II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 108

1883 September 24

Bericht1 des Legationssekretärs bei der bayerischen Gesandtschaft in Berlin Klemens Freiherr v. Podewils-Dürnitz2 an den Staatsrat Franz Ritter von Pfistermeister3

Ausfertigung

[Vertrauliche Mitteilungen Bödikers werden weitergegeben: Die in der zweiten Unfallversicherungsvorlage vorgesehene Organisationsstruktur zur Durchführung der Unfallversicherung soll abgeändert werden, auch Berufsgenossenschaften scheinen dazu nicht geeignet zu sein]

Wie ich unlängst gehört hatte, sollte der Reichskanzler den Vortragenden Rat im Reichsamte des Innern Bödiker seinem Kollegen Lohmann als Korreferenten bei

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der Ausarbeitung der neuen Vorlage, betreffend das Unfallversicherungsgesetz, beigegeben haben.

Ersterer hat mir dies, als ich ihn heute aufsuchte, um über den dermaligen Stand der betreffenden Arbeiten Näheres in Erfahrung zu bringen, bestätigt und mir zugleich vertraulich einige Mitteilungen gemacht, welche ich, wenn sie auch wenig belangreich sind, nicht verfehlen möchte, der Kenntnis Euer Hochwohlgeboren ganz gehorsamst zu unterbreiten.

Zur Fertigstellung eines förmlichen Entwurfes sind die genannten Herren bis jetzt noch nicht gelangt, sondern haben sich vorerst darauf beschränkt, das Resultat ihrer Tätigkeit in einem Memoria niederzulegen, welches dem Reichskanzler bei seiner demnächstigen Anwesenheit vorgelegt werden soll.4

Das Memoria hält an den Grundprinzipien fest, auf welchen die letzte Vorlage aufgebaut war. Die obligatorische Genossenschaft, die Einteilung der Betriebe nach Gefahrenklassen, sowie der Reichszuschuß sollen, letzterer wenn auch nur pro forma, beibehalten bleiben; auch an der Beschränkung der Versicherungspflicht auf die dort bezeichneten Klassen von Arbeitern unter Ausschluß der in der Land- und Forstwirtschaft Bediensteten, sowie an der 13wöchigen Karenzzeit mit subsidiärer Unterstützung aufgrund der Krankenversicherung soll nichts geändert werden.

Dagegen gelangt das Memoria zu dem Schlusse, daß der Verwaltungsapparat, wie ihn der letzte Entwurf organisiert hat, ein viel zu komplizierter ist, und daß man mit demselben, wenn sich nicht ergiebige Vereinfachungen ermöglichen lassen, in der Praxis nur negative Erfolge erzielen könne.

Eine eingehende Betrachtung und Benutzung des durch die Berufsstatistik gewonnenen Materials habe ergeben, daß die Bildung von Genossenschaften aufgrund der Gleichartigkeit des Betriebes und Industriezweiges mit wesentlichen Schwierigkeiten verbunden und in vielen Teilen Deutschlands, so namentlich in Preußen und Bayern geradezu unmöglich sein würde. Deutschland besitze nicht wie England große Fabrikplätze, an denen sich die einzelnen Betriebsarten beinahe exklusiv konzentrieren, nach dem Durchschnittsmaßstab von 6000 M pro Kopf sicherzustellen. Hingegen erklären die von verschiedenen Handels- und Gewerbekammern einverlangten Gutachten5, daß es untunlich sei, dem industriellen Verkehre so große Summen zu entziehen und sie zu dem besagten Zwecke festzulegen.

Ich habe aus den empfangenen Mitteilungen den Eindruck gewonnen, den mir übrigens mein Gewährsmann auch selbst bestätigte, daß man in den Detailfragen immerhin greifbare Resultate gewonnen hat und sich über deren praktische Regelung im klaren befindet; daß dagegen gerade das Hauptproblem ─ die Frage der Organisation der Genossenschaften und ihres Wirkens ─ wie dieses bisher nur auf dem Papiere gelöst war, so auch jetzt noch einer den Erfolg garantierenden Lösung nicht um vieles näher gekommen ist.

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Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1BayHStA MA 77380, n.fol. »
  • 2Klemens Frhr. von Podewils-Dürnitz (1850─1922), seit 1881 Legationssekretär. »
  • 3Franz Seraph Ritter von Pfistermeister (1820─1912), seit 1864 Staatsrat im ordentlichen Dienst. »
  • 4Wohl Nr. 107. »
  • 5Sammlung der Gutachten: BArchP 15.01 Nr. 396, fol. 50─187. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 108, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0108

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