II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 123

1883 November 4

Bericht1 des bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Ausfertigung, Teildruck

[Bericht über die Arbeiten im Reichsamt des Innern an der dritten Unfallversicherungsvorlage und Bismarcks politische Absichten nach Informationen Karl Heinrich von Boettichers]

Herr von Boetticher hat mir vor einigen Tagen vertrauliche Mitteilungen über den Stand der Unfallgesetzgebung gemacht.

Danach ist es richtig, wie die Zeitungen schon gemeldet haben, daß zur Zeit Geheimer Oberregierungsrat Lohmann von der Mitarbeit bei dem neuen Entwurfe ausgeschlossen ist. Geheimer Oberregierungsrat Lohmann hat mit dem Reichskanzler über den Gegenstand wiederholt konferiert und dabei mit der Auffassung nicht zurückgehalten, daß er die Ideen des Fürsten für unausführbar halte. Dies hat den [ Druckseite 397 ] Reichskanzler veranlaßt, von Herrn von Boetticher zu verlangen, daß die Arbeit in andere Hände gelegt werde.2

Nun hat Herr von Boetticher auf Verlangen des Reichskanzlers gleichzeitig drei Personen mit der Redaktion von Grundzügen beauftragt. Soviel mir bekannt, den Geh. Regierungsrat Bödiker und den Geh. Regierungsrat Magdeburg, beide im Reichsamt des Innern, und einen Vortragenden Rat im preußischen Handelsministerium. 3

Der Erstgenannte hat sich darauf beschränkt, eine gedrängte Periphrase der Ideen des Reichskanzlers, wie dieser sie Herrn von Boetticher in Friedrichsruh mitgeteilt hat, zu geben, während die beiden anderen Herrn, welche gemeinschaftlich arbeiteten, mehr in das Detail eingegangen sind und die Konsequenzen aus dem Grundgedanken gezogen haben.4 So sind zwei Entwürfe von Grundzügen entstanden, welche demnächst dem Reichskanzler unterbreitet werden sollen.

Wie Herr von Boetticher mir weiter vertraulich mitteilt, hat er die ganze Materie mit dem Fürsten durchberaten und hat diesem versprechen müssen, daß ganz nach dessen eigenen Intentionen gearbeitet werden wird. Der Fürst hat unter anderem Herrn von Boetticher gesagt, daß er diese Vorlage als sein eigenes Werk der Nation übergeben wird; ob sie gleich angenommen werde oder erst nach langen Jahren, sei ihm gleichgültig. Nach Herstellung dieser Arbeit wolle er sich von derartigen reformatorischen Arbeiten zurückziehen.

Was nun den Inhalt der kanzlerischen Ideen und somit der vorliegenden Grundzüge betrifft, so erfahre ich darüber Folgendes:

Wie nach den früheren Entwürfen, so ist auch jetzt die Unfallversicherung obligatorisch und exklusiv gedacht, also nach dem Prinzip des Versicherungszwanges und des Ausschlusses privater Versicherungen.

Die Grundlage der Organisation sollen Berufsgenossenschaften werden, also die Zusammenfassung aller an demselben Gewerbe Beteiligten im ganzen Reich. Diese allgemeine Regel soll Ausnahmen erfahren, insofern als Berufszweige, welche in einem Lande oder in einer Provinz eine besondere Entwicklung aufweisen, auch eine geographisch abgegrenzte besondere Berufsgenossenschaft bilden werden. Beispielsweise der rheinische oder der schlesische Bergbau. Abgesehen von diesen Ausnahmen sind 32 Berufsgenossenschaften gedacht.5

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Die Gefahrenklassen der früheren Entwürfe werden beibehalten, sie werden jedoch nur bei der Bestimmung der Beitragspflicht in Betracht kommen.

Im Gegensatz zu den früheren Entwürfen soll der neue hinsichtlich der Organisation nur allgemeine Bestimmungen enthalten. Alles weitere soll den einzelnen Genossenschaften überlassen bleiben, welche demnach ihre spezielle Organisation und ihren Geschäftsbetrieb selbst regeln werden.

Die Beiträge werden nur von den Arbeitgebern geleistet. Der Staatszuschuß ist aufgegeben. Der Reichskanzler wünscht jedoch, daß der Staat doch noch insoweit eine finanzielle Unterstützung leistet, als durch ihn die im ersten Jahre fälligen Entschädigungen vorgeschossen werden.

Da die Entschädigungen jedoch nicht kapitalisiert, sondern in Jahresbeträgen geleistet werden sollen und also der Vorschuß der erstjährigen Rate eine minime Summe ausmachen wird, so nimmt man an, daß der Reichskanzler wohl auch auf diesen Rest des aufgegebenen Staatszuschusses verzichten wird.

Wenn ich nun meine unmaßgebliche Ansicht hier aussprechen darf, so gestehe ich, daß die dargelegten Grundgedanken mir nicht durchführbarer erscheinen als der vorjährige Entwurf. Herr von Boetticher gibt auch zu, daß noch zahllose Fragen, welche sich schon bei der Redaktion der Grundzüge ergeben haben, noch ungelöst sind. Wie man namentlich durch das ganze Reichsgebiet zerstreute, in einzelnen Ländern vielleicht nur in verschwindender Zahl vorhandenen Gewerbe zusammenfassen und in eine lebensfähige Organisation bringen will, ist mir rätselhaft. Geh. Oberregierungsrat Lohmann, der seinen eigenen vorjährigen Entwurf schon für undurchführbar hielt und zu der Überzeugung gekommen sein soll, daß nur örtliche Verbände zu organisieren seien, scheint dieser Ansicht zu sein.

