II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 118

1883 Oktober 27

Weser-Zeitung1

Teildruck

[Bericht über die Ansichten und Aktivitäten Theodor Lohmanns, die denen des Reichskanzlers entgegengesetzt sind, durch diese Meinungsverschiedenheiten zwischen dem “genialen” Kanzler und dem sachkundigen Referenten seien die sozialpolitischen Gesetzesvorlagen offensichtlich ins Stocken geraten]

In der “Köln. Ztg.”2 findet sich die Nachricht, daß sich zwischen dem Reichskanzler und seinem hervorragendsten Mitarbeiter an der sozialpolitischen Gesetzgebung, dem Geheimen Rat Lohmann, noch immer keine volle Verständigung über die demnächstigen gesetzgeberischen Schritte der Sozialreform wolle erzielen lassen. Damit ist öffentlich ein Thema berührt, welches in hiesigen sozialpolitischen Kreisen schon längere Zeit besprochen wurde, namentlich damals, als vor einigen Wochen die offiziöse Presse von “Friktionen” zu berichten wußte, denen Fürst Bismarck in Sachen der Sozialreform ausgesetzt gewesen sei. Herr Lohmann gilt mit Recht als ein konservativer und orthodoxer Mann; ein geborener Hannoveraner, ist er politisch und religiös sogar von jener besonders strengen Färbung, welche der konservativ-orthodoxen Richtung in dem ehemaligen Welfenreiche anhaftet; u. a. leitet er den Verein, welcher sich die Bekehrung der Juden zum Christentum als Ziel gesteckt hat.3 Wirtschaftlich aber stand von jeher Herr Lohmann auf freihändlerischem Standpunkte, was natürlich keinen inneren Widerspruch zu seinen sonstigen konservativen Überzeugungen bildete; die Zeiten sind ja nicht so sehr fern, als es kein “freihändlerischeres Blatt” in Deutschland gab, wie die “Kreuzz[ei]t[un]g”, und soweit die konservative Partei vorzugsweise die Landbevölkerung als solche ─ und nicht bloß gewisse, agrarische und industrielle Interessen des Großgrundbesitzes ─ vertreten will müßte sie logischerweise heute noch dem Frei-

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handel anhängen. Gemäß seinen freihändlerischen Ansichten dachte sich Herr Lohmann, welcher, wie jetzt im Reichsamt des Innern, so schon seit langen Jahren im preußischen Handelsministerium die weitaus bedeutendste sozialpolitische Kraft war, die Lösung der sozialreformatorischen Aufgaben der Gegenwart etwa so, wie sie in England erfolgt ist und in Deutschland eine lebhafte Unterstützung leider nur in den Reihen der liberalen Partei findet, einerseits also durch eine schrittweise erfolgende Fabrikgesetzgebung, andererseits durch die Selbsthilfe der Arbeitgeber und Arbeiter, welche der Staat wohl anzuregen und zu fördern, aber nicht auf Schritt und Tritt zu bevormunden und in allen Einzelarbeiten zu reglementieren habe. In erster Reihe ist Herrn Lohmann die gesunde und kräftige Entwicklung des Instituts der Fabrikinspektoren zu danken, während er in letzterer Hinsicht die Arbeiterversicherungsfrage dadurch in Fluß zu bringen hoffte, daß die Gesetzgebung Normativbestimmungen für Unfallversicherungsverbände erließ, die, gewerblich und örtlich gegliedert, von Arbeitgebern und Arbeitern gebildet und verwaltet, nach und nach alle die sozialen Aufgaben ergreifen sollten, welche die Trades-Unions mit im ganzen und großen so glücklichem Erfolge lösen. Diese Pläne gelangten nicht zur Reife, als Fürst Bismarck nach Erlaß des Sozialistengesetzes, welches übrigens die Bewunderung des Geheimen Rats Lohmann nur in sehr bescheidenem Maße erregen dürfte, auf seine Art die soziale Reform angriff.4 Daß beide Männer trotz ihrer mannigfach verschiedenen Ansichten in eine so enge Verbindung traten, erklärt sich wohl einerseits dadurch, daß der Staatssozialismus bei aller angeblichen oder wirklichen “Genialität” doch eines erheblichen Maßes von Sachkunde bedarf, wenn er seine Absichten gesetzgeberisch durchzusetzen versuchen will, und andererseits daraus, daß so besonnene, ruhige, niedersächsisch-zähe Charaktere wie Herr Lohmann, trotz der ungünstigsten Umstände nicht leicht die Hand von dem Pfluge lassen, den sie einmal ergriffen haben. Es läßt sich aber voraussehen, daß über kurz oder lang der Gegensatz zwischen den beiderseitigen Anschauungen sich scharf aneinander reiben würde, und es scheint, daß dieser Zeitpunkt nunmehr eingetreten ist, wofür nicht nur eine Reihe äußerer Anzeichen, sondern namentlich die auffällige und unbestrittene Tatsache spricht, daß die Vorbereitung der sozialpolitischen Gesetze völlig ins Stocken geraten ist.

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Registerinformationen

Personen

  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1Diese liberale Wochenzeitung erschien seit 1844 im Verlag Carl Schünemann in Bremen. »
  • 2Der hier angegebene Bezugsartikel konnte in der “Kölnischen Zeitung” (wie auch in der “Kölnischen Volkszeitung”) für den Zeitraum 27.9.─27.10.1884 nicht ermittelt werden. »
  • 3Lohmann war seit 1876 Präsident der “Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden”. »
  • 4Die “Kreuzzeitung” (Neue Preußische) kommentierte dazu am 30.10.1883: Liberale Blätter machen sich neuerdings viel zu schaffen mit einem Dissensus zwischen dem Fürsten v. Bismarck und dem Geh. Rat Lohmann in bezug auf die Behandlung der sozialen Frage. Der Artikel, welcher in dieser Beziehung durch die Zeitungen läuft, und zwar durch die größten Organe der liberalen Partei, ist offenbar von einem übel beratenen Freunde des Herrn Lohmann geschrieben und stellt dessen Tätigkeit von vornherein als von anderen Grundsätzen als denen des Reichskanzlers ausgehend dar. Offenbar als captatio für das große Publikum wird besonders hervorgehoben, daß der Dissens von der Zeit datiere, wo nach Erlaß des Sozialistengesetzes, “welches die Bewunderung des Geh. Rats Lohmann nur in sehr bescheidenem Maße erregen dürfte”, Fürst Bismarck auf seine Art die soziale Reform in die Hand nahm. Wir gestehen, daß wir durch diese Wendung einigermaßen überrascht sind, da von der Ausführung der leitenden Gedanken, nach welchen Fürst Bismarck die soziale Frage allerdings auf seine Art zu lösen gedachte und gedenkt, vorzugsweise durch die Mitarbeit des Herrn Lohmann überhaupt erst die Rede gewesen ist, nachdem infolge des Sozialistengesetzes die positiven Anforderungen in sozialer Beziehung an den Staat in den Vordergrund getreten sind. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 118, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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