzeitig zur Stelle zu bringen vermag, die Vertreter jeder anderen, womöglich der nächstverwandten Berufsgenossenschaft der Requisition der beschädigten Genossenschaft zu entsprechen hat. Wo aaucha dies nicht aausführbara, ist die Genossenschaft durch die geeigneten Organe der Staatsbehörde in der betreffenden Lokalität nach Bedarf zu vertreten. aDie geographische Entlegenheit einzelner Betriebe von ihresgleichen kann unter Umständen die Beteiligung an Diskussionen und Wahlen erschweren, letztere sind aber nicht Hauptsache, sondern Modalitäten der Ausführung, die Hauptsache ist die Gegenseitigkeit der Versicherung, die Beitragspflicht und das Recht auf Befriedigung aus der Genossenschaft, ohne daß von Unglücksfällen Dividenden oder Zinsen erhoben werden und ohne daß verbitternde Streitigkeiten auf der Haftpflichtbasis entstehen könnena.

Registerinformationen

Personen

  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 07.01 Nr. 509, fol.204─209 und ebd., 15.01 Nr. 385, fol.228─235. Die Erstfassung der Direktiven in Reinschrift (vgl. Nr. 111) vom 27.9.83 wurde von Bismarck diktiert, so Kanzleivermerk auf der Zweitfassung (07.01 Nr. 509, fol. 204); B. hat die Erstfassung auf der Reinschrift zu einer erweiterten Zweitfassung umgearbeitet (15.01 Nr. 386, fol. 125─130 Rs., mit Vermerk v. Schreiberhand: Direktive des Herrn Reichskanzlers, sodann: Reinkonzept nach Friedrichsruh 22.11.83 v. Boetticher), davon wurden zwei Reinschriften angefertigt (07.01 Nr. 509, fol. 204─209 u. 15.01 Nr. 385, fol. 228─235). Die handschriftlichen Abänderungen Bismarcks der Erstfassung sind durch aa gekennzeichnet. Die Datierung erfolgt durch die Bearbeiter, die Zweitschrift muß zwischen dem 20.11. u. 26.11.1883 in Friedrichsruh entstanden sein, sie dürfte Bestandteil der Sendung, betreffend das Unfallversicherungsgesetz gewesen sein, die v. Boetticher am 27.11.1883 erhielt (vgl. Nr. 128). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 126, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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