Ich vermag mir auch die Vorliebe des Reichskanzlers für derartige Berufsgenossenschaften nur durch politische Motive eingegeben zu erklären. Dabei habe ich weniger den unitarischen Gedanken im Auge, welcher in einer solchen Organisation liegt, als die antiparlamentarische Tendenz, welche sie mir zu verfolgen scheint. Denn diese Berufsgenossenschaften, wenn sie je Lebensfähigkeit erhalten sollen, würden kaum ihre Tätigkeit auf ihren eigentlichen Wirkungskreis beschränken, sondern bald auch andere den einzelnen Gewerbszweig berührende Zwecke verfolgen. Sie könnten mit der Zeit zu politischen Körperschaften heranreifen, die dann dem Parlament auf manchem Gebiete Konkurrenz machen würden.

Daß aber der Gedanke der allgemeinen Volksvertretung eine Interessenvertretung entgegenzustellen, ein Lieblingsgedanke des Reichskanzlers ist, beweist abgesehen von manchen Äußerungen des Fürsten und abgesehen von dem für Deutschland gedachten, für Preußen gemachten Volkswirtschaftsrate ein neues Projekt, welches zur Zeit im Reichsamt des Innern erwogen wird.

Ich will nicht unterlassen, bei dieser Gelegenheit die Aufmerksamkeit Euer Exzellenz gleich auf dasselbe zu lenken, obwohl ich nur oberflächlich informiert bin.

Wie nämlich Herr von Boetticher dem königlichen Ministerialrat Herrmann gestern mitgeteilt hat, beabsichtigt man, eine Organisation von Handels-Gewerbekammern für das ganze Reich mit der Maßgabe zu schaffen, daß dieselben aus Vertretern der Landwirtschaft, der Gewerbe und Industrie und des Handels gebildet werden sollen. Das Projekt dürfte noch in der Kindheit sein, ich werde aber nicht unterlassen, tunlichst genaue Informationen einzuziehen.

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Um nun nochmals zur Unfallversicherung zurückzukehren, so habe ich dem bereits Gesagten hinzuzufügen, daß beabsichtigt wird, nach erteilter Entscheidung des Reichskanzlers über die Grundzüge, dieselben den Regierungen mitzuteilen. Auch soll der preußische Volkswirtschaftsrat darüber gehört werden. Da aber für letzteren gemäß Beschluß des preußischen Landtags Geldmittel nicht zur Verfügung stehen, so wird noch abzuwarten sein, ob die Mitglieder genügend vollzählig dem Appell an ihre Opferwilligkeit Folge leisten. Endlich will ich noch erwähnen, daß bei der seinerzeitigen Fertigstellung des künftigen Entwurfs zur Unfallversicherung und für dessen Vertretung Geh. Oberregierungsrat Lohmann, voraussichtlich mit gebundener Marschroute, wieder in Anspruch genommen werden wird. Der Gesundheitszustand des Reichskanzlers und das gegenwärtige Stadium der Vorarbeiten schließen aber jede Zeitbestimmung hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Angelegenheit aus.

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Crailsheim, Krafft Frhr. von (1841─1926) bayer. Außenminister
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Herrmann, Joseph (1836─1914) Ministerialrat im bayer. Innenministerium, stellvertretender Bundesratsbevollmächtigter
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843─1925) bayer. Gesandter in Berlin
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • Turban, Ludwig Friedrich (1821─1898) badischer Ministerpräsident und Innenminister
  • 1BayHStA MA 77380, n.fol. »
  • 2Vgl. zum Ausschluß Lohmanns von den weiteren Arbeiten am Unfallversicherungsgesetz den Bericht Adolf Hermann Marschall von Biebersteins an Ludwig Turban vom 8.11.1883, abgedruckt: Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871─ 1907, Bd. 2: 1879─1890, hg. v. Walter Peter Fuchs, Stuttgart 1975, S. 227 f. »
  • 3Vgl. Nr. 113 u. 114. »
  • 4Hier dürfte eine Verwechslung vorliegen: Als bloße Paraphrase ist am ehesten die Ausarbeitung Eduard Magdeburgs anzusehen! Als danach der Entwurf Bödikers abteilungsintern bevorzugt wurde, dürfte Magdeburg eher mit Bödiker als mit Gamp “gemeinschaftlich” gearbeitet haben. Mitte November wurde Magdeburg dann schwerpunktmäßig mit der Aktiengesetznovellierung beauftragt (vgl. Nr. 124 Anm. 4) und war wohl nicht mehr mit der Unfallversicherung befaßt, so daß nun Gamp an seine Stelle als Referent treten konnte und Bödiker an die Lohmanns als Korreferent bzw. Hauptreferent. »
  • 5Vgl. Nr. 125 [hier S. 433─437]; diese Ausarbeitung Robert Bosses umfaßte allerdings nur 16 Berufsgenossenschaften. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 123, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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